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Das Geistliche Wort | 07.05.2017 | 08:35 Uhr

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Thomas und ich

Autor: „Hast du schon gehört? Der Schmitz, du weißt schon, der Hubert, der soll seine Frau verlassen haben.“ „Wirklich? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Beim Grillfest hat man gar nichts gemerkt. Die waren wie immer.“ „Doch, wenn ich’s dir doch sage! Der hat die Koffer gepackt und die Haustür zugeknallt.“ „Glaub ich nicht. Das will ich lieber von ihm selber hören.“ – Gerüchte. Eine Nachbarschaft, in der man sich im Blick hat. Vielleicht manchmal zu sehr. Hubert Schmitz jedenfalls kam nach fünf Tagen von seiner Weiterbildung zurück. Es soll eine richtig gute Tagung gewesen sein. Den Nachbarn waren die Gerüchte dann ziemlich peinlich. Wohl dem, der von Anfang an Zweifel hatte. „Hast du schon gehört? Barack Obama kommt zum Kirchentag nach Berlin! Hab ich im Internet gelesen“, so meine Nachbarin ganz aufgeregt, als ich neulich nach Haus kam. Ich war skeptisch, aber auch neugierig. Klar, der Evangelische Kirchentag zieht immer auch Prominente an aus Politik, Kultur und Gesellschaft. Aber Barack Obama, bis vor kurzem noch Präsident der Vereinigten Staaten? Ich recherchiere das. Und tatsächlich, die großen Zeitungen melden es alle und auf den Internetseiten des Kirchentages steht es auch ganz oben.

Guten Morgen! Zweifel sind manchmal angebracht. Zumal in diesen Zeiten, wo Fake-News, also gezielte Falschmeldungen im Internet schnell die Runde machen und von seriösen Nachrichten manchmal nur schwer zu unterscheiden sind. In der Bibel gibt es eine Figur, die wie keine zweite mit dem Zweifel verbunden ist. Es geht um einen der Jünger von Jesus: Thomas – auch bekannt als der Zweifler oder der Ungläubige. Kaum ein Jünger hat seinen Ruf so weg wie er. Es geht um die Ereignisse am Ostermorgen. Dass Jesus auferstanden sei, begann sich herumzusprechen. Maria Magdalena begegnet ihm am Grab und soll es den anderen weitersagen. Am Abend erscheint er den Jüngern. Nur Thomas ist nicht dabei. Er kann es nicht glauben. So erzählt es das Johannesevangelium. Und berichtet dann, wie sich bei Thomas etwas verändert. Aus einem Ungläubigen wird ein Gläubiger. Und zwar in dem Augenblick, wo Thomas selbst dem auferstandenen Jesus begegnet. In der alten Lutherbibel entsteht jetzt das folgende Bild: Jesus stellt fest, dass Thomas, der vorher nicht geglaubt hat, jetzt aufgrund dessen glaubt, dass er ihn gesehen hat. Dem stellt Jesus die Seligpreisung derjenigen frontal gegenüber, die nicht sehen und doch glauben. Und als Fazit kommt ein Thomas heraus, der entweder gar nicht oder aus falschen Gründen glaubt. Auf jeden Fall steht er blamiert da. Thomas – eine spirituelle Flasche, ein Buhmann des Glaubens.

In der neuen Lutherbibel – überarbeitet und neu herausgegeben zum Reformationsjubiläum – sind alle Texte noch einmal genau angesehen worden. In die Geschichte von Thomas kommt plötzlich ein neuer Ton.

Sprecher: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du?

Autor: Indem aus dem Urteil eine offene Frage wird, ändert sich alles. Jetzt kann die Geschichte für mich wieder das werden, was sie ursprünglich sein wollte: eine persönliche Einladung, selber zu glauben, selber – wie Thomas - zu Jesus zu sagen: „Mein Herr und mein Gott.“

Musik 1: Judy Bailey, Jesus in my house

Autor: Unsere Geschichte beginnt ganz unten. Thomas gehörte zum harten Kern einer Gruppe, die von einem Wanderprediger, einem Wasser-in-Wein-Verwandler und Heiler so fasziniert waren, dass sie ihr altes Leben mehr oder weniger komplett hinter sich ließen, um ein neues Leben an der Seite dieses Jesus zu wagen. Immerhin drei Jahre lang.

