Beiträge auf: wdr5
Kirche in WDR 5 | 29.11.2017 | 06:55 Uhr
Zaubertrank
Und dann treffe ich nach bald zwanzig Jahren einen alten Freund. Und nach den ersten Sätzen, die ich mit jedem anderen hätte wechseln können, stellt er eine Frage, die mich trifft: „Hast du eigentlich immer noch jeden Tag einen Gedichtvers im Sinn?“
Anscheinend bin ich mal so eine gewesen. Das ist schon eine Weile her. Und ist sofort wieder wach, als ich daran erinnert werde.
Ja, ich bin mal die Gedichtefrau gewesen, die immer mit einem Band Lyrik unterwegs war oder zumindest mit einem Büchlein, in das sie Gedichte abgeschrieben hat. Ohne einen oder ein paar Verse im Kopf war ich nie unterwegs.
Und mit diesem Freund, den ich neulich wiedergesehen habe, hat es mal eine Zeit im Studium (einen Advent vielleicht) gegeben, in der wir einander täglich abwechselnd einen Zettel mit einem Gedicht zugesteckt haben. Und auch wenn das schon lange her ist und ich nicht mehr daran gedacht hatte, habe ich nur zwei Handgriffe gebraucht, diese Texte in einem meiner Büchlein mit abgeschriebenen Gedichten hinten im Schrank wiederzufinden.
Und wenn ich etwas in meinem Kopf krame, finde ich auch dort den ein und anderen Vers wieder. Es scheint so: Die Zeit, die ich als junge Frau mit dem Lesen und Abschreiben von Gedichten verbracht habe, war nicht vergebens. Wie die Sache von Obelix mit dem Zaubertrank. Dass der einmal in den Kessel gefallen ist, hat ihn fürs Leben stark gemacht – das geht nicht mehr weg. Klingt vielleicht seltsam, aber: Lyrik ist mein Zaubertrank. Ist wie eine Grundmelodie für mein Leben. Manche Verse verlerne ich so wenig wie Radfahren. Zum Glück.
Hier sind vier davon, von Giuseppe Ungaretti, ins Deutsche übertragen von Hilde Domin:
Wir durchqueren die Wüste, den Schimmer
eines alten Bilds auf der Netzhaut.
Mehr weiß keiner Lebender
von dem Verheißenen Land.
Kommen Sie gut durch den Tag, ob Sie gerade Wüsten durchqueren oder verheißene Länder sehen! Ihre Susanne Moll aus Aachen.
?