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Das Geistliche Wort | 31.03.2019 | 08:35 Uhr

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Titel: 75 Jahre „Kinder von Izieu“

Autor: Sie nannten ihn den „Schlächter von Lyon“ und er kam aus der Stadt, in der ich heute wohne: Klaus Barbie, geboren in Bonn-Bad Godesberg. Zur Zeit des Nationalsozialismus war er SS-Hauptsturmführer und ab 1942 Chef der Gestapo im besetzten Südfrankreich. Unzählige Menschen schickte dieser Mann in den Tod, und sein Judenhass machte nicht einmal vor Kindern halt.


In Frankreich bin ich seiner Spur nachgegangen. Hören Sie eine unglaubliche Geschichte. Eine, die immer wieder erzählt werden muss, damit sie nicht vergessen wird: Die Geschichte der Kinder von Izieu. Und von dem, was diesen Kindern passiert ist. Das ist in diesen Tagen genau 75 Jahre her.

Musik 1: Track 1 „Maya Freilach“ von CD Very Klezmer, Interpreten: Giora Feidman & Gitanes Blondes, T.u.M.: trad./arr. G. Feidmann / Pianissimo Musik GmbH 2012, LC 20164.

O-Ton Leo Volkhardt: Was die Menschen immer wieder mitnimmt, ist die Geschichte eben dieser 44 Kinder, die verhaftet wurden, aber auch die der 60 weiteren, die überlebt haben, die durch Izieu gerettet worden sind. Weil sie hier als Kinder, als Menschen, (…) gezeigt werden mit ihren Briefen, mit ihren Bildern, was sie denken, was sie wollen, was sie sich wünschen, was sie sich nicht wünschen.

Autor: Sagt Leo Volkhardt. Ich treffe den jungen Mann, 19 Jahre alt, oberhalb des Rhonetals, etwa 80 Kilometer östlich von Lyon. Hier macht er sein freiwilliges soziales Jahr. In Izieu: ein idyllisches Dörfchen mit einem Kinderheim und einer Schule. Bis 1944 wurden hier jüdische Kinder vor den Nazis versteckt. – Bis zum 6. April, Gründonnerstagmorgen, 8.30 Uhr. Vor 75 Jahren. Es ist genau dokumentiert. Das Frühstück ist gerade vorbei, da kommen zwei Laster mit den SS-Leuten den Berg hoch gefahren. Und sie nehmen alle Kinder mit, alle die da sind.

Leo Volkhardt erzählt die Geschichte der Kinder von Izieu mehrmals am Tag, wenn er Besucher durch das ehemalige Kinderheim, das „Maison d´Izieu“ führt – manchmal sind auch Deutsche dabei. Und dann erzählt er zum Beispiel von Georgy:

O-Ton Leo Volkhardt: Weil Georgy viele Brief geschrieben hat, an seine Eltern, (…) und sehr detailliert, sehr kindhaft schreibt, (…) was er isst, wo er gerade sitzt, was er mit seinen Kameraden gemacht hat, wie er das Weihnachtsgeschenk seiner Eltern mit den Kindern geteilt hat, die keine Eltern mehr haben (…) und es zeigt eben eine solche Menschlichkeit und solche Unschuldigkeit.

Autor: Die jüdischen Kinder aus Izieu kommen aus ganz Europa, die meisten aus Deutschland und Österreich. Viele haben ihre Eltern bereits verloren. Hier oben abseits der Städte und des Naziterrors versucht eine kleine Gruppe von Helfern ein Stück ihrer Kindheit und vor allem das Leben der Kinder zu retten.

Musik 2: Track 2 „Der uralte Kindernigun“ von CD Very Klezmer, Interpreten: Giora Feidman & Gitanes Blondes, T.u.M.: Helmut Eisel, trad./arr. G. Feidmann / Pianissimo Musik GmbH 2012, LC 20164.

Autor: Es ist diese Idylle hier oben, diese Ruhe, dieser Frieden. Wenn man heute hier auf der Freiterrasse steht vor dem so schön weiß gestrichenen Haus mit den hellblauen Fensterläden, unter einem alten schützenden Baum – es fällt mir schwer, mir vorzustellen, was hier vor genau 75 Jahren passiert ist.

