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Das Geistliche Wort | 05.01.2020 | 08:40 Uhr

Augenblicke




Ach, könnt‘ ich es mir doch noch ein bisschen bewahren, dieses besondere Gefühl der ersten Januartage! Ein frisches neues Jahr, ein neuer Kalender, ja es fühlt sich gut an, so viel Zeit vor sich zu haben.

Guten Morgen am ersten Sonntag im neuen Jahr 2020!

Naja, ganz neu ist es schon gar nicht mehr! Ich hab’s mal ausgerechnet: Vier ganze Tage plus die 8 Stunden von heute, das sind schon 5760 Minuten; dazu die 40 Minuten seit heute Morgen um 8, ergibt 5800, mal 60, da sind wir schon bei 376.800 Sekunden plus exakt 29, macht summa summarum 376.829 Sekunden. Die muss man schon abziehen vom neuen Jahr. Jedenfalls, wenn man so rechnet wie die Agenten der Zeitsparkasse aus Michael Endes Roman „Momo“. 1974 bekam der Roman den Deutschen Jugendbuchpreis, und ich hab ihn damals gelesen. Aber je älter ich werde, desto mehr verstehe ich davon. Das Gefühl, wie die Zeit davonflitzt, das kenne ich nur zu gut. Manchmal treibt es mir den Blutdruck in die Höhe. Doch es gibt ein Gegenmittel. Eine Art Heilmittel gegen den Schwindel, mein Leben müsste sekundengenau getaktet und immer effizient sein. Die kleine Momo aus dem Roman von Michael Ende, weiß es: Sie lebt im Hier und Jetzt. Und darum hat sie alle Zeit der Welt. Wunderbar! Genau das, worüber ich nachdenken möchte an diesem ersten Sonntag im Januar.

Zeit sparen, um diese für etwas anderes zu gewinnen, das scheint logisch – jedenfalls in der märchenhaften Parabel auf die Zeit von Michael Ende mit dem Titel Momo.

Momos Freunde lassen sich darin von den schwindelerregenden Bilanzen der Zeitagenten beeindrucken. Aber als sie anfangen, zu sparen – hier eine Stunde, da ein paar Minuten – merken sie schon bald, dass sie eigentlich gar nichts gewinnen, sondern vor allem verlieren. So eintönig und grau wird es, weil am Ende nur noch rastloses Arbeiten übrigbleibt. Bis Momo kommt. Sie öffnet ihren Freunden die Augen für eine ganz andere Bilanz ihres Lebens. Einander zuwenden und den Augenblick genießen, Spiel und Muße, Lachen und Tanzen, das ist keine Verschwendung, kein Verplempern kostbarer Zeit. Ganz im Gegenteil: das alles macht das Leben wirklich reich!

Ja, das weiß ich eigentlich auch, und doch kommt es oft zu kurz. Vor allem, wenn viel zu tun ist. Vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich. Manchmal ist es nur so ein Hingucken, dann hat die Woche gerade begonnen und ruckzuck ist sie schon wieder vorüber. Gleichzeitig stelle ich am Ende der Woche aber auch fest, wieviel ich erlebt habe. Und genauso vergeht ein Jahr. Es verfliegt. Und wenn ich zurückschaue, entdecke ich doch, was
alles gewesen ist. Da tut es so gut, zwischen den Jahren ein paar Tage Ruhe zu haben, um innerlich hinterherzukommen. Ein bisschen herausgehoben aus dem Alltag.

Es reicht schon ein Wochenende. Zwei Tage jetzt im Winter am weiten Strand an der Nordsee, das ist so, als würde das Leben die Zeit aus einem anderen Vorrat schöpfen. Dann komme ich zurück und habe das Gefühl, ich wäre ewig weggewesen.

Zeit vergeht unterschiedlich schnell, je nachdem, was man gerade erlebt. Wenn es so ganz schön ist, dann möchte ich die Zeit anhalten. So könnte es jetzt bleiben, denke ich und weiß doch genau: Es bleibt nicht so. Ein anderes Mal scheint die Zeit von selber stillzustehen. Beim Tod eines Freundes ist mir das so gegangen. Seltsamerweise drehte sich die Welt weiter, auch die Zeiger der Uhr, nur ich kam mir vor wie stehengeblieben, irgendwie aus der Zeit gefallen.

Zeit scheint etwas ganz Subjektives zu sein. Und auch wieder nicht. Denn wir haben ja alle denselben Kalender und die Uhr schlägt für alle im selben Takt. Meister Secundus Minutius Hora, der geheimnisvolle Verwalter der Zeit im Klassiker von Michael Ende, erklärt der kleinen Momo:

Sprecher: „Es gibt Kalender und Uhren, um die Zeit zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“[1]

