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Das Geistliche Wort | 25.12.2017 | 08:35 Uhr

„Gott ist weltlich“

„Gott ist weltlich“

Krieg in Syrien, Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. Terrorismus und Abschottung der Nationalisten. Donald Trump und die Politik mit dem Ellenbogen. Die Amerikanische Botschaft in Jerusalem, neue Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern. Nordkorea, Kim Jong Un, der mit Atombomben spielt und sein Volk gefangen hält. Der Dieselskandal, die Macht der Industrie und der Sinn für Wahrhaftigkeit. Bundestagswahl, Sondierungen, Koalitionsverhandlungen. Glyphosat, Lehrermangel, Wohnungsnot. Und: Weihnachten.

Liebe Hörerinnen und Hörer,

vielleicht denken Sie jetzt: „Der kann uns ja ganz schön die Stimmung verderben. Unsere schöne weihnachtliche Stimmung! Erzählt uns was von Politik. Und von den ganzen Weltproblemen. Die wollen wir an Weihnachten doch nun wirklich nicht hören. Geht das denn nicht auch anders? Der soll doch was vom Christkind erzählen, von der Krippe, von Ochs und Esel. So irgendwas Frommes, etwas mit Romantik und Stimmung. Der soll was vom lieben Gott erzählen. Und jetzt erzählt er uns was – von der Welt!“

Denken Sie so? Das wäre gar nicht schlimm. Ich könnte es verstehen. Aber an Weihnachten geht es um was ganz Anderes als allein um fromme Stimmung. Es geht um unsere Welt, um diese ganz konkrete weltliche Welt.

Gottes Sohn ist Mensch geworden: Jesus Christus. Gott liebt die Welt. Er liebt seine Welt so sehr wie seinen eigenen Sohn. Und da sollten Christen sich nicht für die Welt interessieren? Nein, das geht nicht. Keiner darf sich da heraushalten. Keinem kann egal sein, was in der Welt geschieht.

Gott und Welt – das gehört spätestens seit der Nacht von Bethlehem ein für alle Mal zusammen. Denn seit Weihnachten weiß ich, was ich Gott wert bin: seinen einzigen Sohn, seine ganze Liebe – von der Krippe bis zum Kreuz, von Weihnachten bis Karfreitag, von der Menschwerdung Jesu bis zum ewigen Leben.

Für mich ist durch Weihnachten klargeworden: Die Welt ist Gottes einzige Sorge, sein einziges Thema. Und deshalb ist sie auch mein Thema. Gottes Sohn ist Mensch geworden: So weltlich ist Gott. Keine Welt ohne Gott, kein Glaube an Gott ohne Welt. Und deshalb gibt es kein Christentum, das nicht auch politisch wäre. Ich denke: Genauso, wie Gott Jesus in die Welt gesandt hat, so schickt er heute – Sie und mich.

Manche denken: Gott und Welt, Politik und Glaube – das sind doch zwei Paar Schuhe. Falsch gedacht: Glaube darf zwar nicht parteipolitisch sein, aber weil Gott parteiisch ist, muss Glauben politisch sein. Das ist keine Politisierung des Glaubens. Vielmehr nimmt es ernst, dass Gottes Sohn wirklich Mensch geworden ist. Dann gehören Gott und Mensch zusammen, Mystik und Politik, Spiritualität und Solidarität. Wenn Gott sich nicht heraushält, darf ich das auch nicht. Wenn Christus sich einmischt, müssen Christen mitmischen.

Musik I: Börner, „O Heiland, reiß die Himmel auf“ (6)

Christus mischt sich ein diese Welt. Ganz weltlich. Ich hoffe deshalb, dass wir nicht bloß Weihnachtsromantik feiern. Na klar, „Süßer die Glocken nie klingen“, das weiß ich auch. Aber wir dürfen Gottes Interesse an der Welt nicht in den Tränen der Rührung ersäufen. Man kann doch nicht den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, und sich dann um seine Welt nicht scheren.

Fromme Gefühle sind noch kein Christentum. Weihnachten als emotionaler Ausgleich, als gefühlvolle Seelenmassage, dafür habe ich Verständnis, das muss wohl so sein. Aber letzten Endes ist es Selbstbetrug. Kirche als Wellness-Club für Gemütlichkeit, als Partyservice bürgerlicher Anständigkeit, damit kann ich umgehen. Damit muss ich sogar umgehen können, das auszuhalten gehört nämlich zu meiner täglichen Arbeit als Pfarrer vor Ort. Aber letzten Endes ist es kindisch. Es ist das Kleid, man Weihnachten angezogen hat, um es ungefährlich zu machen. Um sich dem Anspruch zu entziehen. Und der Herausforderung zu entgehen.

