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Das Geistliche Wort | 26.12.2017 | 08:35 Uhr

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Nicht nur zur Weihnachtszeit. Erinnerung an Heinrich Böll

Nun ist es fast schon wieder vorbei, Weihnachten, für viele Menschen und vielleicht auch für Sie das schönste Fest des Jahres. Selbst wenn vielen Grund und Inhalt dieser Feiertage nicht vertraut oder gleichgültig sind, entziehen kann sich den Besonderheiten der Weihnachtszeit in unserem Land kaum jemand. Dafür sorgen allein schon die mit Lichtgirlanden geschmückten Weihnachtsbäume, die seit Wochen vielerorts das Auge erfreuen. Und auch in vielen Wohnungen verbreiten liebevoll verzierte Fichten oder Tannen weihnachtliche Stimmung. Dazu kommen für viele die vertrauten Lieder wie „Ihr Kinderlein kommet“ und „Oh Tannenbaum“. Manche erfreuen sich an Bachs Weihnachtsoratorium mit seinem laut jubelnden „Jauchzet, frohlocket“, andere an dem stilleren „Ich steh an deiner Krippen hier“.

Musik 1: Ich steh an deiner Krippen hier, BWV 469; Komponist: Johann Sebastian Bach; Interpreten: Claus Bantzer & Harvestehude Chamber Choir; Album: Advent, Advent - 24 Stucke fur die Adventszeit, Track 15/24; Label: Sony Classical; LC: 06868

Doch nun, am zweiten Weihnachtstag, hat man lang genug an der Krippe gestanden, und die Tage des häuslichen Weihnachtsbaumes sind bereits gezählt; nicht lange mehr, und er liegt abgeschmückt vor der Haustür – und auch die Krippe wandert wieder in den Karton. Zudem steht nicht allen Menschen steht der Sinn nach Jauchzen und Frohlocken. Vielleicht hatten einige sich andere und schönere Geschenke erwartet. Vielleicht langweilen sich nicht nur die Kinder. Vielleicht stehen Pflichtbesuche an. Oder der Haussegen hängt aus anderen Gründen schief. Und auch die Nachrichten berichten wieder von Unfrieden und Kriegen. Da bleibt wenig übrig von dem Wunsch, die friedliche weihnachtliche Stimmung möge doch das ganze Jahr über anhalten.

Der Schriftsteller Heinrich Böll hat diese Zwiespältigkeit in einer seiner frühen Erzählungen satirisch gestaltet; sie trägt den Titel „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ (1). Böll ist einer der von mir besonders geschätzten Autoren, und ich erinnere heute Morgen auch deshalb an ihn, weil er vor ziemlich genau einhundert Jahren, nämlich am 21. Dezember 1917, geboren wurde. Das katholische Milieu Kölns hat ihn Zeit seines Lebens geprägt. Im Grunde, so erläutert er einmal in einem Interview, „im Grunde interessieren mich als Autor nur zwei Themen: die Liebe und die Religion.“ (2) Religion und Glaube sind für Böll allerdings nun keineswegs identisch mit der Kirche und ihrer Lehre, im Gegenteil: Böll tut sich zunehmend schwer mit seiner Kirche und reibt sich an ihr, so sehr sogar, dass er schließlich aus der Institution Kirche austritt, gleichwohl aber betont, dass er Christ sei und bleibe.

„Nicht nur zur Weihnachtszeit“ – In jener Erzählung nun ist es anfangs lediglich der Vetter Franz, welcher nicht an familiären Weihnachtsfeiern teilnimmt, weil er „das Ganze als Getue und Unfug bezeichnete“ (3). Später dann entziehen sich auch die anderen Familienmitglieder den Besonderheiten der häuslichen Feier. Der Grund dafür sind gewisse Eigenarten von Tante Milla, eine ältere an sich „reizende und liebenswürdige Frau“ (4).

Sprecherin:

„Tante Milla war in der ganzen Familie von jeher wegen ihrer Vorliebe für die Ausschmückung des Weihnachtsbaumes bekannt, eine harmlose, wenn auch spezielle Schwäche, die in unserem Vaterland ziemlich verbreitet ist. … Die Hauptattraktion am Weihnachtsbaum meiner Tante Milla waren gläserne Zwerge, die in ihren hocherhobenen Armen einen Korkhammer hielten und zu deren Füßen glockenförmige Ambosse hingen. Unter den Fußsohlen der Zwerge waren Kerzen befestigt, und wenn ein gewisser Wärmegrad erreicht war, geriet ein verborgener Mechanismus in Bewegung, eine hektische Unruhe teilte sich den Zwergenarmen mit, sie schlugen wie irr mit ihren Korkhämmern auf die glockenförmigen Ambosse und riefen so, ein Dutzend an der Zahl, ein konzertantes, elfenhaft feines Gebimmel hervor. Und an der Spitze des Tannenbaumes hing ein silbrig gekleideter rotwangiger Engel, der in bestimmten Abständen seine Lippen voneinander hob und ‚Frieden‘ flüsterte, ‚Frieden‘.“ (5)

