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Das Geistliche Wort | 23.02.2014 | 08:40 Uhr
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Machet die Tore weit
Musik 1: Track 7 Sonia´s Nightmare (4:04) von CD Mare nostrum, Interpreten: Jan Lundgren (piano), Paolo Fresu (trumpet, fluegelhorn), Richard Galliano (accordion, bandoneon), Komponist: Paolo Fresu; Verlag/Vertrieb: The Act Company; LC-Nr. 07644; Label: ACT Music.
Autorin: In einem Stacheldraht leuchtet vor tiefschwarzem, nächtlichem Hintergrund ein schneeweißes Kinderkleid. Es hat sich dort in den Metallspitzen verfangen und weht stumm im Wind. Hinter dem Stacheldraht Dunkelheit, Niemandsland - oder gelobtes Land? Ein Grenzstreifen irgendwo auf der Welt.
Musik 2= Musik 1
Autorin: Marokko. Tor zu Europa für zehntausende Männer, Frauen und Kinder auf der Flucht aus der Subsahara-Afrikas oder Asien. Über sechs Meter hohe Stacheldrahtzäune versuchen sie dort zum Beispiel die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu erreichen und damit europäischen Boden erzählt Hans-Joachim Schwabe aus dem evangelischen Kirchenkreis Jülich.
O-Ton Hans-Joachim Schwabe: Die spanischen Behörden haben jetzt diese Zäune mit Stacheldraht versehen, der messerscharf ist, und dieser wird nun noch befestigt mit dünnen Perlonschnüren, mit dem Ziel, dass wenn jetzt Flüchtlinge versuchen dort hochzusteigen, dass die reißen…
Autorin: und sie dann in den Stacheldraht hineinfallen. Hans-Joachim Schwabe, vor seinem Ruhestand Banker, engagiert sich seit Jahrzehnten für Asylsuchende und Flüchtlinge. Heute besonders in Marokko – in Zusammenarbeit mit der dortigen Evangelischen Partnerkirche. Die meisten Flüchtlinge, die in Marokko stranden, sind jung und wollen über das Meer nach Europa. Doch die Grenzen an der Festung Europa sind dicht. Dazu Kirchenrat Rafael Nikodemus, in der rheinischen Kirche zuständig für Asyl- und Flüchtlingsfragen:
O-Ton Rafael Nikodemus: Als die Grenzen zwischen Ost und West fielen, da hätte ich mir nie träumen lassen, dass an unseren Grenzen nach wie vor so viele Menschen sterben würden. Und das ist glaube ich etwas, was man sich klar machen muss, (…) die EU-Außengrenzen, das sind unsere Grenzen. Wir haben nicht mehr die Grenze nach Holland oder Belgien. Die eigentliche Grenze, an der wir auch mitbestimmen was passiert, das sind die EU-Außengrenzen. Und da gibt es nach wie vor eben die vielen Toten.
Autorin: Liebe Hörerin, lieber Hörer, das ist die bittere Realität. Europa ein Bollwerk, eine Festung. Mein Name ist Petra Schulze, ich bin Rundfunkpfarrerin in Düsseldorf. Das Schicksal derer, die ihre Heimat verlassen müssen, das Schicksal so genannten Illegalen oder Papierlosen - unter ihnen auch viele Kinder und Jugendliche ohne Begleitung - bewegt mich und viele andere in den Evangelischen Kirchen. Wie gehen wir mit Menschen um, die auf der Flucht sind. Wovor fliehen sie und was können wir tun, um die Ursachen der Flucht zu bekämpfen? Wie nehmen wir die Männer, Frauen und Kinder auf, die in unsere Städte und Gemeinden kommen. Dazu habe ich mit engagierten Christinnen und Christen gesprochen.
