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Fronleichnam

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evangelisch

Das Geistliche Wort | 15.06.2017 | 08:35 Uhr

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Fronleichnam

Autorin:

Auf dem Gelände stehen zwei große Holzkreuze. Hier versammeln sich jeden Sonntag Männer und Frauen, um zu beten, zu hören, zu singen und zu schweigen. Sie halten inne. Sie zeigen, dass sie da sind. Sie stärken sich. Jemand liest ein Gedicht, eine greift zur Gitarre und stimmt ein Lied an, ein anderer berichtet aus dem Planungsverfahren.

Seit 1989 gibt es das „ Gorlebener Gebet“. Sonntag für Sonntag wird es von Gruppen und Einzelnen ganz unterschiedlich gestaltet. Mitten im Wald, in Sichtweite der möglichen Endlagerstätte für Atommüll - am sogenannten Kreuzweg für die Schöpfung. Da, wo die zwei Holzkreuze den Versammlungsplatz markieren- eines davon aus dem Atomkraftwerk Krümmel.

Das Gorlebener Gebet gehört zum Widerstand gegen die Atomkraftanlagen im Wendland. Eine feste Liturgie gibt es nicht. Mir imponiert die stille Durchhaltekraft dieser Bewegung. Engagierte aus unterschiedlichen Kirchengemeinden und Konfessionen kommen hier zusammen- von überall her. Menschen, die diesen Platz als Gottes Schöpfung wahrnehmen. Die Licht durchfluteten Baumkronen jetzt im Juni, die weißen Blüten des Waldmeisters. Schönheit pur. Es ist ein heiliger Ort, an dem diese Gemeinde sich sammelt, um miteinander zu beten und zu singen. Aber es ist auch ein bedrohter Ort. Seit dem GAU von Tschnernobyl ist jedem bewusst, wie unvorstellbar und unwiderruflich die Zerstörung durch Atomkraft sein kann.

Der Theologe Klaus Müller hat die Angst davor ganz unmittelbar erlebt. Während der Kubakrise – auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen Chruschtschow und Kennedy. Am entscheidenden Abend saß er mit einem Freund zusammen. Er schreibt:

Sprecher:

„Ich war erfüllt von einer merkwürdigen Abschiedsstimmung, so als ginge an diesem Abend die uns vertraute, uns bergende Natur zu Ende, als sei ein unwiderrufliches Datum der Schöpfung erreicht, das für den Menschen und seine Naturgefährten, die Pflanzen und die Tiere den Tod bedeuten konnte… Ich erinnere mich, wie wir fast wehmütig einige Gräser am Straßenrand und einen Baum auf dem Platz vor dem Lokal betrachteten – in der völligen Verunsicherung, ob das nicht der letzte Abend sei, an dem zwischen Mensch und Natur dieses großartige vorgestiftete, im Kern noch intakte Verhältnis eines geschöpflichen Miteinanders bestehen würde… Jede erhebende Gotteserfahrung war uns entrückt, das Kreuz für die ganze belebte Schöpfung war in Reichweite.“

Autorin:

„Die ganze Schöpfung seufzt“ und wartet auf ihre Erlösung, schreibt schon der Apostel Paulus. Und davon erzählen auch die beiden Kreuze in Gorleben, die dort seit 28 Jahren stehen - als wäre der Platz im Wald eine Kapelle.

Heute, an Fronleichnam, tragen katholische Gemeinden wieder das Allerheiligste, die geweihte Hostie, in einem Festzug durch die Straßen und über die Felder. Manchmal werden noch Außenaltäre aufgestellt, an denen jeweils ein Abschnitt aus dem Evangelium vorgetragen wird, es werden Fürbitten gesprochen und der Segen wird in alle Himmelsrichtungen erteilt. Ich habe lange im Rheinland gelebt und kann mich gut erinnern an die schön geschmückte Monstranz mit dem Allerheiligsten, den Stoffhimmel darüber, die Priester und Messdiener und das Weihwasser, das mit Schwung über die Felder verteilt wurde. Ein Segen für die ganze Schöpfung – die Heiligsprechung allen Lebens. Auch und gerade des bedrohten und vielfach schon zerstörten Lebens. Dass im Allerheiligsten der gebrochene Leib Christi aus der Kirche heraus getragen wird – in die bedrohte Natur, das empfinde ich als starkes Zeichen.