Georgy ist gerade mal acht Jahre alt, als die Deutschen auf der Suche nach jüdischen Kindern zur Razzia kommen. Er, weitere 43 Kinder und sieben Betreuer werden abgeholt. Sie werden nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. Transport 71, quer durch Europa. Das ist im April 1944. Nur zwei Monate, bevor die Alliierten in der Normandie landen. Wenige Monate vor der Befreiung von den Nazis.

Der Befehl für die Aktion in Izieu kam von Klaus Barbie. Auch das ist genau dokumentiert. Klaus Barbie, ein Sadist, dem die Nazidiktatur freie Hand gibt, seine Perversionen auszuleben. 1913 ist er in Bad Godesberg geboren. Er wollte mal Theologie studieren und Jura. Seine Eltern sind katholisch. Doch der Vater stirbt früh an den Verletzungen aus dem 1. Weltkrieg. Barbie tritt in die Hitlerjugend ein, dann in die SS und organisiert Juden-Razzien in Holland. 1942 kommt er nach Lyon und wird dort Chef der Gestapo. Seine Foltermethoden sind berüchtigt, er wird der „Schlächter von Lyon“. 4342 Morde werden ihm persönlich vorgeworfen und die Deportation von 7581 Juden.

Es dauert mehr als 40 Jahre, bis Barbie der Prozess gemacht wird. 1987 wird er wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt. Barbie, der nie wirklich bereut, muss bis an sein Lebensende ins Gefängnis. Dort stirbt er 1991, mit 77 Jahren an Krebs. Der Prozess ist ein erschütterndes Zeugnis, was Menschen Menschen antun können. Und er zeigt, dass Unmenschlichkeit kein anonymes Schicksal ist, sondern sich mit ganz konkreten Personen verbindet.

Musik 3: Track 5 „Sholem-Alekhem“ von CD Very Klezmer, Interpreten: Giora Feidman & Gitanes Blondes, T.u.M.: Béla Kovacs, trad./arr. G. Feidmann / Pianissimo Musik GmbH 2012, LC 20164.

O-Ton Reinhard Mey: Ich habe von Serge und Beate Klarsfeld das Buch gelesen „Die Kinder von Izieu“. (...) Ich habe mich lang gefragt, ob man so eine Chronik zum Inhalt eines Liedes machen kann, ob man das darf, ob das überhaupt geht. Und ich bin zu der Entscheidung gekommen, dass ich das machen muss.

Weil, ich möchte mich dazu äußern und da die Lieder meine Möglichkeit sind, mich zu äußern, habe ich das Lied gemacht: die Kinder von Izieu.

Text: Track 5 „Die Kinder von Izieu“ von CD 2 „Zwischen Zürich und Zuhaus“, Text: R. Mey, Intercord Ton GmbH 1995, LC 1109.

Autor: Beate und Serge Klarsfeld, sie Journalistin, er Rechtsanwalt, haben die Spur von Klaus Barbie Jahrzehnte verfolgt und nicht locker gelassen, den Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen. Ich selbst bin auf die Geschichte der Kinder von Izieu genau über dieses Lied von Reinhard Mey gestoßen.

Musik 4: Track 1 Die Kinder von Izieu von Album: Immer weiter, Interpret: Reinhard Mey, T.u.M.: R. Mey / Verlag: Maikäfer Musik. 1994, Intercord Ton GmbH 1994 / LC 1109.

Sie war‘n voller Neugier, sie war‘n voller Leben, / Die Kinder, und sie waren vierundvierzig an der Zahl. / Sie war‘n genau wie ihr, sie war‘n wie alle Kinder eben / Im Haus in Izieu hoch überm Rhonetal. Auf der Flucht vor den Deutschen zusammengetrieben, / Und hinter jedem Namen steht bitteres Leid.

