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Das Geistliche Wort | 29.12.2019 | 08:40 Uhr

DIESER BEITRAG ENTHÄLT MUSIK, DAHER FINDEN SIE HIER AUS RECHTLICHEN GRÜNDEN KEIN AUDIO.

Gott auf der Straße

Autorin: Die Stadt ist in diesen Tagen noch einmal voll. Wer zu Weihnachten einen Gutschein geschenkt bekommen hat, tauscht ihn jetzt ein. Und wem ein Geschenk so gar nicht gefällt, tauscht es jetzt um.

Ich bin auch in der Stadt unterwegs. Aber ich habe ich kein Geld dabei. Auch keine Scheckkarte und keinen Gutschein. Ich nehme auch keine Tasche mit. Nicht einmal mein Handy. Das mit dem Handy: Das fällt mir am schwersten.

Ab und zu mache ich das mal. Absichtlich. Für 1-2 Stunden. Manchmal länger. Ich will dann keinen Schaufensterbummel machen und nichts einkaufen. Ich will mich ziellos durch die Stadt treiben lassen. Ziellos. Aber mit offenen Augen.

Guten Morgen!

Ich bin keinesfalls ein asketischer Mensch: Ich kaufe gerne ein. Klamotten und Bücher vor allem. Und kleine Geschenke für meine Lieben. Aber ab und zu gönne ich mir einen anderen Blick. Nicht so fokussiert wie sonst, wenn ich shoppen gehe und nur Schuhe sehe und Größen und Preise. Nein, ich lasse meine Augen frei: Sie dürfen umherschweifen und neugierig sein. Und etwas entdecken, von dem ich eben noch nicht wusste, dass es mich interessieren würde. Im Grunde gehe ich nicht in die Stadt und auf die Stadt zu, sondern ich lasse die Stadt auf mich zukommen. Bei allem treibt mich ein Jesuswort um: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, hat er gesagt. Ich nehme das wörtlich: Gott ist Straße. Hier unterwegs in der Stadt ist er zu finden. Hier ist heiliger Boden. Meine Gänge durch die Stadt sind eine spirituelle Übung.

Musik 1: “Walk into the morning”

Autorin: Beim letzten Streifzug durch die Stadt ist mir ein Baum aufgefallen, der am Rande der Straße steht. Ich habe ihn vorher nicht bewusst wahrgenommen. Liebende haben ihre Initialen in die Rinde geritzt. Ob sie noch zusammen sind, habe ich mich gefragt? Und dann kurz gebetet: „Gott, ich bitte dich für L. und K., wo auch immer sie sind.“

Ein anderes Mal habe ich ein Kind gesehen, das in der Fußgängerzone herumhüpfte. Während alle anderen ein Ziel zu haben schienen, sprang es mal auf dem linken, dann auf dem rechten Bein einfach so im Kreis herum. Und immer wieder rief es zu seiner Mutter rüber, die ihm entspannt von einer Bank zuschaute: „Guck mal, Mama! Guck mal, was ich kann!“ Es war voller Glück über sich selbst. Wundervoll! Wann war ich das das letzte Mal?

Die Idee mit den spirituellen Übungen auf der Straße ist nicht von mir. Christian Herwartz, ein Jesuitenpater aus Berlin, hat sie erfunden. Vielleicht wäre es auch hier treffender zu sagen: Sie haben ihn gefunden. Er nennt sie „Exerzitien“, genauso wie Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, die geistlichen Übungen genannt hat. Und weil sie auf der Straße stattfinden, hat sich der Begriff „Straßenexerzitien“ eingebürgert.[i]

Musik 2: “A kiss in the rain”

Die Straßenexerzitien haben keine missionarische Absicht. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die Menschen, die auf die Straße gehen, etwas zu geben hätten, was die anderen nicht haben. Sie bringen nicht Gott an den Mann oder an die Frau. Sie glauben, Gott ist schon da und begegnet uns. Auf der Straße, wo dem Neuen Testament zufolge die meisten Begegnungen mit Jesus stattgefunden haben. Mitten im Leben. Die Jesuiten nennen das „Gott in allen Dingen finden“.

Wenn ich an den Straßenexerzitien teilnehme, gehe ich also nicht los, um Mitmenschen zu bekehren. Ich halte mich offen, selbst bekehrt zu werden.