Harmlos jedoch ist alles nur so lange, wie es sich an den weihnachtszeitlich vorgegebenen Rahmen hält. Doch dann eines Jahres wehrt sich Tante Milla nun ihrerseits wie irr mit anhaltenden Schreikrämpfen gegen das Abschmücken und Entfernen des Weihnachtsbaumes. Sie will, dass forthin das ganze Jahr über an jeden Abend Weihnachten gefeiert wird mit Gebäck und Liedern und ihrem geliebten Tannenbaum mit seinem „Frieden, Frieden“ flüsternden Engeln. Anfangs spielt die Familie um des lieben Friedens willen unwillig mit und tauscht sogar im Laufe des Jahres abgenadelte Tannen gegen frische aus. Später dann lässt sie sich durch Schauspieler vertreten, ehe ein etwa seniler pensionierter Prälat diese Rolle übernimmt. Schließlich kommt es zum Abbruch aller familiären Bindungen, währenddessen die allabendlichen Weihnachtsfeiern weitergehen und mit ihnen das Flüstern des Engels „Frieden, Frieden“.

Musik 2: Ich steh' an deiner Krippen hier (Live); Interpreten: Nils Landgren, Jonas Knutsson, Johan Norberg & Eva Kruse (instrumental); Album: Christmas With My Friends III (Live), Track 8/15; Komposition: Johann Sebastian Bach; Label: ACT (Edel); LC: 01666

Satire beinhaltet immer Überspitzungen und kommt von daher nicht bei allen gut an. So auch nicht beim westfälischen evangelischen Rundfunkpfarrer Hans-Werner von Meyenn, der 1953 nach der Radioausstrahlung dieser Erzählung an Heiligabend 1952 als erster bei Heinrich Böll protestiert. Das Ganze, so klagt er, sei nicht positiv genug, Böll biete „nur Steine statt Brot“ (6). In der Tat schreibt Böll keine kirchliche Erbauungsliteratur. Gleichwohl, finde ich, ist diese Erzählung ein zutiefst christlicher Text.

Bei ihm geht es einerseits um eine Familie, die alle Jahre wieder Weihnachten feiert mit ihren gewohnten Gebräuchen und Gefühlen und die dann mit dem Abschmücken ihres Weihnachtsbaumes auch den christlichen Grund und Inhalt des Festes für ein Jahr wegpackt. Die Frömmigkeit, die Vetter Franz später in ein Kloster führen wird, bekümmert seinen Vater; er nennt sie abschätzig „inbrünstiges Getue“ (7). Christliches zu Weihnachten: ja – aber das doch nicht das ganze Jahr über.

Und dann ist da andererseits jene spleenige Tante Milla. Ich verstehe ihren befremdlichen Weihnachtsfimmel als freilich misslungenen Versuch, den Inhalt und die Botschaft der Weihnacht das ganze Jahr hindurch wach zu halten. Tag für Tag wiederholt der ihr so liebe Weihnachtsengel mechanisch die Worte „Friede, Friede“. Sie hat doch recht, diese Tante Milla, denn bis auf diesen Tag hat unsere Welt es nötig, auf die Worte der Engel in der Weihnachtsgeschichte zu hören: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ (Lukas 2,14) Bölls Erzählung beginnt Weihnachten 1946. Da ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg noch allgegenwärtig. „Der Krieg“, so heißt es in der Geschichte, „wurde von meiner Tante Milla nur registriert als eine Macht, die schon 1939 anfing, ihren Weihnachtsbaum zu gefährden.“ (8) Nun will Tante Milla, freilich mit untauglichem Mittel, mögliche neue Kriege schon im Keim ersticken. Vielleicht ist sie weniger irr als jene, für die Kriege ein taugliches Mittel der Politik sind.