Dann aber kam der Freitag, den man Karfreitag nennt. Der Hoffnungsträger stirbt entblößt und qualvoll vor den Augen der Menschen an einem Holzkreuz. Es ist die mors turpissima. Der Schmähtod der Antike. Thomas steht vor der Insolvenz seines Glaubens. Er hat viel investiert, sehr viel, vielleicht sogar alles, war er hatte, aber offenbar in ein heillos gescheitertes Projekt. Thomas ist pleite. Er versinkt in einem Abgrund aus Angst und Resignation.

Ein paar Tage später treten seine Weggefährten auf den Plan. Und sagen zu ihm: „Hey, Thomas, Jesus lebt. Er ist auferstanden von den Toten. Wir haben ihn gesehen. Mit unseren eigenen Augen. Hab keine Angst. Die Sache Jesu ist nicht zu Ende. Im Gegenteil: Sie fängt jetzt erst richtig an.“ So oder so ähnlich sagt ihm das Petrus. Und Jakobus. Und Johannes. Und mindestens eine Frau ist auch dabei. Maria von Magdala. Aber Thomas, der glaubt das nicht. Der hält das für ein Märchen. Er sagt klipp und klar: ich glaube das erst, wenn ich mich davon wirklich überzeugen kann. Und so formuliert er sein berühmtes Ultimatum:

Sprecher: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich es nicht glauben.

Autor: Hier begegnet uns Thomas in der Tat als ein Zweifler. Hier steht er für die Haltung eines Menschen, der nichts einfach so nimmt, wie es daherkommt, wie es im Internet steht oder erzählt wird. Er klopft eine Nachricht sorgfältig auf ihren Wahrheitsgehalt ab, bevor er zu irgendetwas Ja sagt. In ihm meldet sich geradezu ein Prototyp des 21. Jahrhunderts zu Wort: modern, aufgeklärt, rational, mit schlimmen Erfahrungen im Hintergrund, aber auch mit einer spirituellen Sehnsucht.

Thomas zweifelt, aber er zweifelt im Rahmen einer Suchbewegung. Thomas will es wirklich wissen.

Musik 2: Joane Osborne: What if God was one of uns

Autor: Das Johannesevangelium berichtet im 20. Kapitel von der Begegnung zwischen Thomas und Jesus. Wir erfahren, dass sich Thomas gemeinsam mit den anderen Jüngern hinter einer Tür aufhält, die verschlossen ist. Im Griechischen steht da ein Perfekt. Damit wird die verschlossene Tür zu einem Bild für eine Situation, die derjenige, der sie durchmacht, als ausweglos empfindet. Vielleicht kommt damit eine Angst zum Ausdruck. Angst vor dem, was da an Gewalt und Unheil in der Luft liegt – draußen, jenseits der vier Wände. Es würde mich nicht wundern, wenn ein Christ aus dem Iran dieses Bild auf Anhieb versteht. Vielleicht ist die verschlossene Tür ein Bild dafür, dass die Situation tatsächlich massiv gegen Gott spricht. Dieser Gott soll die Liebe sein, soll für das Leben einstehen? Schwer zu glauben. Vielleicht ist die verschlossene Tür auch ein Ausdruck dafür, dass Thomas an einem Punkt angekommen ist, wo er irgendwie dicht gemacht hat.

Ich vermute, was eine verschlossene Tür ist, das weiß jeder und jede von uns. Missverständnisse, die uns den Weg versperren. Vorurteile, die eine Begegnung unmöglich machen. Manche haben Sorgen, weil ihnen die Arbeit über den Kopf wächst. oder wir im Gegenteil keine Arbeit haben. Trauer, Schuld, Wut, Einsamkeit, Angst, Enttäuschung. Wir könnten die Liste leicht fortsetzen. Angesichts dieser Lage erzählt der Evangelist Johannes etwas, das für mich zum vielleicht Berührendsten in der ganzen Bibel gehört. Da steht:

Sprecher: Jesus trat mitten unter sie.

Autor: Die Tür, die von innen nicht mehr zu öffnen war, sie öffnet sich jetzt von außen, indem Jesus durch die verschlossene Tür mitten hindurch geht. Jesus lässt sich durch nichts und niemanden davon abhalten, zu Thomas durchzudringen. Aber was passiert jetzt? Jetzt, wo Jesus tatsächlich vor ihm steht? Vor ihm, der so gezweifelt hat? Was wird Jesus sagen? Zu dem Thomas, der ja nicht nur einen plastischen Beweis für seinen Glauben fordert, sondern ihn, Jesus, vor der Kreuzigung im Stich gelassen hat, der das Weite gesucht und die Treue gebrochen hat genauso wie alle anderen Jünger auch? Das alles steht doch jetzt im Raum.