Musik 3 = Musik 1
Sprecher: Und siehe, da erhob sich ein gewaltiger Sturm auf dem See, sodass auch das Boot von Wellen zugedeckt wurde. Er aber schlief. Und sie traten zu ihm, weckten ihn auf und sprachen: Herr, hilf, wir kommen um! (Matthäus 8,24f)
Autorin: Wer hört sie - die Gebete der Verzweifelten auf den altersschwachen Kähnen, die orientierungslos über das Meer treiben, die Hoffnung Europa vor Augen. Fischer, die zu Hilfe eilen, können für die Rettung der Flüchtlinge wegen „Fluchthilfe“ belangt werden. Das Mittelmeer – ein Massengrab. Im vergangenen Oktober rüttelte ein Schiffsunglück vor Lampedusa mit mehr als 350 Toten für eine kurze Zeit die Öffentlichkeit auf. Und dann:
O-Ton Rafael Nikodemus: …wurde den Toten von der italienischen Regierung posthum die italienische Staatsangehörigkeit verliehen, während die, die überlebt haben angeklagt werden wegen illegaler Zuwanderung und ich glaube 5000 Euro (…) zahlen müssen und außerdem abgeschoben werden und eigentlich wie das letzte Vieh behandelt werden. Und solche Zynismen sind unerträglich und skandalös und sowas das darf eigentlich hier nicht sein.
Autorin: In Marokko campieren Flüchtlinge in den Wäldern um Oujda nahe der algerischen Grenze in selbst gebauten Zelten unter Decken und Plastikplanen. Bis die Polizei kommt und sie abholt, um sie im Grenzgebiet zu Algerien auszusetzen. Auch Frauen mit ihren Neugeborenen, wie Hans-Joachim Schwabe zu berichten weiß:
O-Ton Hans-Joachim Schwabe: Die Frauen, die morgens ein Kind geboren haben, werden dann festgenommen und werden alle einzeln nachts ausgesetzt, man nimmt ihnen immer weg die Schuhe, man nimmt ihnen weg Essbares, Trinkbares, Geld, Handys und Papiere, sofern welche vorhanden sind. Manchmal werden sie völlig nackt in der Wüste ausgesetzt. Man muss sich das vorstellen, jetzt in dieser Zeit kann es in Oujda durchaus nachts auch null Grad sein. Eine Mutter mit einem Säugling, der also grade geboren ist, in der Wüste auszusetzen, ist ein Skandal. Die Schuhe werden ihnen immer deshalb weggenommen, weil man hofft, dass in dieser steinigen Wüste sich die Füße so verletzen, dass sie nicht weiterlaufen können und dann bedeutet das den sicheren Tod.
Autorin: Menschenwürde hat keine Grenzen und Flucht ist ein Menschenrecht. Deshalb hat die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland im Januar entschieden protestiert gegen eine europäische Flüchtlingspolitik, die das fortdauernde Massensterben an den EU-Außengrenzen zulässt und gesagt: „Das Sterben an unseren Grenzen darf um Gottes Willen nicht sein!“ (1) Die Evangelischen Kirchen engagieren sich vielfältig für Flüchtlinge und Asylsuchende – politisch, diakonisch, finanziell. Und sie fragen danach: Warum nehmen Menschen diese gefährlichen Wege auf sich?
O-Ton Rafael Nikodemus: Menschen fliehen natürlich aus unterschiedlichsten Gründen. Als Theologe habe ich es ja viel mit der Bibel zu tun und die Bibel ist eigentlich ein Buch der Migration. Und all die Formen von Flucht und Wanderung, die wir heute kennen, gibt’s dort auch: Klimakatastrophe, Hunger, Unterdrückung.
Autorin: Krieg oder Bürgerkrieg, Verfolgung, Hunger, Klimakatastrophen. Die Gründe, warum Menschen sich auf die lange Reise machen sind vielfältig und wiegen gleich schwer, meint Kirchenrat Rafael Nikodemus:
O-Ton Rafael Nikodemus: Was für uns ganz schwierig ist, ist die Unterscheidung zwischen so genannten guten und schlechten Flüchtlingen. Politisch Verfolgte, also die um ihr Leben fürchten, das andere sind nur Wirtschaftsflüchtlinge. Also, wenn ich nichts zu essen habe und nicht weiß wie ich meine Familie ernähren soll, ist das mir eigentlich zu verharmlosend, da nur von Wirtschaftsflüchtlingen zu reden. Es geht in allen Fällen darum, dass Menschen ihre Existenz in ihrem Land nicht mehr sichern können. Das sind ja teilweise strapaziöse Wege über mehrere Jahre, verbunden (mit) bei Frauen manchmal mit Vergewaltigungserfahrungen, mit verschiedenen anderen schrecklichen Vorfällen. (…) Das ist wirklich ein letzter Ausweg, um einer noch schlimmeren Situation zu entrinnen.
