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Kirche in WDR 5 | 22.11.2017 | 06:55 Uhr
Schlimmen Schaden heilen
Guten Morgen, fällt es Ihnen schwer, sich zu entschuldigen? Entschuldige bitte, vor diesen beiden Worten liegt oft anstrengende innere Arbeit. Allerdings, heilsame Arbeit.
Das Bilderbuch „Schreimutter“ von Jutta Bauer erzählt davon. Warmes Sonnengelb strahlt vom Titelbild, eine Pinguinmutter führt ihr Junges an der Hand. Sie geht geradeaus. Ihr Kind wendet den Kopf nach hinten, guckt zurück auf die eigenen Schatten. So geht das, wenn Erwachsene Kinder mitnehmen zum Einkaufen, zur Ärztin, in den Kindergarten. Sie haben einen Zeitplan, was alles noch erledigt werden muss. Das Kind aber lebt im Moment, geht mit, guckt hier, guckt da und eben auch zurück, möchte stehenbleiben. Und schon ist der Stress da, der Erwachsene zieht, das Kind fällt zurück, leistet Widerstand, bis der Erwachsene die Geduld verliert und das Kind anschreit.
Von oben brüllt die Pinguinmutter ihr Kind an. Aus dem weit geöffneten Schnabel schnellt die rote Zunge wie ein Schwert heraus. Es feuert gelbe Wolken mit roten Blitzen gegen das Kind. Das flattert mit den Flügeln, kann sich nicht mehr auf seinen Füßen halten und fällt nach hinten auf den Rücken. „Heute morgen hat meine Mutter so geschrien, dass ich auseinander geflogen bin“, lautet der erste Satz. Der Kopf mit den suchenden Augen, der gelbe Schnabel, die schwarzen Flügel, der weiße eiförmige Bauch, der kleine schwarze Po, die beiden gelben staksigen Füße – wie bei einer Rakete, die gleichzeitig nach oben gedrückt und nach unten, nach rechts und nach links gezogen wird, fallen die Körperteile auseinander und fliegen in alle Himmelsrichtungen.
Die Pinguinmutter sieht, was passiert. Sie hat den Schnabel wieder geschlossen, ihre Augen sind starr auf das Kind gerichtet.
Wenn Eltern ihre Kinder niederbrüllen, wenn Vorgesetzte Angestellte abkanzeln und Lehrer Schüler nicht ausreden lassen, kann das passieren. Die Angebrüllten lösen sich auf, verschwinden, weil sie das, was da passiert, nicht aushalten. Voraus geht meist ein Streit, beide ärgern sich, der eine vielleicht zu Recht mehr als die andere – aber Niederbrüllen geht nicht. Niederbrüllen zerstört. Wer niedergeschrien wird, geht als Person verloren.
In die ganze Welt sind die Körperteile des kleinen Pinguins zerstreut: Die kopflosen Füße wissen nicht weiter –bis sich ein großer Schatten über sie legt. Die Flügel der Mutter. Durch die ganze Welt ist sie gezogen und hat die Einzelteile ihres Kindes zusammengesucht. Anstrengend war die Reise durch Selbstvorwürfe, Rechtfertigungen, Trotz und Stolz hindurch, aber: Sie liebt ihr Kind. Wie schrecklich, dass es so¬ auseinandergeflogen ist. Wie weh muss ihm das tun, fühlt die Mutter nach und wird sich ihrer Schuld bewusst. Als Mutter darf sie ihre Übermacht nicht ausnutzen. Sie hat eine Grenze übertreten. Sie sehnt sich nach ihrem Kind und sucht seinen Kopf, seinen Körper, Flügel, Po und Schnabel. Naht um Naht näht sie ihr Junges wieder zusammen. Für die Füße muss sie bis in die Wüste laufen. Dort näht sie die letzten Stiche und sagt: Entschuldigung.
Die Mutter legt den rechten Flügel um die Schultern ihres Kindes. Sie blicken von der Reling eines großen Schiffes aus zurück an Land. Wieder zusammen reisen sie weiter. Das Kind behält Narben zurück. Sie erinnern an den Schmerz und daran, dass die Mutter sich entschuldigt hat.
Eine Erfahrung, die weiterträgt, findet Kathrin Koppe-Bäumer aus Meschede
Literatur: Schreimutter von Jutta Bauer, 4. Auflage: Oktober 2017, ISBN 978-3407761187