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Das Geistliche Wort | 07.04.2019 | 08:40 Uhr

Da wächst kein Gras drüber


Da wächst kein Gras drüber

Was tun mit Schuld, für die man nichts kann? Komische Frage vielleicht – aber das Phänomen gibt es: Ich fühle mich schuldig für etwas, was andere begangen haben. Ein Beispiel dafür hat mit unserer deutschen Geschichte zu tun mit Kindern von NS-Verbrechern. Und davon möchte ich erzählen.

Guten Morgen!

Musik I

Auf meinem Terminplaner als Beraterin in der Katholischen Ehe- Familien- und Lebensberatung steht der Name eines Mannes. Ich kenne ihn nicht und weiß und nicht, was mich erwartet.

Ich warte an der Tür der Beratungsstelle. Ein hochgewachsener Mann Ende 60, schlank, dynamisch durchtrainiert. Fester Händedruck. Ich spüre, der hat sich für Heute etwas vorgenommen.

Kein Smalltalk zu Beginn. Er kommt gleich zur Sache. Sein Vater war im Zweiten Weltkrieg bei der SS Lagerarzt und hat in verschiedenen Konzentrationslagern des Reiches gearbeitet. Der Vater entschied an der Rampe zwischen Leben und Tod: Er hat körpergeschwächte Menschen direkt zur Vergasung oder ins Arbeitslager geschickt.
Und: er war beteiligt an den medizinischen Menschenversuchen. Mir als Beraterin stockt der Atem. Ich gehöre zu der Generation, die lange nach den Naziverbrechen geboren wurde. Aber der Mann vor mir, mit seiner Geschichte, erzählt so, als sei es Hier und Jetzt geschehen.

Der Mann, der vor mir sitzt, dessen Name ich nicht nenne, hat eingewilligt, über seine Lebensgeschichte zu berichten, über die Gräuel an den Juden, Sinti, Roma und anderen Verfolgten der Nazis, und über sein Schicksal, Sohn eines Naziverbrechers zu sein. – Seine Lebensgeschichte erzähle ich aus der Perspektive der Beraterin, ich berichte über dieses eine Schicksal, das Teil eines millionenfachen Leids ist. – Der Sohn möchte erzählen, laut aussprechen, was ihn in seinen Gedanken seit Jahren quält, wie in einer Endlosschleife. Und … er möchte lernen, damit umzugehen, als Teil seines Lebens. Aber – so frage ich mich – Ist das möglich?

Musik II

Der Mann erzählt von seinem Schicksal, Sohn eines Naziverbrechers zu sein. Er ist kurz nach dem Krieg geboren, als Mittlerer von 3 Geschwistern. Sein Vater arbeitet immer noch als Arzt, und bleibt unerkannt.
Zu Hause herrscht ein strenges Regiment, Fehlverhalten wird zügig bestraft. Der Vater unnahbar, wenig körperliche Zuneigung und immer eine angespannte Stimmung. Die Vergangenheit ruht wie ein Schatten über der Familie.
Und die Kinder wissen nicht, was das für ein Schatten ist – Sie spüren, die Stimmung ist bedrückend.

Vater und Mutter, beide so unnahbar, nur durch Leistung gibt es Anerkennung, nie das Gefühl geliebt zu sein, einfach nur so, weil Kinder Kinder sind, die sich nach Liebe sehnen. Oft ist der Vater wütend, dann bekommt die Mutter die Schuld. Keine Erklärung für die Kinder. Es bleiben Fragen, aber niemand traut sich, diese laut zu stellen, Verdrängung eben. Gelebtes Schweigen in der Lautstärke der Wutausbrüche und dann dauernd diese Umzüge. Ja, die Familie ist auf der Flucht, auf der Flucht erkannt zu werden. Also weiter, woanders hin, neu beginnen als Mediziner, nur nicht auffallen, keine Ärgernisse erregen, geduckt leben, anpassen, keinen Besuch, keine Unterhaltung, die Familie bleibt unter sich, gefangen in der Vergangenheit, die nur die Eltern kennen.

Die Eltern wissen, dass viele Täter durch die Maschen geschlüpft sind. Diese scheinen es geschafft zu haben, gehören wieder ihren Familien und der Zivilgesellschaft an und machen weiter Karriere. Das wünschen sich die Eltern auch für sich, daher weiterleben, als wäre nichts, den Schein wahren, dann wird die Vergangenheit nicht die Gegenwart überrollen. Sie hoffen, unentdeckt zu bleiben. Aber es bleibt eine Lebenslüge.

