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Das Geistliche Wort | 28.01.2018 | 08:35 Uhr

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Ich hab in Gottes Herz und Sinn

Musik 1: Eingangschor BWV 92 instrumental, Satz 1

Autorin: Guten Morgen! Auf den Tag genau vor 293 Jahren waren diese Töne zum ersten Mal zu hören: Am 28. Januar 1725 erklang die Kantate „Ich hab in Gottes Herz und Sinn“ im Gottesdienst der Leipziger Thomaskirche. Ihre Musik stammt aus der Feder von Johann Sebastian Bach. Seit fast zwei Jahren war der knapp 40-jährige dort Kantor. Seitdem konnte die Leipziger Gottesdienstgemeinde an nahezu jedem Sonn- und Feiertag eine neue Kantate hören. Wie im Rausch, so scheint es, hat der frisch gebackene Thomaskantor in seinen ersten beiden Amtsjahren konzertante Musik für Gottesdienste geschrieben.

Musik 2: Eingangschor BWV 92 vokal, Satz 1

Autorin: „Was böse scheint, ist mein Gewinn, der Tod selbst ist mein Leben.” Die Musik ist ja wunderbar auch für viele heutige Ohren – aber diese Texte! Gelinde gesagt, sind sie vielen fremd:….. Gute 100 Jahre nach der Erstaufführung dieser Kantate bezeichnete sie der Komponist Carl-Friedrich Zelter als „infame Kirchentexte“ (1), an denen Bach sich hätte abarbeiten müssen. Und noch ein Jahrhundert weiter schrieb Albert Schweitzer: „Bach mühte sich mit unmöglichen Texten ab“ (2) Der heutige Schriftsteller und Bach-Verehrer Marten `t Hart steigert die Ablehnung weiter, denn er sieht die Texte gar von „bösartigem, ja verbissenem Groll durchzogen“ (3).

Harte Urteile über Worte, die mit so bewegenden Tönen verbunden sind! Was also tun? Einfach die Texte ignorieren? Oder gar neue Worte für die kostbare Musik schreiben? Auf gar keinen Fall, sagt die Lyrikerin Carola Moosbach. Sie wirbt darum, sich auf die Kantatentexte einzulassen, so wie sie sind:

Sprecherin: „Bachs Kantaten sind untrennbar mit der ihr zugehörigen barocken Sprache verbunden. Gerade die Dynamik und Dramatik dieser Sprache, ihr Bilderreichtum und ihre Sinnlichkeit waren es, die Bach zu dieser großartigen Musik inspiriert haben. Es wäre … grob verfälschend, würde man diese Einheit von Text und Musik aufbrechen zugunsten einer … modernisierten Textfassung.“ (4)

Musik 3: BWV 92, Satz 2

Sprecher (overvoice):

„Es kann mir fehlen nimmermehr!

Es müssen eh´r, wie selbst der treuer Zeuge spricht, mit Prasseln und mit grausem Knallen die Berge und die Hügel fallen: mein Heiland aber trüget nicht,

mein Vater muss mich lieben.“

Autorin: Als 12-jährige gehörte Carola Moosbach zu den Kindern, die bei Bachs-Matthäuspassion den Choral „O Lamm Gottes unschuldig“ sangen. Wirklich kein einfacher Text! Doch seitdem faszinieren sie die geistlichen Werke des großen Thomaskantors. So hat sie ihren eigenen Weg mit Bachs Kantaten eingeschlagen und zwar einen ganz gründlichen. Fünf Jahre lang hörte sie fast jeden Tag eine Kantate, möglichst in der Woche des Kirchenjahres, für die sie geschrieben worden ist. Montags wählte sie eine aus und hörte sie dann wieder und wieder. Sie schrieb auf, was sie über das Werk herausfinden konnte und vor allem, was sie selbst beim Hören empfand. Erschien ihr zu Wochenbeginn noch alles fremd, so änderte sich dies mit den Tagen. Die barocken Worte und Töne verbanden sich mit ihrem eigenen Leben:

Sprecherin: “Was ich in dieser Woche erlebte, dachte und erfuhr, wollte in Beziehung gebracht werden zu dem, was die Kantate mir sagte…Je mehr ich vor allem mit den Texten ins Gespräch kam, sie drehte und wendete, sie befragte und auf Vertrautes abklopfte, je mehr ich ihnen widersprach oder auch zustimmte, je hartnäckiger ich nach ihren Ein- und Ausgängen suchte, desto ergreifender wurde für mich auch das Erlebnis ihrer Vertonung.“ (5)

Autorin: Auf das, was Carola Moosbach in ihrem Hören von Bachs Kantaten erlebte, darauf wollte sie Antworten finden und zwar persönlich-aktuelle. So verfasste sie im Laufe der Woche zu jeder Kantate einen „poetischen Kommentar“. Ein kleines eigenes Stück Lyrik zu den Worten, denen sie nachgespürt hatte. Ein persönlicher Widerhall zu der Musik, die sie gehört hatte. So entstand jeweils eine aktuelle zusätzliche Stimme zu Bachs Kantate: mal schwingt sie harmonisch mit, mal widerspricht sie, mal phantasiert sie frei. Viele von diesen Kommentaren erschließen mir verborgene Tiefen der Kantaten. Aber sie vermessen auch den Abstand, der mich heute von diesen barocken Werken trennt.