O-Ton Johann Weusmann: Dass wir nicht Menschen unterscheiden nach ihrer Herkunft, sondern dass wir in jedem Menschen ein Geschöpf Gottes sehen. Und deshalb treten wir dafür ein, dass jedem Menschen auch eine gerechte Behandlung widerfährt und (…) die Menschen, die besonderen Schutz bedürfen- und das sind die Flüchtlinge -, die kommen mit nichts in der Hand, die haben alles verloren, die sind sehr ängstlich und sie brauchen also besonderen Schutz. Das ist ein Grund, warum wir uns dafür einsetzen. Es ist ein Ausdruck praktischer Nächstenliebe und Christlichkeit. Sie entspricht unserem christlichen Menschenbild und wir werden auch nicht nachlassen, uns dafür einzusetzen. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat jetzt auf ihrer Synode noch mal auch dafür geworben, dass wir mehr Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland lassen.
Autorin: sagt der Vizepräsident der Evangelischen Kirche im Rheinland, Dr. Johann Weusmann. Im Hinblick auf die dramatische Lage in Syrien forderte die rheinische Landessynode im Januar eine Aufnahme von 100.000 Flüchtlingen aus humanitären Gründen. Diese Zahl sei der politischen Verantwortung und der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik angemessen. (1) Ähnlich äußerte sich in einem Offenen Brief im Sommer vergangenen Jahres Präses Annette Kurschus von der Evangelischen Kirche von Westfalen: „Ich bin überzeugt: Deutschland verkraftet auch noch weiter steigende Zugänge.“ (2), sagte sie im Blick auf die Asylgesetzgebung.
500.000 Euro stellte die rheinische Landessynode für die Flüchtlingsarbeit zur Verfügung: zur Hälfte für Flüchtlingsarbeit im Bereich der rheinischen Kirche und zur anderen Hälfte für Hilfsprojekte mit ökumenischen Partnern in den Krisenregionen am Rande der Europäischen Union.
Musik 4 Track 10 Antakya (Concert Version) recorded at catholic Kilisesi Church in Antakya, Turkey, March 2007, Komponisten: Mulo Francel und Andreas Hinterseher, Interpreten: Quadro Nuevo, CD Grand Voyage – Lieder einer großen Reise, GLM Music, 2010 Fine Music, LC 11188.
Sprecher: Und als wir gerettet waren, erfuhren wir, dass die Insel Malta hieß. Die Leute aber erwiesen uns nicht geringe Freundlichkeit, zündeten ein Feuer an und nahmen uns alle auf wegen des Regens, der über uns gekommen war, und wegen der Kälte. In dieser Gegend hatte der angesehenste Mann der Insel, mit Namen Publius, Landgüter; der nahm uns auf und beherbergte uns drei Tage lang freundlich. (Apostelgeschichte 28,1.2.7)
Autorin: Es ist der Apostel Paulus der dies erlebt haben soll. Von den Römern gefangengenommen und nach Rom verschleppt, erleidet er Schiffbruch, landet auf Malta und wird dort freundlich aufgenommen. Dr. Johann Weusmann hat in seiner Heimatgemeinde erlebt, wie es aussehen kann, wenn ein Gemeinwesen Flüchtlinge willkommen heißt. Er war zehn Jahre alt, als in den siebziger Jahren Waisenkinder - die so genannten Boatpeople aus Vietnam -, in einem Jugendfreizeitheim seiner Heimatkirchengemeinde untergebracht wurden.
O-Ton Johann Weusmann: Und hab dann erlebt wie diese jungen Menschen, die nichts mehr hatten, hier ein neues Zuhause finden konnten, unverschuldet in eine Situation geraten sind, aus der es kein anderes Entkommen gab. Und ich habe dadurch eben auch kennen gelernt, in welche Notlagen Menschen geraten können. Und dass wir in einer Situation, in der wir mit Sicherheit und Reichtum gesegnet sind, auch die Möglichkeit geben müssen, diesen Menschen dann eine Perspektive zu bieten.