Der Vater stirbt plötzlich, da ist der Sohn erst 20. Noch immer ahnungslos. Ja klar, Vati war im Krieg, wie fast alle Väter. Er wusste von Panzerschlachten, von Konzentrationslagern hatte nie jemand erzählt. Nur einmal, da war sein Vater betrunken, und rief: „Diese ganzen Toten“ mehr nicht, sonst nur eisiges Schweigen.

Eine erste Ahnung stellt sich durch den Rentenbescheid ein: Alle Väter, die im Krieg waren bekamen für die Kriegsjahre ihre Rente.
Warum er nicht.? Inzwischen besucht der Sohn die Uni. Da läuft das Verfahren gegen den Vater an, von dem der Sohn allerdings erst viel später erfährt. Auch wenn getuschelt wird, wenn Worte fallen, wie - Konzentrationslager, Naziverbrecher - dann leise, hinter seinem Rücken. Ach nein, er hat sich sicher verhört, die sprechen über jemand anderen. Ach. Einfach den Kopf wegdrehen, nix hören, nicht reagieren, einfach weiterleben. So wie während der ganzen Kindheit – bloß nicht auffallen. Das kann ja auch nicht sein, sein Vater ein Mörder im KZ.

Musik III

Jahre später: Der Sohn will es endlich wissen, die ganze Wahrheit.
Er hat seinen Mut zusammengenommen und hat sich in Ludwigsburg, der Zentralstelle für die Aufarbeitung der NS Verbrechen angemeldet. Er darf kommen. Ein Aktenberg – nur über seinen Vater. Zwei Tage nimmt er sich Zeit und gräbt sich durch die Tötungsakten seines Vaters. Die Information ist eindeutig: Rampe – Gas – Experimente an Menschen – sogar eigenhändige Tötung von Menschen. Mit der gebotenen Gründlichkeit hat der Vater die Rampe „gesäubert“. Er ist einer der Männer, die im größten Labor der Geschichte gearbeitet haben, in dem menschliches Leben keinen Wert hatte – außer Experimenten zu dienen. Und – er hat seine Pflicht getan! – so einfach ist das, scheinbar! Der Sohn sucht weiter, immer mehr Recherche, immer mehr Fakten. Er will wissen, was sein Vater für ein Mensch war, aber er findet nur den Mörder. Immer wieder betont er: Das Wissen erlöst mich nicht, das Wissen steigert die Unerträglichkeit, es ist Selbstquälerei. In den Akten, den historischen Zeitzeugenberichten gibt es kein Anzeichen von Menschlichkeit. Und dann die Frage: Wie leben als Sohn eines Massenmörders?

Musik IV

Er hadert und klagt den Vater an: Ich verfluche dich!
Du hast mich betrogen und mir einen Teil meiner Geschichte vorenthalten! Wolltest du uns etwa schützen mit deinem Schweigen? Schweigen drückt doch Misstrauen aus, weil das Vertrauen nicht groß genug ist, die Wahrheit zu sagen – so unangenehm sie auch sein mag. War ich nicht vertrauenswürdig? Meinst du, wir wären als Familie zerbrochen? Aber waren wir je miteinander vereint. Dieses Geheimnis hat uns alle doch sprachlos gemacht, nur, wir konnten dieses Schweigen nicht erklären! Jetzt kann ich es. – Ich weiß, wie du im weißen Kittel aussahst, ich habe dich als Kind jeden Tag damit gesehen. Hattest du im KZ auch einen Kittel an, genau so weiß – wie die Unschuld? Und immer wieder quält mich der Gedanke: Darf ich mich als Sohn eines Naziverbrechers überhaupt an Gutes, Frohes mit dir erinnern? Darf ich dir noch zugetan bleiben? Manchmal blitzen Erinnerungen auf: Wir spielen mit dem Holzauto, das ich zu Weihnachten bekam, du lachtest über meine Fahrkünste. Einmal hast du mich mit leichter Hand in die Luft geworfen. Du hast mich aufgefangen und wir haben beide gelacht. Das bist du auch, ein Vati, der für kurze Augenblicke unbekümmert ist. Ich wünsche mir, dass diese Erinnerungen bleiben dürfen, dass der Schatten des Verbrechens sie nicht tilgt. Ich habe solche Sehnsucht nach Erinnerungen an einen zugwandten Vater. Es ist, als ob ich mich damit retten will, doch einen Vater zu haben, der auch gut war.

