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Das Geistliche Wort | 02.06.2019 | 08:40 Uhr
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Verleih uns Frieden
Musik 1: Verleih uns Frieden gnädiglich, instrumental, Einzelproduktion, Komponist: Matthias Nagel, Texter: Martin Luther, Einzelproduktion, Interpreten: Rebecca Weissink (voc), Martina Linnemann (fl), Marius Maschmeyer (bs), Matthias Nagel (piano), Verlag: Stephan Zebe Musikverlag Berlin
Autor: In der Dämmerung, abends wenn es langsam dunkel wird, leuchten sie. Erst ein paar wenige, dann immer mehr. Es sind Steine in bunten Farben, eingelassen in den Boden. Rund herum ganz normale Pflastersteine – und zwischendrin die kleinen leuchtenden Quader. Jeden Abend kann man das Schauspiel bewundern. Dann wirkt es so, als wären es Schritte, eine Art Bewegung aus der großen Kirchentür hinaus auf den Platz vor der Kirche und dann weiter auf die Straße.
Mich
fasziniert diese Installation an der Nikolaikirche in Leipzig. Sie erinnert an
die Friedensgebete von 1989. Jeden Montagabend haben sich hier Männer und
Frauen versammelt bei Kerzen und Gebeten. Vor genau dreißig Jahren ist in der
ehemaligen DDR eine ganze Bewegung herangewachsen. Am Ende hat sie ein Regime
zum Einsturz gebracht – friedlich. Die Evangelische Kirche hat damals Raum
geboten für all die Gruppen, die nach Demokratie und Freiheit suchten, sie hat Raum
geboten für Diskussion und Auseinandersetzung, auch für die Gefühle: Angst und
Mut.
Die Friedensgebete haben viele in einer ganz bestimmten Haltung gestärkt: gegen
Gewalt und für einen friedlichen Wandel. Und dann ging es hinaus mit Kerzen und
Gebeten auf die Straßen von Leipzig. Die leuchtenden Steine, eingelassen ins
Straßenpflaster vor der Nikolaikirche, zeigen diese Bewegung bis heute. Und wer
weiß, vielleicht wurde damals bei den Friedensgebeten auch gelegentlich dieser
Choral von Martin Luther gesungen.
Musik 2: Verleih uns Frieden gnädiglich / Herr Gott zu unseren Zeiten / es ist ja doch kein anderer nicht / der für uns könnte streiten / denn du unser Gott alleine
Track 11 Verleih uns Frieden gnädiglich, CD: Verleih uns Frieden gnädiglich, Interpret: Studiochor des Evangeliums-Rundfunks, Leitung: Gerhard Schnitter, Komponist: Martin Luther, Texter: Martin Luther, Verlag: Schulte und Gerth, LC-Nr.:6160, Label: SG, Best.Nr.: 938919, EAN: unbekannt
Autor: Verleih uns Frieden. Eine eindringliche Bitte. Als vor dreißig Jahren in Leipzig und in anderen Städten so viele auf die Straße gegangen sind, ist die Angst mitgegangen, ist das Risiko mitgegangen. Denn alle wussten: Revolution und Frieden, das können wir versuchen, aber wir können das nicht machen. Das liegt nicht allein in unserer Hand. Matthias Müller war vor dreißig Jahren Mitglied der Jungen Gemeinde. Heute ist er Küster an St. Nikolai in Leipzig. Er erinnert sich noch gut an die Gottesdienste und Friedensgebete mit Pfarrer Christian Führer.
