Beiträge auf: wdr5
Das Geistliche Wort | 05.11.2017 | 08:35 Uhr
DIESER BEITRAG ENTHÄLT MUSIK, DAHER FINDEN SIE HIER AUS RECHTLICHEN GRÜNDEN KEIN AUDIO.
Betuchte Christinnen und Christen
Musik 1:Maximilian Hornung, Jump!, Sony Music, LC 06868, Nr 4. Claude Debussy, Nocturne und Scherzo
Autorin: „Rotzige Kinder sind schön“, pflegte meine Oma Irmi zu sagen, wenn ich als junges Mädchen die Nase hoch zog. Augenzwinkernd reichte sie mir dann ein frisch gestärktes mit Spitze umhäkeltes Stofftaschentuch. Ordentlich gefaltet und wohl riechend kam es direkt aus der Tasche ihrer Hausweste. Ich hatte Hemmungen hinein zu schnäuzen. Denn schließlich war es ihr eigenes Tuch und es schien mir auch viel zu schön für meinen Schnodder. Da ging es mir wie Palmström aus dem Gedicht von Christian Morgenstern:
Sprecher:
„Palmström steht an einem Teiche
und entfaltet groß ein rotes Taschentuch:
Auf dem Tuch ist eine Eiche
dargestellt sowie ein Mensch mit einem Buch.
Palmström wagt nicht, sich hineinzuschnäuzen,-
er gehört zu jenen Käuzen,
die oft unvermittelt – nackt
Ehrfurcht vor dem Schönen packt.
Zärtlich faltet er zusammen,
was er eben erst entbreitet.
Und kein Fühlender wird ihn verdammen
weil er ungeschneuzt entschreitet.“(1)
Musik 2:Maximilian Hornung, Jump!, Sony Music, LC 06868, Nr 4. Claude Debussy, Nocturne und Scherzo
Autorin: Wie halten Sie es mit dem Taschentuch? Benutzen Sie eines aus Stoff. Haben sie vielleicht noch einige hübsch drapiert in der Schublade? Oder sind Sie eher praktisch mit den hygienischen Einmaltaschentüchern unterwegs? Welchem Sie auch den Vorzug geben, es gibt vieles, was man mit dem Taschentuch machen kann. Man kann winken oder weinen, oder beides zugleich. Man kann es sich bei Hitze über dem Kopf zusammenbinden oder in brenzligen Situationen die weiße Flagge hissen. Und der Knoten in Demselben verhindert das Vergessen.
Guten Morgen an diesem Sonntag. Taschentücher sind vielfältig verwendbar. Im Laufe unseres Lebens sind sie oft Hüter intensiver Gefühle. Begleiten uns in Zeiten der Freude und des Leids. Die faszinierende Geschichte des Taschentuchs vom Luxussymbol zum Einmaltaschentuch ist verbunden mit den großen Themen menschlichen Lebens.
Musik 3:Maximilian Hornung, Jump!, Sony Music, LC 06868, Nr 8. Gustav Mahler, Ging heut Morgen übers Feld
Autorin: Viele Jahrhunderte schnäuzte sich die Menschheit ohne jegliches Hilfsmittel. Niemand fand etwas daran, dass der Schleim direkt aus der Nase auf der Kleidung landete. Der Humanist und Theologe Erasmus von Rotterdam besaß, dem Inventar nach, bereits 39 Taschentücher, was für seine Zeit selten war. Entsprechend formuliert er 1529 in seinem Benimmbuch De civilitate erste deutliche Worte gegen das öffentliche Rotzen:
Sprecher: „Die Nase darf nicht triefen, denn das zeugt für ein schmuddeliges Wesen. Diesen Fehler hat man dem Sokrates nachgesagt. Sich mit der Mütze oder mit dem Rock zu schnäuzen, ist Bauernart, und mit dem Arm oder dem Ellenbogen machen es die Fischhändler. Mit der Hand ist es kaum vornehmer, wenn man sie hinterher am Rock abwischt. Es ist auch lächerlich, nach Elefantenart durch die Nase zu trompeten, und nur Spötter und Hanswurste kräuseln die Nase…“ (2)
Autorin: Die ersten Tücher waren gar nicht zum Nase putzen gedacht. Zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert etablierten sich Zier- und Toilettentücher. Sie waren aufwendig bestickt, oft reich mit Goldfäden oder mit Diamanten versehen. Den Adeligen waren sie vorbehalten. Meist wurden sie offen in der Hand getragen. So entstand mit ihnen schnell eine Art Taschentuchsprache, ein Geheimcode der Liebenden. Ließ im 17. Jh. eine Dame ihr Taschentuch fallen, gab sie dem Herren die Gelegenheit, sich ihr mit gutem Grund zu nähern. Das Taschentuch einer Frau aufzuheben, kam damals fast einem Treueschwur gleich. Die höfliche Geste wurde zur Liebeserklärung.