Autorin: Johann Weusmanns Vater nahm einen Bolivianischen Flüchtling auf, der mit auf dem Bauernhof der Familie lebte und arbeitete. Diese Zeit und auch seine Zeit in Südafrika nach dem Studium haben den juristischen Vizepräsidenten geprägt. Dort erlebte er wie das Regime die Regimegegner verfolgte:
O-Ton Johann Weusmann: Ich habe erlebt, dass Menschen deportiert wurden und andere eben das Land verlassen haben, weil sie verfolgt wurden. Oder sie wurden ausgewiesen in die Homelands, also eigentlich zu Fremden in ihrem eigenen Land erklärt. Das waren auch noch mal sehr prägende Ereignisse.
Autorin: Christinnen und Christen machen sich immer wieder bewusst, dass ihre eigenen religiösen Wurzeln unmittelbar mit Fluchterfahrungen zu tun haben.
O-Ton Rafael Nikodemus: Erstmal ist ja interessant, dass die Fragen nach Flucht und Wanderung mitten ins Zentrum eigentlich der christlichen Identität reichen. Und das hat glaub ich wirklich etwas damit zu tun, dass Fluchterfahrungen zu den ursprünglichen Erfahrungen des Gottesvolkes gehören. Mose, der sein Volk aus der Knechtschaft in Ägypten führt und so weiter. Das ist ja so eine ursprüngliche Befreiungserfahrung des Gottesvolkes. Es wird im Grunde gesagt: Ihr wisst, wovon ihr redet, wenn ihr Flüchtlingen begegnet. Denn ihr seid selber Flüchtlinge gewesen. Und ich habe auch in Gemeinden die Erfahrung gemacht: Das kennen viele, ja? Und wenn man sagt: Mensch, ihr wisst doch wie es denen geht, die sich auf so einen Weg machen, das wirkt anders, als wenn man sagt: Mensch, wir müssen aber jetzt Flüchtlinge aufnehmen. Also, ich glaube, es gibt wirklich Anknüpfungspunkte bei den Menschen und für uns ist eben wichtig, es gibt diese Anknüpfungspunkte in der biblischen Überlieferung.
Autorin: Dort heißt es auch: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ (3. Mose 19,33f.) Das ist der Grund, warum sich Christinnen und Christen mit ihren Kirchen und Hilfswerken engagieren: im politischen Bereich, mit Rechtsberatung für Migrantinnen und Migranten, Seelsorge- und Traumatherapie, Entwicklungshilfe, in Partnerschaften zu Kirchen in fernen Ländern. Sie helfen dort die Fluchtursachen zu bekämpfen und Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Sie bieten Sprachunterricht im Gemeindehaus an und besuchen die Flüchtlinge und Asylsuchende in den Unterkünften oder nehmen sie bei sich auf. Unzählige Geschichten gibt es zu erzählen von Freundschaften, die auf diese Weise entstanden sind – bei uns und in vielen Ländern der Erde. Das sind Hoffnungsgeschichten. Davon ein andermal, liebe Hörerin, lieber Hörer. Denn:
Musik 5 = Musik 4
O-Ton Hans-Joachim Schwabe: Das Wichtigste ist, dass das ein Ende findet. Und wir aufhören unseren Wohlstand durch die Abschottung einfach retten zu wollen. Und die Mauern können noch so hoch sein und die Zäune noch so gefährlich, es wir nicht enden. Und wir alle laden damit uns eine Schuld auf, mit der wir eigentlich nicht leben können.
Autorin: Mit diesem eindringlichen Appell verabschiedet sich, Pfarrerin Petra Schulze von der evangelischen Kirche.
Musik 6 = Musik 4
(1)Synode der EKiR 2014:
http://www.ekir.de/www/ueber-uns/landessynode-17393.php
http://www.ekir.de/www/service/synode-beendet-17491.php
http://www.ekir.de/www/downloads/EKIR_Vierter_Bericht_Fluechtlingsproblematik_an_den_EU_Aussengrenzen.pdf
(2)http://www.evangelisch-in-westfalen.de/fileadmin/ekvw/dokumente/nachrichten/13_08_23_Offener_Praesesbrief_an_Gemeinden.pdf
Weitere Links:
Engagement des Evangelischen Kirchenkreises Jülich in Marokko:
http://www.kkrjuelich.de/pdf/Marokko-Flyer-RZ.pdf
Fluchtrouten:
http://www.dw.de/migrationsrouten-in-die-eu/a-17152215