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Kirche in WDR 5 | 23.03.2017 | 06:55 Uhr
Jemandem Schwester und Bruder sein
Guten Morgen,
Jeden Tag blicke ich auf ein Bild auf meinem Schreibtisch. Es erinnert mich an meinen Besuch der syrischen Grenzstadt Kobane, nahe Aleppo. Ein Hilfstransport hatte mich im Januar 2015 an den Rand der Stadt geführt, die zu dieser Zeit noch zu einem Drittel vom sogenannten Islamischen Staat besetzt war.
Auf dem Bild stehe ich – mitten in einer Reihe unbewaffneter Männer. Sie hatten sich an der Grenze aufgestellt, um zu verhindern, dass von dort Waffen zu den Terroristen gelangen.
Ein Junge, der neben den anderen Erwachsenen steht, hat die Hand zum Victory Zeichen erhoben. Aber sein Gesichtsausdruck spricht nicht vom Sieg. Vielmehr ist in ihm etwas von dem abzulesen, was dieses Kind zuvor erlebt hat. Ich spüre auch jetzt, 2 Jahre später, seinen Schmerz und seine Trauer darüber, dass die Gewalt der Fanatiker sein altes Leben zu Staub zerfallen ließ.
Ich weiß noch genau, was mich damals in diesem Moment bewegte. Es war zum einen Angst, wie ich sie selten zuvor gespürt habe. Nur wenige Stunden vorher war die Stelle, an der wir standen, noch beschossen worden. Wir standen zudem mit dem Rücken zum Kampfgebiet und ich werde dieses Gefühl der Unsicherheit nicht vergessen. Aber etwas Anderes hat mich noch viel stärker bewegt. In dem Moment, in dem ich mit diesen Menschen eine Reihe bildete, habe ich tiefer als je zuvor in meinem Leben gespürt, dass ich dort mit meinen Schwestern oder Brüdern stehe.
Alle Unterschiede – die Religion, die Sprache, die Kultur – konnten uns nicht trennen. Was uns verband, war die tiefe Sehnsucht, dass der Schrecken des Krieges für die Menschen in der Stadt hinter uns endlich ein Ende hat.
In der Kirche nennen wir uns Schwestern und Brüder, aber wissen doch oft voneinander nichts. Wir reden von der großen Menschheitsfamilie und doch werden die Stimmen derer immer lauter, die von der Errichtung neuer Grenzen und Zäune reden. In diesem Moment aber, mitten im Krisengebiet, waren diese Worte, die viel zu oft leere Worthülsen sind, wahr. Hier waren wir „Schwestern und Brüder“.
Dieses Erlebnis, das ich in meinem Herzen trage, und das, was ich von Jesus in der Bibel lese, weist in die gleiche Richtung. Jesus hat nicht nur - vielleicht nicht einmal zuerst - durch seine Worte verkündigt, sondern indem er den Menschen nahegekommen ist. In den vielen Begegnungen, die das Evangelium schildert, ist das spürbar.
Wenn er Kranke heilt wie den blinden Bettler Bartimäus, dann legt er nicht einfach schnell die Hand auf, er wendet sich ihnen wirklich zu. Wenn er die Sünder zur Umkehr bewegt, wie den Zöllner und Ausbeuter Zachäus, dann geschieht dies nicht, indem er ihnen eine Strafpredigt hält, sondern in dem er bei ihnen zu Gast ist und sie trotz ihrer Schuld annimmt.
Ich bin dankbar, an so vielen Stellen in unserer Gesellschaft Menschen zu begegnen, die Jesus verstanden haben und ihm ganz praktisch nachfolgen. Frauen und Männer machen sich auf, um Sterbenden zu begegnen, wenn sie in den Hospizgruppen Dienst tun. Menschen machen sich auf zu denen, die am Rand leben, wenn sie jede Woche Dienst tun in der Suppenküche, der Tafel oder den Kleiderstuben. Menschen machen sich auf zu denen, die ihre Heimat verloren haben, wenn sie die Geflüchteten auf das Ausländeramt oder zum Arzt begleiten, weil sie wissen, dass es nicht reicht, eine Kerze anzuzünden oder einen Facebookpost zu erstellen gegen die Ausbrüche von Hass und Gewalt. Sie sind selber ein Licht, das sie zu den Menschen tragen.
Aus Münster grüßt Sie Domvikar Jochen Reidegeld