Das Berühren des Stückes Stoff versprach eine Verbindlichkeit zwischen zwei Menschen. Stoffwechsel ereignete sich und brachte die beiden in engen Kontakt, in eine Lebensverbindung. So symbolisierte das Taschentuch Leben in seiner schönsten Form, der Liebe.
Musik 4:Maximilian Hornung, Jump!, Sony Music, LC 06868, Nr 6. Franz Schubert, Moment Musicaux
Autorin: Auch die Bibel kennt Stoffe, die Liebe symbolisieren. Stoffe, die verbinden. Stoffe, die Leben fördern und hervorlocken. Die Heilung der blutflüssigen Frau durch Jesus erzählt davon.
Sprecher: „Und siehe, eine Frau, die seit zwölf Jahren den Blutfluss hatte, trat von hinten an ihn heran und berührte den Saum seines Gewandes. Denn sie sprach bei sich selbst: Wenn ich nur sein Gewand berühre, so werde ich gesund. Da wandte sich Jesus um und sah sie und sprach: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und die Frau wurde gesund zu derselben Stunde.“ (Mt 9, 20-26)
Autorin: Eine Frau geht auf besondere Tuchfühlung mit Jesus. Wie so oft, wenn es um Frauen in der Bibel geht, kennen wir weder ihren Namen, noch ihre Geschichte. Warum sie so bluten musste, wird nicht erzählt. Sicher ist, dass sie verwundet ist an Leib und Seele. Ihr ganzes Leben ist beeinträchtigt. Denn sie gilt als unrein, ist ein wandelndes Tabu und muss meiden, wen sie lieben will. Wahrscheinlich hatte sie von Jesus gehört: das von ihm eine heilende Kraft ausgeht. Doch wie das gehen kann, das weiß sie nicht. Ihre Sehnsucht treibt sie in Jesu Nähe. Die Sehnsucht danach angenommen zu sein, von einem Gott, der sich nicht ekelt. Die Sehnsucht danach, geliebt zu werden, wieder dazuzugehören.
Die Frau wird geheilt. Sie wird ein anderer Mensch, weil der Stoff des Gewandes Jesu mit Gottes Liebe verwoben ist. Durch Jesu Nähe darf sie diejenige werden, die sie sein soll: eine freie Frau, ein wiedergeborenes Kind Gottes. Der Stoff überträgt Jesu Trost. „Sei getrost, meine Tochter“ sagt Jesus. In diesen Trost sind auch wir Christinnen und Christen eingehüllt. Gesehen als die Menschen, die wir sein sollen. Freie Kinder Gottes. Ja, wir sind betucht, reich an seiner Liebe.
Musik 5:Maximilian Hornung, Jump!, Sony Music, LC 06868, Nr 6. Franz Schubert, Moment Musicaux
Autorin: Die Erfindung des mechanisierten Webstuhls im 18. Jahrhundert revolutionierte die Herstellung von Stoff. Er wurde billiger und mit der Exklusivität des Schnupftuchs war es vorbei. Als Gebrauchsgegenstand wanderte es vom Äußeren der Kleidung ins Innere.
Durch Monogramme behielten die industriell gefertigten Tücher eine individuelle Note. Initialen des Namens kennzeichneten den Stoff als eigen. Stets war klar, wem welches gehört. Das Tuch verwob sich mit der Person und ihrer Lebensgeschichte. Und so verwundert es nicht, dass Taschentücher gerade im Christentum mit den großen Stationen des Lebens verbunden wurden: Paten verschenkten sie mit Namenszug zur Taufe, Konfirmandinnen erhielten gewebte Bibelverse, den Toten legte man welche bei und die Männer, die den Sarg zum Grab trugen, hatten immer weiße Taschentücher parat.