Mitgefeiert habe ich aber nie – als ich noch im Rheinland lebte, beäugten sich Protestanten und Katholiken allenfalls von Ferne. Und auf dem Land konnte es noch passieren, dass evangelische Bauern an Fronleichnam die Gülle ausbrachten- so wie ihre katholischen Nachbarn am Karfreitag. Das gehört wohl zu den Flurschäden der Reformation: Weil sich das Fronleichnamsfest, das erst im hohen Mittelalter entstand, aus der Bibel nicht begründen lässt, hatte Luther geschrieben: „Ich bin keinem Fest mehr feind … als diesem. Denn da tut man alle Schmach dem heiligen Sakrament, dass man’s nur zum Schauspiel herumträgt“. Ja, ein Schauspiel ist es, eine große Inszenierung, die nur ein Zentrum hat: Das Allerheiligste soll in die Welt hinaus- auf die Straßen, auf die Felder. Weihwasser oder Gülle? Dieser Streit zwischen Christen hat sich Gott sei Dank erledigt: Mir jedenfalls geht es heute vielmehr darum, der Zerstörung unsers Planeten, der Anbetung falscher Götter etwas entgegen zu setzen.

Musik: Nils Landgren, Imagine

Sprecher:

Vielleicht kennen Sie die Geschichte von dem Indianerhäuptling, der mit Freunden durch eine Großstadt geht und seine Begleiter auf eine seltene Vogelstimme aufmerksam macht. Die anderen hatten nichts gehört. Als allerdings der Häuptling ein Cent-Stück fallen ließ, da waren ihre Ohren fein genug.

Autorin:

Geld können wir hören, darauf sind wir trainiert. Die Stimme der Natur aber bleibt uns verschlossen. Worauf sind unsere Sinne ausgerichtet? Was riechen, sehen oder hören wir, wenn wir unterwegs sind durch unsere Städte?

Sprecher:

„Kleine Leute in der großen Stadt“, heißt ein wunderbarer Bildband mit den Miniatur-Skulpturen von Slimkachu. Das Miniaturvölkchen, das er in den englischen Großstädten zum Leben erweckt, hat die Größe von Eisenbahnfiguren. Da sieht man ein Rettungsboot in einer Pfütze. Einen Winzling, der am Straßenrand versucht, ein Auto herbei zu winken. Kleine Leute, die Erdnussflips abtransportieren wie die Ameisen. Einen Mann, der mit einer Sicherheitsnadel ermordet wird. Man sieht – nein, nur, wer sehen kann, sieht. Die meisten werden die Dramen, die da gezeigt werden, übersehen.

Autorin:

Was dem einen eine Pfütze, ist dem anderen der Ozean. In unserer Gesellschaft werden die Unterschiede größer, sie wird bunter, aber sie spaltet sich auch – ökonomisch, sozial und kulturell. Die Bedeutung von Erwerbsarbeit steigt, aber immer mehr können von ihrer Hände Arbeit nicht mehr leben. Viele müssen am Ende mit geringen Renten auskommen: Eltern kleiner Kinder, Frauen und Männer, die Angehörige pflegen, chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung. Vor 40 Jahren hat der Berliner Theologe Ernst Lange vom Ensemble der Opfer gesprochen- von den Kindern, den Alten und den Migranten etwa, die durch die Risse unserer Gesellschaft fallen.

Ernst Lange hat seine Ladenkirche dagegen gesetzt – einen Treffpunkt in Berlin-Spandau. Niedrigschwellig, offen für jeden. Ein ehemaliger Laden zwischen Kaufhäusern und Kneipen wurde zur Herberge in den Wüsten der Stadt. Ein Platz, wo jeder willkommen war und zur Ruhe finden konnte, wo es diakonische Hilfen gab, wo aber auch Gottesdienste gefeiert wurden. Ein kleiner Leuchtpunkt mit besonderer Anziehungskraft. Neulich musste ich nochmal daran denken. Mitten in der Ladenstraße einer großen Uniklinik sah ich eine beleuchtete Kapelle mit einem Seelsorgeangebot. Wer wollte, konnte einfach hereinkommen. Für sich bleiben oder reden.