O-Ton 1 (Müller): Am 8. Oktober war sonntags Gottesdienst. Und Christian Führer erzählte dann, dass dort auch Ärzte mit drunter waren, die also gesagt haben: Wir müssen uns auf Schusswunden vorbereiten, die Betten sind bereitgestellt. Und wir sind aus der Nikolaikirche raus und sind zum Augustusplatz, damals hieß der Karl-Marx-Platz, und da waren Polizisten, und wir sind auf die zu, ... und sind ein Stück zurückgegangen, so fünf, sechs Meter, ... und haben uns hingehockt und gerufen: „Keine Gewalt! Kein neues China!“
Autor: Polizei und Staatssicherheit waren auf vieles vorbereitet, so hieß es später, aber nicht auf Kerzen und Gebete. Am 9. Oktober 1989 kommt es zur bis dahin größten, zur entscheidenden Demonstration in Leipzig.
O-Ton 2 (Müller): Wir sind dann um den Leipziger Ring gekommen, an der runden Ecke, der Stasizentrale vorbei, ohne dass ein Schuss fiel. Wir haben einfach unsere Kerzen dort abgestellt. Wir waren einfach nur erleichtert und wir waren uns auch bewusst: Das können sie nicht mehr zurückdrehen. „Wir sind das Volk“ und „keine Gewalt“, das ist an diesem Abend Wirklichkeit geworden. (1)
Autor: So Matthias Müller in einer Dokumentation des Mitteldeutschen Rundfunks. Tatsächlich wird die Nikolaikirche in Leipzig so zu einem Symbol für die friedliche Revolution von 1989. Viele deuten es so: Die Bitte „Verleih uns Frieden“ ist damals gehört worden.
Musik 1 (Nagel): Verleih uns Frieden gnädiglich / Herr Gott zu unseren Zeiten / es ist ja doch kein anderer nicht / der für uns könnte streiten / denn du unser Gott alleine / denn du unser Gott alleine / Halleluja. Kyrie eleison / Herr Gott, erbarme dich / Halleluja, Kyrie eleison / Herr Gott erbarme dich
Autor:
Wie ist das mit dem Frieden, heute, dreißig Jahre danach? Die Welt hat sich
verändert. In den Nachrichten immer wieder Meldungen von islamistischem Terror
oder rechtradikaler Gewalt. In den sozialen Netzwerken Hass und Hetze. Die
Militärausgaben steigen wieder auf neue Rekordhöhen, berichtet das
Friedensforschungsinstitut SIPRI.
Nach den Großen wie den USA, China und Saudi-Arabien belegt Deutschland Platz
8.
Martin Luthers Bitte um den Frieden, gedichtet vor fast fünfhundert Jahren, scheint nichts von ihrer Aktualität zu verlieren. Der Choral gehört bis heute zu den Klassikern im Evangelischen Gottesdienst. Matthias Nagel, Kirchenmusiker und Popkantor in der Evangelischen Kirche von Westfalen, hat die alten Worte vor einiger Zeit mit einer neuen Melodie versehen. Die Zeilen von Martin Luther sind dabei fast wörtlich erhalten geblieben.
O-Ton 3 (Nagel): „Verleih uns Frieden“ ist schon ein steiler Satz. Ich denke, den können wir heute mehr denn je gebrauchen. Der hatte sich bei mir einfach festgesetzt dieser Satz, und dann habe ich eben die Melodie danach geschrieben. Für mich ist die Grundaussage, dass der Friede nur von Gott und gefühlt von oben…. kommen kann.
Musik 3: Verleih uns Frieden gnädiglich / Herr Gott zu unseren Zeiten / es ist ja doch kein anderer nicht / der für uns könnte streiten
Musik 3 : Verleih uns Frieden gnädiglich (Solo-Gesang), Komponist: Matthias Nagel, Texter: Martin Luther, Interpretin: Rebecca Weissink
Autor: Die Sehnsucht nach Frieden setzt Matthias Nagel musikalisch als Baladenmelodie um. In drei Wochen, wenn auf dem Deutschen Evangelische Kirchentag in Dortmund wieder Tausende zusammenkommen, in Kirchen und vor den großen Open-Air-Bühnen, dann leuchten bei diesem Lied schon mal die Feuerzeuge auf – wie auf einem Rock- oder Popkonzert. Der Pop-Kantor Matthias Nagel spielt ganz bewusst mit diesem Genre.