Musik 2

Vielleicht, hoffentlich habe ich Heinrich Böll gar nicht so ganz anders verstanden, als er es wollte. Vielleicht, hoffentlich habe nur offengelegt, was in seiner Erzählung satirisch überdeckt ist, nämlich die Friedensbotschaft Gottes. Wo auf sie gehört wird, verändert sie die Welt. 1957 nämlich, fünf Jahre nach jener Erzählung, gibt Böll in der Zeitungsumfrage „Was halten Sie vom Christentum?“ unter anderem folgende Antwort:

Sprecher:

„Ich überlasse es jedem einzelnen, sich den Alptraum einer heidnischen Welt vorzustellen oder eine Welt, in der Gottlosigkeit konsequent praktiziert würde: den Menschen in die Hände des Menschen fallen zu lassen. Nirgendwo im Evangelium finde ich eine Rechtfertigung für Unterdrückung, Mord, Gewalt. Ein Christ, der sich ihrer schuldig macht, ist schuldig. Unter Christen ist Barmherzigkeit wenigstens möglich, hin und wieder gibt es sie: Christen, und wo einer auftritt, gerät die Welt in Staunen. 800 Millionen Menschen haben die Möglichkeit, die Welt in Erstaunen zu setzen. Vielleicht machen einige von dieser Möglichkeit Gebrauch.“ (9)

Heute, sechzig Jahre später, sind es etwa dreimal so viele, nämlich fast 2,6 Milliarden Christinnen und Christen, also fast ein Drittel der Weltbevölkerung, die mit ihrer Barmherzigkeit die Welt nicht nur in Erstaunen versetzten sondern verändern und verbessern könnten.

Sprecher:

„Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen.“

Da ist sie wieder, jene für Böll typische Zusammenstellung von christlicher Religion und Liebe. An beiden richtet er sich in gleicher Weise aus. Allerdings sieht er die in Jesus Christus begründete Religion der Grenzen überschreitenden Liebe nicht oder kaum in Kirchen verwirklicht, die sich durch ihre Dogmen und ihr Recht selbst eingrenzen. Sie geschieht vielmehr überall da, wo Menschen sich bemühen, unsere Welt liebevoller, also barmherziger und friedvoller, zu gestalten. Damit trifft Böll einen Kern und den Grund des Weihnachtsfestes.

Diese bedingungslose und barmherzige Liebe zu allen Menschen hat Jesus Christus gelebt. Sie galt und gilt vor allem den Schwachen, Zu-kurz-Gekommenen, auf der Schattenseite des Lebens Stehenden. Hier zeigt sich: Jesus ist die Mensch gewordene Liebe Gottes. Er ist Gottes Menschenfreundlichkeit. Natürlich war das alles am neugeborenen Jesuskind noch nicht sichtbar. Das alles wurde erst durch die Worte und Taten des erwachsenen Mannes Jesus erkennbar. Was er gesagt und getan hat, war und ist vielen Menschenunendlich wichtig. Und deshalb feiern Christenmenschen seit Jahrhunderten an Weihnachten das Fest seiner Geburt.

Heinrich Böll hofft, dass unsere schönen weihnachtlichen Gebräuche und Gefühle diesen eigentlichen Grund nicht in den Hintergrund verdrängen oder in den Untergrund abschieben. Er sehnt sich geradezu danach, dass dieser Grund unübersehbar und bestimmend in den Vordergrund tritt. Mir geht das ähnlich. Und ich wünsche Ihnen, dass auch Sie nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern an allen Tages des Jahres sich getragen und angestoßen wissen von der tröstenden und ermutigenden Weihnachtsbotschaft der Engel: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Ein frohes Weihnachtsfest wünscht ihnen Ihr Pfarrer Werner Max Ruschke von der evangelischen Kirche in Soest.

Musik 3: Weihnachts-Oratorium, BWV 248, Pt. 1: Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage; Komponist: Johann Sebastian Bach; Interpreten: Gaechinger Cantorey & Hans-Christoph Rademann; Album: Bach: Weihnachtsoratorium, BWV 248, Track 1/38. Label: Carus (Note 1 Musikvertrieb); LC: 03989.

Quellenangaben:

(1) Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit (1952); in ders.: Werke. Romane und Erzählungen 1. 1947-1952, hg. von Bernd Balzer, Bornheim-Merten / Köln ³1989, 810-838. (2) Heinrich Böll: Interview mit Marcel Reich-Ranicki (1967); in ders.: Aufsätze, Kritiken, Reden; Köln / Berlin 1967, 510.

(3) Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit, 811.

(4) A.a.O., 814.

(5) A.a.O., 812.

(6) Zitiert bei Bernd Balzer: Das literarische Werk Heinrich Bölls. Einführung und Kommentare; dtv 30650, München 1997, 111.

(7) Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit, 810.

(8) A.a.O., 813.

(9) Heinrich Böll: Eine Welt ohne Christus?; in: Karlheinz Deschner (Hg.): Was halten Sie vom Christentum? 18 Antworten auf eine Umfrage; List-Bücher 105, München 1957, 22; dort auch das folgende Zitat.

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