Musik 4: BWV 92, Satz 3

Sprecher (overvoice):

„Lass Satan wüten, rasen, krachen, der starke Gott wird uns unüberwindlich machen.“

Sprecherin:

„Verwerfungen

Warum es Unrecht und Armut gibt?

Bestimmt nicht, weil Gott es so will

Warum so viele untergehen?

Bestimmt nicht, damit sie etwas lernen

Warum ich krank bin und andere nicht?

Bestimmt nicht um mich zu prüfen

Ich bin des Kämpfens müde

ich bin des Fragens müde

Wut und Klage haben sich hingelegt

Geduld und Hoffnung sind eingeschlafen

ich lege sie in gebrochene Hände

die wurden schon einmal heil

ich werfe mich in zerklüftete Arme

und falle schwer in die Wolken“ (6)

Autorin: So klingt der poetische Kommentar zu unserer Kantate „Ich hab in Gottes Herz und Sinn“. Darin malt Carola Moosbach ihre Müdigkeit aus. Fragen und Kämpfe haben sie erschöpft. Ganz reglos ist sie geworden, ausgebremst von übermächtigem Elend – so deute ich es.

„Wut und Klage haben sich hingelegt /

Geduld und Hoffnung sind eingeschlafen.“

Doch dann kommt Bewegung auf. Die müde danieder liegt, wird aktiv, kann weiter geben, was sie lähmt, kann es geradezu ablegen,

„ich lege sie in gebrochene Hände die wurden schon einmal heil“

Musik 5: BWV 92, Satz 2

Sprecher (overvoice)

„Durch Jesu rotes Blut bin ich in seine Hand geschrieben; er schützt mich doch!“

Autorin: Stehen hinter der Zeile mit den gebrochenen Händen die Folter und das Sterben von Jesus? In seine gebrochenen Hände sich einzufühlen - hilft das Carola Moosbach, sich aufzurichten? Hilft die Gewalt, die ihm angetan wurde, anderen Opfern von Gewalt auch heute? Denn zu ihnen zählt Carola Moosbach. Als Kind wurde sie von ihrem Vater missbraucht, wieder und wieder. Lange Jahre hat sie dies verdrängt. Als es nicht mehr ging, half ihr Therapie, wieder stabiler zu werden. Aber Missbrauch kann nicht einfach so abgelegt werden: In ihrem Beruf als Juristin konnte sie nur kurze Zeit arbeiten, da sie dauerhaften Belastungen nicht gewachsen ist. Heute lebt Carola Moosbach, die ihren Namen geändert hat, in ihrer Wahlheimat Köln von einer kleinen Opferrente.

Doch sie will über dieses Tabu, das immer Totgeschwiegene nicht länger schweigen. In Gedichten sucht sie einen Ausdruck dafür.

Sprecherin:

„“Vater“ ist der der mir die Seele gemordet hat

Soll ich Dich wirklich „Vater“ nennen Gott?“ (7)

Kann Gott da eine gute Rolle spielen? Als Kind ist ihr Religion und Gottesdienst immer wichtig gewesen. In der Kirche fühlte sie sich sicher, dort konnte ihr nichts passieren. Und sie wäre so gerne Messdienerin geworden, so wie ihre Brüder. In einem biographischen Text berichtet sie davon in der dritten Person, als ginge es um eine andere. Sie schreibt: „Aber dann hat der Pfarrer gesagt, sie sei nur ein Mädchen und deshalb zu unrein, um ganz nahe bei Gott zu sein. Da hatte sie gewusst, dass auch Gott sie nicht haben wollte und dass sie wirklich dreckig und böse war.“ (8)

Musik 6: BWV 92, Satz 3

Sprecher (overvoice)

Seht, wie reißt, wie bricht, wie fällt, was Gottes starker Arm nicht hält.

Autorin: Ich kann gut verstehen, dass Carola Moosbach hier anknüpfen kann mit ihren eigenen Erfahrungen von Zerbrechen. Vielleicht ist es so: Die ferne, gewaltsame Sprache schafft einen Raum für das, was ich nicht in Worte fassen kann. Die aufstörende Musik drückt aus, was ich nicht sagen kann, sogar mein Grauen. Aber dann ist alles wieder stabil, wenn der Gottheld auftritt: „fest und unbeweglich prangen, was unser Held mit seiner Macht umfangen.“ Ist das wohl zu vollmundig für weibliche Gewalterfahrungen? (unterlegen mit 3,29-35) Bach behält auch in dieser Passage die verstörenden Violinpassagen bei. So erklingt das Gehaltensein zusammen mit dem Zerbrochensein. Der kraftvolle Text verbunden mit der irrlichternden Musik. Nur zusammen bieten sie Carola Moosbach einen Ausdruck für ihre eigenen Erfahrungen. So begleiten sie die Vokalwerke des großen Thomaskantors auf ihrem Weg, sich Gott wieder neu anzunähern:

Sprecherin:

„Ich weiß

es gibt da einen Strom

ein zartes Gewebe, das die Erde zusammenhält

ein Schweben über den Tönen der h-moll Messe

und ich weiß das bist du Gott

aber ich verstehe es nicht und es bringt mich zum Weinen“ (9)

Autorin: Mich beeindruckt, wie Carola Moosbach ringt. Mit dem, was sie erlebt hat und mit ihrem beschädigten Leben jetzt. Und wie sie mit Gott, um Gott ringt, der sich daraus nicht einfach verbannen lässt. Sondern mit drinhängt, sie kann ihn nicht ablegen. Aber was dann?

Musik 7: BWV 92, Satz 4

Sprecher (overvoice):

„Er weiß, wenn Freud, er weiß, wenn Leid uns, seinen Kindern diene,

und was er tut, ist alles gut, ob´s noch so traurig schiene.“

Autorin: Sie macht sich auf den Weg. Umkreist lange das Haus einer Pfarrerin, einer „Gottsagerin“ in ihren Worten. Entschließt sich zu Gesprächen mit ihr. Merkt, dass sich etwas bewegt. Ihr geht auf: Ich kann es mir nicht leisten, auf Gott zu verzichten (10) Ich kann ihn – oder sie – aber auch

nicht finden. So beschließt sie, Gott trotzdem anzusprechen, probeweise, auch wenn sie das viel Überwindung kostet. Von diesen Versuchen schreibt sie – wieder im Schutzraum der dritten Person: „Mit der Zeit wurde sie mutiger und begann, all ihre Fragen und Anklagen in Richtung Gott zu schleudern. Wenn Gott das nicht ertragen kann, hat es ohnehin keinen Sinn mit ihr, dachte sie. Als sie alles gesagt hatte, was es in dieser Hinsicht zu sagen gab, konnte sie endlich auch das tun, was so schwer für sie war wie sonst nichts auf der Welt: sie konnte Gott darum bitten, von ihr gefunden zu werden. Etwas in ihr löste sich auf, als sie das tat, etwas, das schon sehr lange sehr weh getan hatte.“ (11)

Musik 8: BWV 92, Satz 7

Sprecher (overvoice):

Ei nun, mein Gott, so fall ich dir getrost in deine Hände.

So spricht der Gott gelass´ne Geist, wenn er des Heilands Brudersinn und Gottes Treue gläubig preist.

Nimm mich und mache es mit mir bis an mein letztes Ende

Sprecherin:

„Ich bin des Kämpfens müde

ich bin des Fragens müde

Wut und Klage haben sich hingelegt

Geduld und Hoffnung sind eingeschlafen

ich lege sie in gebrochene Hände

die wurden schon einmal heil

ich werfe mich in zerklüftete Arme

und falle schwer in die Wolken“ (12)

Autorin: Carola Moosbach konnte Gott darum bitten, von ihr gefunden zu werden.

„Ich hab in Gottes Herz und Sinn“ – diese Kantate höre ich heute mit anderen Ohren. Der poetische Kommentar von Carola Moosbach zeigt mir Wege auf, wie die ungeheuerlichen und wunderbaren Bachkantaten auch heute nähren können. In dem, wie sie berühren und in dem wie sie fremd sind, vielleicht sogar abstoßen. In den barockenTexten von Gottes Hingabe findet Unsagbares Ausdruck. Die Verherrlichung von Leiden, ein scheinbar unbeugsamer Glaube fasziniert und stößt gleichzeitig ab. Doch im Zusammenklang mit der himmlischen Musik bieten diese Texte Proviant. Gerade für Leben, das beschädigt ist. Denn das Leiden kann da hineingelegt werden, einen Ort bekommen. Auch wenn es trotzdem weiterhin da ist.

Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Pfarrerin Gudrun Mawick aus Schwerte-Villigst.

Musik 9: BWV 92, Satz 7

Musikangaben:

Bach-Edition: Cantatas/Kantaten

Holland Boys Choir

Leitung: Peter Jan Lensink

Label: Brilliant Classics

(1)Zitiert nach Carola Moosbach, Bereitet die Wege, München 2012,S. 14

(2)Ebd.

(3)Ebd.

(4)A.a.O., S. 16

(5)A.a.O., S. 18

(6)A.a.O., S. 65

(7)Zitiert aus Carola Moosbach, Gottflamme du Schöne – Lob- und Klagegebete, Gütersloh 1997, S. 21

(8)A.a.O., S. 14

(9)A.a.O., S. 20

(10)A.a.O., S. 15

(11)A.a.O., S. 16

(12)Zitiert nach Carola Moosbach, Bereitet die Wege,S. 65

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