Sprecher:

Es ginge darum, Gott einen Ort zu sichern, hat die katholische Sozialarbeiterin und Mystikerin Madeleine Delbrel gesagt – einen Ort in den Fabriken und vergessenen Nachbarschaften, an den Orten des Leidens, auch jenseits traditioneller Konzepte. Und sie tat das mit ihrer Kommunität in den Banlieus von Paris. „Die ganze Kirchengeschichte hindurch gibt es so etwas wie „Landstreicher“, schreibt Debrel, „ Landstreicher, die immer unterwegs sind auf den Straßen, die den Weg Christi eingeschlagen haben, nicht um etwas bestimmtes zu tun oder etwas von A bis Z zu erledigen, sondern um den ganzen Weg entlang die Gebärden Christi zu vollziehen… Gebärden von Menschen, die sich ihre Begegnungen nicht aussuchen, die nicht selbst wählen, wohin sie gehen sollen, die annehmen, was Gott ihnen schickt: was und wen. Menschen, die versuchen, unaufhörlich versuchen, für jeden und jede das zu sein, was Christus gewesen ist.“

Autorin:

Genau das versuchen die vielen Ehrenamtlichen an den Tafeln und in den Vesperkirchen, im Krankenhaus und bei der Hausaufgabenbetreuung. Sie arbeiten daran, dass die Kirche zum tragfähigen Netzwerk wird- für alle, die sonst übersehen werden. Dann kann gelingen, was eine afrikanische Weisheit sagt: „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, können das Angesicht der Erde verändern“.

Musik: Nils Landgren, Imagine

Autorin:

Das Angesicht der Erde verändern. Darum geht es auch an Fronleichnam. Als Kind der 50er Jahre habe ich erlebt, wie sich an Fronleichnam die Stadt ändert. In Neviges, einem alten Wallfahrtsort, knieten die Menschen noch auf dem Bürgersteig, wenn die Prozession vorbei kam. Als sei die Straße zur Kirche geworden. Seitdem hat mich diese Frage beschäftigt: wie es wohl auf der Straße aussehen müsste, wenn unser Alltag zum Gottesraum würde. Wenn wir ihn sichtbar, hörbar und fühlbar bei uns tragen würden. Wenn ein „Friede sei mit dir“ unser Miteinander bestimmte. Wenn die Würde des Lebens heilig gehalten würde. Kurz: wenn dieser Augenblick eben mehr wäre als ein kurzes Zeichen. Eine erinnerungsträchtige Inszenierung.

Vor Jahren habe ich in den Straßen von Jerusalem etwas Ähnliches erlebt. Am Holocaust-Gedenktag steht dort das Leben für zwei Minuten still. Autos und Fußgänger verharren wie von einer unsichtbaren Hand gestoppt. Der Alltag friert ein – als Zeichen für die grausame Vernichtung, die sechs Millionen Juden in ganz Europa das Leben gekostet hat. Wer diesen Schmerz vergisst, weiß den wunderbaren Neuanfang nicht zu schätzen. Ist es nicht ähnlich mit der Monstranz, die heute durch die Straßen getragen wird? Der blutende Leib Christi, an den die Oblate leibhaftig erinnert, zeigt ja, wie Gott selbst leidet an seiner Schöpfung, an der der zerrissenen Welt. Dass er sich mitten hinein begeben hat in unser Leben – gefoltert unter Pilatus, geschändet am Kreuz, auferstanden als unsere Hoffnung. Diese Solidarität mit den Leidenden und diese Hoffnung auf Leben sollen wir weiter geben, wir sollen sie sichtbar machen mitten im Alltag.

Das geschieht heute an Fronleichnam und es geschieht Sonntag für Sonntag im Gorlebener Gebet. Es geschieht in den Vesperkirchen und bei den Mittagstafeln. Und vielleicht auch übermorgen wieder, am 17. Juni, wenn Menschen Tische und Stühle auf die Straße setzen und andere einladen. Zum Tag der Offenen Gesellschaft. An einem Tisch wollen sie mit anderen ins Gespräch kommen, einander sehen und wahrnehmen, miteinander essen und trinken und feiern. Viele Kirchengemeinden sind auch dabei. Damit Gott einen Ort hat mitten im Leben. Vielleicht machen Sie ja mit?

Mit dieser Idee grüßt Sie Pastorin Cornelia Coenen-Marx aus Hannover.

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