O-Ton 4 (Nagel): Das heißt im Popbereich, dass es ein relativ langsames Tempo ist, ich mach das mal so ein bisschen vor: …. keine große kunstvolle Musik, auf dem Klavier spielt man mit der rechten Hand eigentlich durchgehend Viertel, und links einen so etwas punktierten Bass. Aber diese Ruhe und diese Ebenmäßigkeit der Pop- oder Rockballade hat wirklich eine suggestive Wirkung.
Autor: Wenn es um Frieden geht, ist das womöglich hilfreich: Eine suggestive Wirkung. Freilich, es bleibt nicht bei der poppigen, eingängigen Melodie. Es folgen auch sperrige, schräge Töne.
O-Ton 5 (Nagel): Wenn wir es wirklich ernstnehmen, was Gott uns anbietet, nämlich den Frieden, dann kann man das nicht mal gerade so im Vorbeigehen mitnehmen, so wie im Kaufhaus ich vielleicht mal was kaufe, was ich gar nicht haben wollte, dann muss ich mir ernsthaft Gedanken machen, was Gott uns da anbietet. Und deshalb kriegt das Lied da eine Einfärbung in den Moll-Bereich.
Musik 3: denn du unser Gott alleine / denn du unser Gott alleine
Autor: Verstehe. Wahrscheinlich braucht es zum Frieden beides. Das, was Menschen tun können, und etwas, das von außen dazukommt. Gottvertrauen. Der Kirchenmusiker Matthias Nagel hat mit diesen Fragen gerungen: Was bietet Gott uns an? Und wie gehen wir Menschen damit um?
O-Ton 6 (Nagel): Frieden und Gerechtigkeit, ich denke, wir haben als Menschen, wenn wir den freien Willen in Anspruch nehmen – spätestens seit der Aufklärung – also Vernunft und freien Willen, wenn wir das wirklich in Anspruch nehmen wollen und ernst nehmen, dann hat Gott uns angeboten: Liebe Menschen, ihr könnt für die Dauer eurer Lebenszeit in Frieden miteinander leben. Das ist ein einfaches und starkes Angebot. Und wir scheinen es nicht zu verstehen.
Autor: Jedenfalls nicht immer und überall. Ich glaube ja, Gottes Angebot ist so stark, weil es gewaltsame Stärke ablehnt. Menschlich kam Gott zu uns Menschen, nicht gewaltig und allmächtig. In dem Menschen Jesus begegnet er anderen, die von der Mehrheit damals abgelehnt werden. In seiner Nähe sind Bettler, Kranke, Fremde, arme Kleinbauern und Fischer, auch Männer und Frauen, die sich in Schuld verstrickt haben, die Ehebrecherin, der korrupte Steuereintreiber. Jesus von Nazareth hinterfragt, was üblich ist. Er legt sich an mit den religiösen und politischen Eliten. Seine Botschaft ist eine frohe Botschaft für die Armen. Dadurch macht er sich Feinde. Doch wann immer sie ihm nach dem Leben trachten, bis ganz zuletzt, zieht er keinen Schutzpanzer an und richtet keine Waffe gegen die, die ihn angreifen. Keine Gewalt, sondern zuhören, mitgehen, beten für die, die ihn verfolgen, das bleibt sein Weg. Das ist radikal. Vielen fällt das schwer. Mir auch. Wenn ich angegriffen werde, ist mein erster Impuls, mich zu verteidigen und zu wehren. Manchmal muss das auch sein. Aber das Recht des Stärkeren als Prinzip, das soll nicht sein. Auf Waffen und Gewalt setzen – ich wüsste nicht, wann und wo sich das jemals bewährt haben sollte. Gottes Frieden annehmen, heißt wohl, Konflikte anders zu lösen und auf Gewalt zu verzichten.