Von dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer stammt das Wort: „Wir müssen als Christen vor und mit Gott so leben, als ob es Gott nicht gäbe – etsi Deus non daretur!“ Das ist ein provozierender Gedanke: „vor und mit Gott so leben, als ob es Gott nicht gäbe.“ Selbstverständlich glaube ich an Gott. Ich verdanke ihm mein Leben. Mit ihm will ich leben, mit ihm kann ich sterben, durch ihn werde ich auferstehen. Und dennoch muss ich so leben, als wenn Gott alles in meine Hand gelegt hat, die ganze Welt. Er hat mir mein Leben, die Erde, den Glauben anvertraut. Und jetzt bin ich dran. Bonhoeffer nennt das „Diesseitigkeit“ – und plädiert für ein diesseitiges Christentum.

Denn Gott ist nicht bloß Lückenbüßer, wenn’s mir schlecht geht, wenn ich traurig bin oder wenn ein Familienfest ansteht. Gott ist der Herr meines ganzen Lebens! Er ist diesseitig; also darf ich ihn nicht wieder ins Jenseits befördern. Er will einer von uns sein; also darf ich ihn nicht mehr in den Himmel verbannen. Er geht mit uns auf Tuchfühlung; also darf ich ihn mir nicht vom Leibe halten.

Deshalb gilt es, Weihnachten herauszuholen aus der Tannenbaumromantik. Da sollten Christen sich unterscheiden, immer mehr. Sich um den Tannenbaum versammeln und gemeinsam singen, das wäre ja schon was. Aber ihn nur hinstellen und sagen: „Ach wie schön, ach wie nett“, was soll das bringen? Geschenke auspacken und das war’s, bis zum nächsten Jahr? „I’m dreaming of a white chrismas“ – und wovon träume ich sonst noch? Und was tue ich dafür?

Das Leben ist kein Krippenspiel, sondern fordert mein ganzes Menschsein. „Leise rieselt der Schnee“ ist kein Glaubensbekenntnis, und was nur „Alle Jahre wieder“ geschieht, hält in Krisen nicht durch, ist nicht nachhaltig. „Last Chrismas“ ist nur eine Liebesschnulze, und „in der Weihnachtsbäckerei“ ist niemals „Stille Nacht“.

Musik II: Börner, „Stille Nacht“ (7)

Mein Lieblings-Weihnachtslied stammt nicht aus dem bürgerlichen Wohnzimmer, sondern aus der Bibel. Es ist ein Lied, das ganz nahe dran ist an der Urkirche, denn es wird bereits von Paulus zitiert. Das heißt, es muss vor ihm dagewesen sein, es war im liturgischen Gebrauch der allerersten Hausgemeinden. Das Lied aus dem Philipperbrief spricht von der radikalen Hingabe des Gottessohnes, von seinem Gehorsam gegenüber seinem Vater. Darin heißt es: „Er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ Drastisch gesagt: Dieses Lied singt von einem total heruntergekommenen Gott, der sich einmischt in die Welt, indem er einer von uns wird. Dazu gehört, dass er unser Schicksal teilt – auch unseren Tod. Der Gott, der sich einmischt, ist sich nicht zu schade für den Boden der Tatsachen. Er ist mit uns solidarisch, er kann uns leiden, er ist ein Gott mit politischer Leidenschaft.

Das Lied geht so: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Musik III: Börner, „Fröhlich soll mein Herze springen“ (14)

Gott ist weltlich, politisch, aber Menschen sperren ihn wieder in den Himmel ein. Deshalb, um das Ganze auf die Spitze zu treiben, man möge es mir verzeihen: Lassen wir doch diesen Blödsinn mit dem Christkind, das die Geschenke bringt. Manchmal denke ich: Unsere Kinder wissen oft gar nicht mehr, dass Jesus das Christkind ist, eben der Christus. Es scheint vielmehr so eine Art Fabelwesen zu sein, das vom Himmel runterfliegt, ein Paketzusteller für Konsumgüter. Das hat nichts mit Glauben zu tun, es ist nicht einmal mehr Kinderglaube, ist es bestenfalls noch religiöser Kitsch. Religionspädagogisch gesehen ist es eine glatte Lüge.