Ich frage mich immer wieder, hattest du eigentlich keine Schuldgefühle, keine Reue, keine Scham? Sind dir nie Bedenken gekommen? Wenn ich nur wüsste, nur wüsste, dass du unter deinem Tun gelitten hättest, dass du nachts geweint hättest vor Verzweiflung, dann könnte ich dich besser in Erinnerung halten. Ich verachte dein Schweigen, dieses Schweigen ist eine erneute Verachtung der Opfer. Sie werden nochmals getötet – indem Du sie ausblendest, vergisst und verdrängst! Die Opfer haben ein Recht darauf genannt zu werden! Gib doch zu, was du getan hast, das kann ich besser aushalten als dein klägliches Schweigen, was mich und unsere Familie kaputtgemacht hat.

Ich habe mich oft gefragt, ob ich eigentlich viel anders bin als du. Trage ich viel von dir in mir? Hätte ich das auch tun können, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre?
Ja echt ich frag mich das. – Ich weiß es nicht! Und das meine Antwort nicht eindeutig ausfällt, das macht mich noch wirrer. Die Antwort lautet nicht: Nein, ich hätte es auf keinen Fall getan. Die Antwort ist Zögern und dieses Zögern ist es, das mich hindert, dich vollends zu verfluchen. Denn, wenn ich wie du auch zum Massenmörder geworden wäre, müsste auch ich mich und mein ganzes Leben verfluchen.

Und: Du bleibst mein Vater. Ich kann mich nicht lossagen von dir. Wie sähe Lossagen eigentlich aus? Da bliebe doch nur das Vergessen, die Leugnung meiner Herkunft, das Begraben meines Wissens und meiner Geschichte mit dir. Und das geht nicht. Und auch der Versuch, weiter mit leichter Hand darüber wegzugehen, wäre unanständig. Ich muss mich meiner Geschichte stellen, so wie du hättest dich deiner stellen müssen.

Ich bedaure oft, dass die erhobene Anklage nie zu einem Prozess geführt hat. Du starbst vorher, diesen Tod kann ich dir nicht zum Vorwurf machen, aber ich hätte Prozess und Verurteilung gewollt. Dann hättest du deine Strafe erhalten und gebüßt und es wäre alles öffentlich. So habe ich das Gefühl, du bist selbst davor geflohen und ich bleibe zurück mit der Last der Vergangenheit, dem Erbe unbeschreiblichen Leids, das unzähligen unschuldigen Menschen zugefügt wurde.

Musik V

Das Geschehene lässt sich nicht ungeschehen machen. Es bleibt das millionenfache Narbengewebe von Schuld, Leid, Trauer – bei den Opfern, deren Hinterbliebenen, wie auch bei dem Sohn, der vor mir sitzt. Das Sprechen hat ihn erleichtert, aussprechen dürfen, fühlen, dass das Wort beim Gegenüber angekommen ist. Es geht um Erlöst werden von dem Gefühl der Mitverantwortung für die Taten des Vaters. Dieser Weg der Befreiung von der Mitverantwortung geht über das Wissen.

Das mörderische Tun des Vaters zu kennen und zu benennen, kein Geheimnis daraus zu machen. Zu wissen: Er, der Sohn, hat keinen Anteil an den Taten seines Vaters. Der Vater hat seine Entscheidungen für sein Leben eigenverantwortlich getroffen. Und der Sohn trifft die Entscheidungen seines Lebens.

Kinder können die Vergehen der Eltern nicht ausgleichen. Die Frage der Kinder, ob sie ähnliche Taten wie ihre Eltern ausüben könnten, ist die falsche Perspektive. Sie hält uns ab, im Hier und Jetzt aufrecht und mit wachem Auge zu leben. Die alleinige Orientierung in die Vergangenheit trübt den Blick für die Herausforderungen gegen Unrecht und Gewalt heute. Heute nehme ich wahr, wo Menschen erniedrigt und missbraucht werden, wo Meinungsmache im Netz tobt und Menschen wegen Herkunft, Hautfarbe und Sprache verachtet werden. Und erhebe ich meine Stimme dagegen? Es bleibt der Aufruf: Schweigen drückt Misstrauen aus! Ob in der Familie, oder auf der politischen Bühne. Wir müssen reden! Seid mutig und brecht das Schweigen, vertraut euch an! Das ist der erste Schritt zur Veränderung!

Es grüßt Sie aus Essen Barbara Mikus-Boddenberg

Musik VI

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