Autor: Das Kinderheim in Izieu, das „Maison d`Izieu“, ist heute eine Gedenkstätte, errichtet nach dem Prozess gegen Barbie. Ich habe sie mit meinen eigenen Kindern besucht. Ich möchte, dass sie ein Gespür dafür bekommen, was Antisemitismus, was Judenhass, was Nationalsozialismus anrichten. Geschichte verstehen, das geht am besten über Geschichten, über Menschen – von Angesicht zu Angesicht sozusagen. Wenn ich mit meinen Kindern auf den Schulbänken der Kinder von Izieu sitze, wenn wir uns die Bilder, die sie gemalt haben, anschauen, ihre persönlichen Briefe lesen. Der kleine Georgy, acht Jahre alt, schreibt an seine Eltern, die damals noch leben:

Georgy: „Lieber Papa, ich habe dein Paket und deinen Brief erhalten und ich habe mich sehr darüber gefreut. Entschuldige bitte, dass ich nicht früher geschrieben habe. Ich habe mit meinen Kameraden viel Spaß. Ich esse gut. Zu Weihnachten habe ich einen Malkasten und einen Zeichenblock bekommen. Ich bin gesund. Du auch? Liebe Mama, die Socken, die du mir geschickt hast, passen alle sehr gut. Ich putze mir jeden Morgen die Zähne mit der Zahnpaste, die du mir geschickt hast. Wir haben hier Schnee und Schlittenfahren das macht viel Spaß. Tausend Küsse für dich und für Papa, Georgy.“

Musik 5 = Musik 4

Joseph, der kann malen: Landschaften mit Pferden, / Théodore, der den Hühnern und Küh‘n das Futter bringt, / Liliane, die so schön schreibt, sie soll einmal Dichterin werden, / der kleine Raoul, der den lieben langen Tag über singt. / Und Elie, Sami, Max und Sarah, wie sie alle heißen: / Jedes hat sein Talent, seine Gabe, seinen Part.

Autor: Die ermordeten Kinder von Izieu. Reinhard Mey hat ihnen in seinem Lied ein Gesicht gegeben. Die Kirchen in Deutschland und ihre Gläubigen, sie haben in der Nazizeit in weiten Teilen zum Mord an den Juden geschwiegen. Sie haben versagt. Jesus selbst war Jude. Und ich kann doch den christlichen Glauben nur verstehen, wenn ich auch die jüdischen Wurzeln meines Glaubens kenne und pflege.

Ich wünsche mir: Wenn heute auf dem Schulhof „Jude“ wieder als Schimpfwort fällt, dass meine Kinder dann aufmerksam sind und widersprechen. Wenn heute der Antisemitismus wieder salonfähig wird, in Bierzelten, auf Veranstaltungen rechter Parteien, dann möchte und muss ich als evangelischer Christ und Pfarrer etwas sagen. Denn jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes! So heißt es am Anfang im hebräischen Teil der Bibel. Ausnahmslos: ganz gleich welcher Religion er oder sie angehört – jede und jeder, Georgy, Elie, Sami, Max und Sarah, Sie und ich, egal ob Jude, Christ, Muslim oder gar keiner Religion verbunden.

Mit Worten fängt es an. Mit Worten, die Menschen mobben, verächtlich machen. Worte, die Menschen ihre Würde und ihren Wert nehmen. Denn Schlächter wie Klaus Barbie stehen – auch heute – immer wieder bereit, dann aus Worten Taten zu machen.

O-Ton Leo Volkhardt: Die Geschichte von Izieu zeigt einerseits, wozu kleine Entwicklungen, kleine Dinge führen können und für mich ist es eben diese starke Botschaft, die wir auch versuchen, den Schülern und den Besuchern mitzugeben, dass jegliche Diskriminierung, jegliche Benachteiligung die Türen öffnet für weitere schlimme Dinge und insofern ich ziehe aus Izieu immer diesen Schluss.

Autor: sagt Leo Volkhardt, der für die Aktion Sühnezeichen sein freiwilliges soziales Jahr in Izieu macht. Junge Menschen wie er beeindrucken mich.

Ich bin froh, dass ich ihn hier oben treffe. Am Ende der Welt sozusagen. Keine Party, kein munteres Stadtleben. In seinem Alter könnte man andere Ding tun – oder?

Musik 6: Track 9 „Dilugim“ von CD Very Klezmer, Interpreten: Giora Feidman & Gitanes Blondes, T.u.M.: Ora Bat Chaim, arr. Marina Baranova / Pianissimo Musik GmbH 2012, LC 20164.

Autor: „Ein Mensch ist erst dann vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ So heißt es im jüdischen Talmud. Am ehemaligen Kinderheim in Izieu hängt deshalb eine Tafel mit den Namen aller ermordeten Kinder. Sechs Millionen Menschen, europäische Juden sind im Holocaust getötet worden. In Izieu bekommen 44 von ihnen eine Geschichte.