Was ist die Zeit? „Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen“, weiß Meister Hora im Roman Momo über die Geheimnisse der Zeit. Dazu gehört auch, dass wir sie einteilen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und wir Menschen können sogar in den Zeiten wandern, im Gestern, im Heute und im Morgen. Wenn ich heute mit dem Fahrrad unterwegs bin, dann sehe ich mich selbst als die kleine Bärbel oder besser gesagt: ich spüre wieder, wie es sich anfühlte, als ich damals mit 9 Jahren mein erstes Fahrrad geschenkt bekam. Eiskalt war’s am Weihnachtsmorgen und trotzdem konnte mich nichts davon abhalten, mit meinem neuen roten Fahrrad loszufahren. Das Glück spüre ich heute noch und fühle mich gerade beim Fahrradfahren quicklebendig. Und dann erschrecke ich fast, wenn ich in den Spiegel schaue. Denn da sehe ich deutlich die Spuren der inzwischen fast 60 Jahre meines Lebens. In meiner Vorstellung fühle ich mich jünger. Ob das wohl daran liegt, dass alles noch da ist in meinem Herzen, weil ich alle Lebensphasen noch in mir habe? Das kenne ich aus Gesprächen mit älteren Leuten. Wenn sie erzählen, bewegt mich das in meinem Berufsalltag als Gemeindereferentin. Da
wird erzählt von den vielen prägenden Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend, Frohes, aber auch das Leidvolle – Krieg und Entbehrungen – die lebhaften Erinnerungen an die erste Liebe, die Hochzeit, an die Jahre, als die Kinder klein waren. Und jetzt sind schon die Enkelkinder groß. Wo ist die Zeit geblieben? So fragen viele ältere Leute, staunend darüber, wie lange manches schon her und doch noch da ist. Ebenso bewegt es mich, wenn Kinder sich mit leuchtenden Augen ihre Zukunft ausmalen, sich selbst sehen als Astronaut oder Prima Ballerina. Kinder haben im eigenen Erleben so unvorstellbar viel Zeit vor sich, dass die Zeit noch kein Thema für sie ist. Zum Thema wird sie wohl erst dann, wenn ein Mensch anfängt, sich seine Lebenszeit wie eine Linie vorzustellen, auf der ein Punkt den Standort von heute zwischen Vergangenheit und Zukunft markiert, zwischen Geburt und Tod. Das stelle ich mir auch manchmal so vor und je älter ich werde, desto mehr wandert dieser Punkt ja Richtung Ende der Linie. Da kann es passieren, dass ich in Stress gerate und damit genau in den Strudel der Zeitagenten aus Michael Endes Roman. Denn dann messe ich mein Leben vor allem daran, wie die Jahre vergehen, wie viel kostbare Zeit mir permanent abgezogen wird von meinem Lebenszeitkonto. Und ich frage mich, wie viel mir wohl noch bleibt.

Bereits im 17. Jahrhundert schreibt Andreas Gryphius ein Gedicht mit dem Titel: „Betrachtung der Zeit“. Es scheint mir wie ein zeitlos gültiger Hinweis:

Sprecher: „Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen; mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen; der Augenblick ist mein, und nehm‘ ich den in Acht, so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.“[2]

Beim Nachdenken über die Zeit wird mir bewusst, dass unsere Lebenszeit sich nicht nur linear begreifen lässt. Also als eine Linie mit Anfang und Ende, messbar mit Kalendern und Uhren. Die lässt sich auch nicht in Begriffe fassen wie „schnell“ oder „langsam“, „kurz“ oder „lang“, sondern: Meine Zeit – so höre ich es im Gedicht von Andreas Gryphius und genauso im Roman von Michael Ende – ist geschenkte, unverfügbare Zeit. Mit ihr zu leben bedeutet, aus der verschwenderischen Fülle des Lebens zu schöpfen wie aus einem tiefen Brunnen. Gegenwärtig sein, achtsam für das Pulsieren des eigenen Herzens, das kann mein Leben endschleunigen, das kann mir sogar die Angst vor dem Ende meiner Zeit nehmen. Denn es lässt mich aufmerken zu dem, der Zeit und Ewigkeit in seinen Händen hält. Und der selbst ewige Gegenwart ist. Wach und aufmerksam wie Momo bekomme ich eine Ahnung davon wie unausschöpfbar reich der Brunnen ist, aus dessen Tiefe auch die Augenblicke meiner Lebenszeit aufsteigen.

Solche Augenblicke schenkt mir die Natur im Wandel der Jahreszeiten jeden Tag, ich staune über so viel Anmut und Schönheit. Jetzt im Winter das besondere Morgenrot, davor die Silhouette der kahlen Bäume, Raureif auf den Feldern, das erste Schneeglöckchen, so viele Glücksmomente zum Innehalten. Und dann gibt es die buchstäblichen Augen-Blicke: ein Lächeln von jemandem, den ich gar nicht kenne, das zaubert mir selbst ein Lächeln ins Gesicht. Ich liebe solche Momente, sie machen den Tag schön! Wenn ich so ganz gegenwärtig bin, dann kann es sogar passieren, dass ich mich wie aus der Zeit herausgehoben fühle. Da wird das Verrinnen der Zeit bedeutungslos. Frieden fühle ich dann, Eins sein mit mir und der Welt. Liebende wissen darum. Wenn sie sich an diesen Augenblick aus der Tiefe des Herzens erinnern, der ihr Leben für immer verwandelt hat, in dem Zeit und Raum sich aufzulösen schienen.

Unter einem weiten Sternenhimmel etwa oder in einem Augenblick tief empfundener Stille, da habe ich die Ahnung, dass erfüllte Augenblicke Geschenke aus der Ewigkeit sind. Und dass auch meine Lebenszeit geborgen ist in dem, „der Jahr und Ewigkeit gemacht“.

Gegenwärtig, im Einklang mit mir selbst und dem, der das Leben schenkt, verschwindet der Gedanke an Hetze und Rastlosigkeit, an das Sparen von Stunden und Minuten. Ganz gelassen kann ich sein. Jeden Augenblick genießen, den mein Herz mir zeigt. Ja, es fühlt sich wirklich gut an, so viel Zeit zu haben!

Sollten Sie eine Lektüre für einen gemütlichen Winternachmittag suchen, die Sie die Zeit vergessen lässt, dann empfehle ich Ihnen: Michael Endes „Momo“!

Aus Bielefeld verabschiedet sich

Bärbel Lödige


[1] Michael Ende, Momo, Thienemann, 16. Auflage, S. 57.

[2] Andreas Gryphius, Betrachtung der Zeit, in: Quint Buchholz, Vom Glück der Langsamkeit, S. 21

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