O-Ton 7 (Nagel): Und auch was hinter sich lassen. Das hat ja Luther quasi auch gesagt. „Es ist doch ja kein andrer nicht.“ Diese schöne doppelte Verneinung und dieses „doch ja“, das ist schon eine echte Bestätigung, das ist eine steile Aussage auch „es ist ja doch kein anderer nicht“, also versuch mal anders Frieden zu erreichen. Das schaffst du sowieso nicht, außer wenn du den göttlichen Frieden annimmst, der dir angeboten wird.
Autor: Oder wir Menschen
schaffen es eben nur manchmal, in besonderen Momenten.
So wie 1989 in Leipzig und in anderen Städten in der ehemaligen DDR, als die
friedliche Revolution sich ihren Weg gebahnt hat mit Kerzen und Gebeten. Mit
der suggestiven Kraft des Friedens.
Musik 1 (Nagel): Verleih uns Frieden gnädiglich, instrumental
Autor: Manche sagen, das mit
dem Frieden sei am Ende doch nicht ganz aufgegangen.
Ja, damals, 1989, fiel kein einziger Schuss. Eine Diktatur dankte ab, Menschen
hatten plötzlich keine Angst mehr, und bald gab es die Uniformen und Abzeichen
der Macht für ein paar Mark auf dem Flohmarkt. Doch dann musste der neu
gewonnene Friede gestaltet werden. Mit allem, was dazugehört: Arbeit, Wohnung,
Rente. Dreißig Jahre danach scheinen die Wunden der Wiedervereinigung bei
manchen immernoch nicht richtig verheilt zu sein. Der Friede, besonders der
innere Friede einer Gesellschaft, bleibt offenbar eine Aufgabe.
Neben all den Rückblicken auf die großen Demonstrationen hat mich in den letzten Jahren ein ganz kleines Projekt beeindruckt. Das ist die Geschichte von Kathrin Ollroge. (2) Vier Jahre lang ist die Potsdamer Künstlerin durch die fünf ostdeutschen Bundesländer gereist. Auf den Marktplätzen hat sie immer zwei Sessel und einen Holztisch aufgebaut und die Menschen, die vorbeikamen, zum Gespräch eingeladen. Kaffee und Kuchen gab’s dazu – und sie hat sich dann Notizen gemacht. „Hauptsache zuhören“ heißt ihr Projekt. Sie wollte die persönlichen Geschichten der Menschen erfragen. Viele fühlen sich bis heute als Opfer der Wiedervereinigung. Kathrin Ollroge hat Wut und Ärger ausgehalten. Sie hat von Träumen gehört, die sich nicht erfüllt haben, und von Menschen, die bis heute das Gefühl haben, nicht dazu zu gehören. Kathrin Ollroge hat dabei nie verteidigt, was war und was ist. Sie hat weiter zugehört und ließ andere Standpunkte gelten. Viele hundert Gespräche hat sie geführt und am Ende für diesen Einsatz das Bundesverdienstkreuz erhalten. Sie will weitermachen. Wer weiß, vielleicht hat ihr Projekt manche Wunden geheilt und bei einzelnen so etwas wie Frieden bewirkt.
Einen gesegneten Sonntag und eine friedvolle Woche wünscht Ihnen Titus Reinmuth, Rundfunkpfarrer aus Wassenberg.
Musik 4: Track Redemtion Day, Single: Redemtion Day, Komponist u. Texter: Shery Crow, Interpret: Sheryl Crow & Johnny Cash, Label: The Valory Music Co. EAN: unbekannt
Länge Musikschnippsel: 2:16
Gesamtlänge des Beitrags: 15:30
(1) 850 Jahre Nikolaikirche Leipzig, MDR-Fernsehen 2015; https://www.youtube.com/watch?v=zd8TFAyChsI
(2) https://www.maz-online.de/Nachrichten/Politik/Tag-der-Einheit-Kuenstlerin-Kathrin-Ollroge-spricht-gegen-die-neue-Sprachlosigkeit-an