Musik 6: Maximilian Hornung, Jump! Sony Music LC 06868, Nr. 9, Gustav Mahler, Ich hab´ein glühend Messer
Auch auf Jesu Lebensweg spielen Tücher eine Rolle. Maria gebiert ihr Kind, wickelt ihn in Windeln und legt ihn in die Krippe. Schlicht, hölzern, geerdet kommt der Sohn Gottes auf die Welt, gewärmt von Stoff und Liebe. Und nach seinem Martyrium am Kreuz wird Jesu Leichnam in Tüchern ins Grab gelegt. Umwickelt von den Lebensstoffen der Menschen, bleibt er nicht im Tod. Der Evangelist Johannes erzählt davon, wie Maria das offene Grab entdeckt, Petrus und einen anderen Jünger ruft. Sie machen sich auf den Weg:
Sprecher: „Da kam Simon Petrus ihm nach und ging hinein in das Grab und sieht die Leinentücher liegen, und das Schweißtuch, das auf Jesu Haupt gelegen hatte, nicht bei den Leinentüchern, sondern daneben, zusammengewickelt an einem besonderen Ort.“ (Joh 20, 6+7)
Autorin: Die Tücher, in die der Tote eingewickelt war, liegen am besonderen Ort. Eigens wird das erwähnt. Als hätte jemand den Schlafplatz ordentlich hinterlassen wollen, ehe er sich aufmachte. (5) Als sei die Auferstehung ohne Hast oder Unterstützung in aller Ruhe vor sich gegangen. Petrus findet den Verstorbenen nicht. Christus wird vermisst. Die zusammengewickelten Stoffe werden zum Trost für die Hinterbliebenen. Sie sind Zeichen dafür, dass vermisst sein auch eine Art ist dazusein. (6) Die liegen gebliebenen Tücher werden zum Symbol für neues Leben.
Musik 7:Maximilian Hornung, Jump!, Sony Music, LC 06868, Nr 11, Ernest Bloch, Prayer
Autorin: Durch die Erfindung des Tempotuchs 1929 veränderte sich die Benutzung des Taschentuchs kolossal. Medizinische Erkenntnisse über Ansteckung führten dazu, dass das Tuch zum Wegwerfprodukt wurde. Natürlich ging der individuelle Charakter des Tuches verloren. Heute soll er wohl in bunten Sondereditionen wieder eingeholt werden. Doch obwohl der persönliche Bezug flüchtiger scheint, als bei dem Tuch aus Stoff, hat das Papiertempo einen Vorteil. Wir können es teilen. Besonders jetzt in der Schnupfenzeit, jetzt in den nass grauen Novembertagen, wenn viele an die Verstorbenen denken.
Wenn Tränen fließen, weil wir uns erinnern, weil ein Mensch fehlt, wir die Person vermissen. Manchmal weinen wir, weil wir erleichtert sind, dass das Leiden vorbei ist oder weil wir entsetzt sind, was wir versäumt haben. Die Tränen fließen. Der Tod mit seinen vielen Gesichtern tut weh.
Trost kommt uns von Gott. Johannes der Seher spricht in der Offenbarung davon:
Sprecher: „ Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offenbarung 21, 1-4)
Autorin: Was für eine Vision. Das Alte ist vergangen. Alles ist neu. Doch, geweint wird immer noch. Auch im neuen Himmel fließen Tränen. Und das ist gut so. Damit der Schmerz sich nicht verfestigt, damit die Trauer nicht erstarrt. Die Tränen fließen und Gott ist da. Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Ob mit einem Tuch oder mit der Hand, die Bewegung ist zärtlich. Wir erfahren: wir sind nicht allein mit unseren Tränen.
Musik 8:Maximilian Hornung, Jump!, Sony Music, LC 06868, Nr 9
Autorin: Das Taschentuch – ob nun rot wie das von Palmström, mit Monogram oder aus dem Plastikpäckchen, es kann uns erinnern: wir sind von Gott gesehen und von Gott kommt Trost. Ein Trost, wie wir ihn uns selbst nicht geben können. Ich bin Susanne Wolf, Pfarrerin aus Villigst. Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag und schließe mit dem Rat von Eugen Roth zum Taschentuch:
Sprecher: „Kurzum, es hat im Menschenleben vielfältigern und höhern Nutzen als den nur, sich die Nas zu putzen. Mein Rat, zum Schluß, nicht überrasche: Habt stets ein saubres in der Tasche!“ (7)
Musik 9:Maximilian Hornung, Jump!, Sony Music, LC 06868, Nr 6, Musik
Quellenangaben: (1) Christian Morgenstern, Palmström, zitiert nach: http://www.textlog.de/17434.html
(2) Josef Lehmkuhl, Erasmus – Machiavelli. Zweieinig gegen die Dummheit, Würzburg 2008, 114.
(3) vgl. Artikel „Taschentuch“ wikipedia.
(4) vgl. Eugen Roth, Das kleine Buch vom Taschentuch“, zitiert nach https://pottbluemchen.wordpress.com/2012/10/30/das-taschentuch/.
(5) Nico ter Linden, Es wird erzählt… Das Leben Jesu nach Lukas und Johannes, die Geschichte der Apostel und die Offenbarung, Bd. 6, Gütersloh 2004, 225.
(6) vgl. Dorothee Sölle, Lasst uns von der Auferstehung reden, in: Dies. (Hg.), Erinnert euch an den Regenbogen. Texte, die den Himmel auf Erden suchen, Freiburg im Breisgau 1999, 74.
(7) vgl. (4).