Es fällt kein Wort des Tadels. Kein Wort der Drohung! Kein Wort des Zorns. Es wird kein Vorwurf erhoben. Es gibt keine Standpauke. Kein: Wie konntest du nur? Noch nicht einmal ein „Ich gebe dir jetzt nochmal eine Chance“. Nichts von alledem. Stattdessen fällt nur ein einziger Satz: Friede sei mit dir.“ Was auch immer Jesus sagt, er sagt auf alle Fälle: „Ich bin da. Ich stehe an deiner Seite. Ich habe dich lieb. Und alles wird gut.“

„Friede sei mit dir“. Mit diesen Worten löst sich etwas. Eine Mauer bekommt Risse. Licht bricht durch. Und gegenüber dem, was war, wird ein neues Blatt aufgeschlagen.

Die Friedenszusage ist der Boden, von dem aus Jesus sich dann dem Ultimatum des Thomas stellt. Jesus nimmt ihn ernst in seinen Fragen. Er spricht ihn genau auf den Punkt an, wo er seine Zweifel hatte, zeigt ihm seine Wundmale und seine Seite. Thomas reagiert auf das, was von Jesus ausgeht, mit einem einzigen Satz und nur mit diesem Satz:

Sprecher: Mein Herr und mein Gott

Autor: Die Antwort, die Thomas gibt, ist persönlich. Es geht um seine Beziehung zu Jesus. Er sagt: Du bist mein Herr, der mir das Leben gibt. Mein Gott, der meine Schuld vergibt. Der mir Perspektiven aufschließt, wo alles verschlossen wirkt. Du bist der, bei dem ich ein Zuhause habe jenseits meiner Fragen und Zweifel. Deshalb vertraue ich mich dir an. Deshalb glaube ich an dich. Und wenn Jesus dann direkt im Anschluss an das Bekenntnis des Thomas diese Frage stellt:

Sprecher: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du?

Autor: Wenn Jesus also diese Frage stellt, ist klar: Nein, der Glaube des Thomas beruht nicht auf dem Sehen, so wenig, wie mein Glaube auf dem Sehen beruht. Er beruht auf etwas anderem. Es ist unverfügbar und geheimnisvoll – und doch real und lebensverändernd. Die Frage, die Jesus stellt, eröffnet Thomas und allen Nachgeborenen mit ihm das Vertrauen im Nichtsehen, das Vertrauen an den menschgewordenen Gott, den ich zwar nicht sehen, an den ich aber doch glauben darf, weil er mir das eröffnet, was Sören Kierkegaard den „Sprung des Glaubens“ genannt hat.

Musik 3: Mavis Staples: Have a little faith

Autor: Auch ich will ein Thomaschrist sein. Wenn ich persönlich spirituell auf der Suche bin, kann ich eine ganze Menge von ihm lernen: Dass Gott auch da zuständig ist und auf den Plan tritt, wo die Situation gegen ihn spricht. Gegen alles, was er doch eigentlich mit mir vor hat. Jedenfalls nach dem, was ich glaube. Dass Fragen und Zweifel nicht im Widerspruch zum Glauben stehen, sondern umgekehrt ein Leben lang in das Gespräch mit Gott gehören.

Und dass Gott mir gerade in meinen Zweifeln als der begegnet, der mir hilft, trotzdem zu glauben, trotzdem zu hoffen, trotzdem zu lieben.

Der Jünger Thomas ist ein Zweifler. Aber er ist noch weit mehr als das. Er zeigt mir: Was wirklich zählt, sind nicht meine offenen Fragen und Zweifel. Das ist Jesus, mein Herr und mein Gott, der durch verschlossene Türen mitten hindurchgeht und mich einlädt, den Sprung des Glauben zu wagen. Immer wieder.

Es verabschiedet sich von Ihnen mit den besten Wünschen für diesen Sonntag und die vor uns liegende Woche Roland Hossselmann, Pfarrer in und aus Lippstadt.

Musik 4: Mavis Staples: In Christ there is no east or west

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