Eine Lüge, die schlimme Folgen haben kann: Die Eltern werden unglaubwürdig, weil sie diese Vorschulversion des Christentums unreflektiert weitertragen; oftmals sind sie ja selber darin stecken geblieben, religiöse Entwicklung gleich null. Was sollen die Kinder denn glauben, wenn man es ihnen zuerst so und dann wieder ganz anders erzählt? Kinderglaube ist Zwergenglaube, denn wer nicht wächst, bleibt kein Kind, sondern wird ein Zwerg. Und der Weihnachtsmann – das wissen alle – ist eine Erfindung von Coca-Cola. Eine Marketingstrategie, auf die die halbe Welt hereingefallen ist. Na dann prost! Das Ganze lebt von der Häresie, dass Konsum doch glücklich machen soll. Obwohl jeder weiß, dass es nicht so ist.

Der Sinn der Geschenke ist doch: Wir beschenken einander, weil Gott uns Jesus geschenkt hat. Nicht mehr und nicht weniger! Viele lassen sich die Geschenke etwas kosten, ohne Zweifel. Was aber kostet ihnen der Glaube? Ist er für viele nicht allzu billig geworden? Eine billige Jenseitsvertröstung, ein Gott an den Rändern des Lebens, aber nicht in der Mitte; ein Gott für Hochzeiten und Beerdigungen, aber nicht für die Welt, für diese ganz konkrete weltliche Welt. Mit all ihren Sorgen und Problemen.

Musik IV: Börner, „Ich steh an deiner Krippe hier“ (1)

Harte Worte! Falls Sie bis hierhin überhaupt mitgehört haben. Habe ich allzu unbarmherzig gesprochen? Gott und Welt gehören zusammen. Für immer und ewig! Manchmal denke ich: Religion ist für viele Zeitgenossen scheinbar immer noch ein Beruhigungsmittel: Opium des Volkes. Religion als Konsumartikel, Kosmetik für Herz und Schmerz: schön, feierlich, fruchtbar nett – aber erschreckend folgenlos. Alles bloß Dekoration, es kommt nämlich überhaupt nichts dabei heraus. Man ändert sein Leben um keinen Deut. Kirche ist dann nicht mehr Glaubensgemeinschaft, sondern frommes Unterhaltungsprogramm.

Gott aber sandte seinen Sohn, um sich kräftig einzumischen. Die Geburt im Stall von Bethlehem war schon ziemlich hart. Da hat Gottes Sohn schon den letzten Platz gewählt. Später, als er zu predigen begann, da kam er mit Forderungen: „Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium!“ Und er kam mit Herausforderungen: „Du aber, folge mir nach!“ Und er kam als Heiland: „Dein Glaube hat dir geholfen!“ Er rüttelte auf, beunruhigte, stellte in Frage, stellte die Welt auf den Kopf. Und heute kommt er auf uns zu, auf Sie und mich: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“ – „Ich bin die Wahrheit deines Lebens!“

Musik V: Börner, „Stern über Bethlehem“ (3)

Liebe Hörerinnen und Hörer! Ich möchte Ihnen mit meinen Gedanken nicht die Stimmung nehmen, heute, am ersten Weihnachtstag. Ich möchte Sie und mich nicht verstimmen, sondern einstimmen. Nicht auf das Christkind, sondern auf Christus. Einstimmen auf seine Stimme. Auf das Evangelium. Christen sind auf Christus gestimmt, nicht auf „Kling Glöckchen klingelingeling“ und „Morgen, Kinder, wird’s was geben“.

Einstimmen möchte ich, damit der Glaube praktisch wird. Weltlich. Politisch. Für das konkrete Leben. Mitmischen. Sich einbringen. Und dafür sorgen, dass die Welt ein kleines bisschen besser wird. Gott ist weltlich – deshalb braucht er ein diesseitiges Christentum: mit beiden Füßen auf dem Boden, mit dem Herzen bei Gott und dem Gesicht zur Welt.

Christbaumschmuck und Marzipan werden wohl immer dazu gehören, Krippen und Weihnachtsmärkte auch, das ganze Programm von Rührseligkeit und Kommerz. Und dennoch: Glaube betäubt nicht, sondern ernüchtert; er verhätschelt nicht, sondern weckt auf.

Musik VI: Börner, „Engel haben Himmelslieder“ (9)

Ein gesegnetes Weihnachtsfest wünscht Pfarrer Stefan Jürgens aus Münster.

Musik: Reinhard Börner, Choräle auf sechs Saiten. Stern über Bethlehem, cap-music CD 52 07370

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