Von den 60 weiteren Kindern, die in den Jahren zwischen 1943 und 44 hier gelebt haben und die das „Maison“ verlassen haben bevor die Nazis kamen, sind viele alt geworden und inzwischen gestorben. Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die noch berichten können. Darum sind Orte wie Izieu so wichtig.

Izieu erzählt die Geschichte aus Kinderaugen. Das macht sie so anrührend, auch so wertvoll. Die Träume, die ich auf den gemalten Bildern der Kinder erkenne, die Sehnsucht nach Frieden und nach Glück, sie erzählen davon, wie Zukunft aussieht, wenn das Leben hier auf Erden gelingen soll.

Musik 7 = Musik 6

Autor: Gegen die Kindergeschichten von Georgy und seinen Freunden steht die zynische der Erwachsenenwelt, und das ist die Geschichte von Klaus Barbie: Nach dem Krieg taucht er unter und wird Agent für den britischen und amerikanischen Geheimdienst. Dann entkommt er auf der sogenannten „Rattenlinie“ nach Südamerika. Unter dem Decknamen Klaus Altmann berät er in Folterfragen den Militärdiktator in Bolivien. Zeitweise ist er sogar Informant für den Bundesnachrichtendienst.

Erst 1983, als in Bolivien die Diktatur zu Ende ist, wird Barbie verhaftet – wegen Steuerhinterziehung – und nach Frankreich ausgeliefert. Hier wird ihm als Kriegsverbrecher der Prozess gemacht. Dabei spielen die Kinder von Izieu eine entscheidende Rolle. Denn Barbie behauptet immer wieder, er habe „doch nur gegen Partisanen gekämpft“. Doch seine Unterschrift im Einsatztelegramm der „Kinderkolonie von Izieu“ ist eindeutig.

Der Barbie-Prozess löst in Frankreich eine heftige Debatte über die eigene Rolle in der Nazizeit aus. Bis heute ist ungeklärt, wer die Kinder von Izieu eigentlich verraten hat.

Wenn ich diese Geschichte heute erzähle, dann geht es mir um Zivilcourage und Mut. Beides braucht man, wenn man in schwieriger Zeit Widerstand leisten will. Wenn man die eigenen Werte leben will.

Musik 8 = Musik 4

Heute hör‘ ich, wir soll‘n das in die Geschichte einreihen, / Und es muss doch auch mal Schluss sein, endlich, nach all den Jahr‘n. / Ich rede und ich singe und wenn es sein muss, werd‘ ich schreien, / Damit unsre Kinder erfahren, wer sie war‘n:

Der Älteste war siebzehn, der Jüngste grad vier Jahre, …

Autor: Das Verbrechen der Nazis an den Juden ist einzigartig. Und doch erinnert die Ausstellung im Haus in Izieu am Ende an weitere „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“: Apartheid in Südafrika, Bürgerkrieg in Kambodscha, in Jugoslawien, in Ruanda …

All dieses sinnlose, menschengemachte Leid … Es ist vielleicht schon viel erreicht, wenn die Geschichte von Georgy und den anderen nur in einem einzigen Fall hilft, einen Menschen zu retten. Wenn sie hilft, dass sich ein Mensch irgendwo auf der Welt für Gerechtigkeit und Menschlichkeit einsetzt. Ich werde die Kinder von Izieu in meinem Herzen bewahren. Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Ihr Joachim Gerhardt von der evangelischen Kirche in Bonn.

Musik 9: Track 16 „Amigos“ von CD Very Klezmer, Interpreten: Giora Feidman & Gitanes Blondes, T u. M.: Raul Jauren, trad./arr. G. Feidmann / Pianissimo Musik GmbH 2012, LC 20164.

Quellen:

( 1 ) Maison d`Izieu: Dauerausstellung (Katalog der Gedenkstätte Izieu), Izieu 2016.

( 2 ) Beate und Serge Klarsfeld: Endstation Auschwitz – Die Deportation deutscher und österreichischer Kinder aus Frankreich – Ein Erinnerungsbuch, Böhlau Verlag Köln Weimar Wien 2008.

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