Eine Begleiterin von Straßenexerzitien erzählt:

Sprecherin: Wenn ich auf die Straße gehe, lasse ich die Kontrolle weg, mit der ich bestimme, wer mir begegnen kann und wer nicht. Ich gehe in die Offenheit der Begegnung und lasse mich in diese Offenheit frei, soweit ich es vermag, begegne Überraschendem und schaue, ob dieses „Ungeborgene“ mein Herz entzündet und (…) mir Geborgenheit und Gottes Anwesenheit zeigen will. Ich stimme dem offenen Ausgang des Tages zu, gehe aus dem Gewohnten hinaus, sage ja dazu, dem Fremden, dem Unbekannten entgegenzugehen, will erproben, was geschieht und schauen, was sich in mir ereignet. Ich (…) will Gottes „Ich bin wie du“ entdecken: in den Menschen,, an den Orten, in den Begegnungen, die sich mir eröffnen.[ii]

Musik 3: “Streets of London”

Autorin: Die Exerzitien auf der Straße sind beseelt von biblischen Texten. Einer ist die Geschichte von Mose und dem brennenden Dornbusch.[iii] Als die Geschichte Fahrt aufnimmt, hat Mose schon ein bewegtes Leben hinter sich. Zu diesem Zeitpunkt will er nichts anderes, als mit seiner Familie ein ruhiges Privatleben zu führen. Aber warum auch immer: Eines Tages treibt er die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters weit über den Rand der Steppe hinaus - vielleicht hat er doch noch einen Rest Sehnsucht in sich, auch wenn er sie nicht beim Namen nennen kann. Da sieht er plötzlich einen Dornbusch, der brennt, aber nicht verbrennt. Mose wird aufmerksam. Er nähert sich dem Dornbusch – neugierig, voller Interesse. Da ruft ihm Gott aus dem Dornbusch zu: „Mose, Mose!“ Und er befiehlt ihm, die Schuhe auszuziehen: „Denn der Boden, auf dem du stehst“, sagt Gott, „ist heiliges Land.“ Mose hört ehrfürchtig zu, was Gott ihm zu sagen hat. Und dann tritt er in ein Gespräch mit Gott ein. Es verändert sein Leben.

Bei den Straßenexerzitien klingt diese Erfahrung so:

Sprecherin: „Die Straßenexerzitien faszinieren mich, weil sie mich unspektakulär und direkt einladen, mit mir selbst in Beziehung zu treten. Das gelingt einfach, indem ich auf der Straße gehe, anderen Menschen zweckfrei begegne (…). Ich spüre meine Sehnsüchte. Ich erkenne meine Schattenseiten, meine Stärken und Fähigkeiten, meine Traurigkeiten, meine Leere, meine Fragen und Verwirrtheiten. Ich werde konfrontiert und reich beschenkt. (…) Während der Straßenexerzitien werden mir auch die üblichen Grenzen zwischen Menschen unterschiedlichster Art unbedeutend. Sowohl in der Gruppe als auch bei den Begegnungen auf der Straße werden wir immer nackter und damit berührbarer.[iv]

Musik3: “Streets of London

Autorin: Mose geht über das hinaus, was er kennt. Er verlässt seine Komfortzone, den Bereich, in dem er die Kontrolle hat und der ihm Sicherheit bietet. Darum geht es auch bei den geistlichen Übungen auf der Straße.

Vielleicht gehe ich in einen anderen Stadtteil, der nicht so chic und aufgeräumt ist und den ich bisher immer gemieden habe. Oder zu einem Krankenhaus, wo mich traurige Erinnerungen einholen. Ich könnte auch am Gefängnistor meine eigenen Aggressionen meditieren. Das hat alles nichts Romantisches. Ich nehme ja mein Unwohlsein ernst. Ich laufe nur nicht sofort weg. Und ich verzichte darauf, wie sonst alles sofort aus meiner gewohnten Warte zu bewerten. Ich stelle meine Vorurteile zur Seite. Jedenfalls versuche ich das. Das heißt für mich: die Schuhe auszuziehen.

Christian Herwartz sagt in einem Interview:

Sprecher:
„Die anderen sind ja nicht anders als ich. Wenn ich auf die Straße gehe - das ist so ein Grundmuster in den Exerzitien - geht es nicht darum, irgendwie besser oder helfend oder sonstwas zu sein, sondern zu merken, das sind Geschwister, dass sie auch nicht anders sind als ich. Und dass ich auch manchmal abseits stehe vielleicht."

Musik 4: „ Somewhere down the road“

Autorin: Ich mache meine geistlichen Übungen mittlerweile oft allein.

Die Exerzitien auf der Straße finden aber eigentlich mit einer Gruppe statt, und sie werden von Menschen begleitet, die mit geistlichen Übungen vertraut sind. Die Formate sind variabel: Man kann sich zu Straßenexerzitien anmelden, die 10 Tage dauern oder auch zu solchen, die nach gut 2 Stunden vorbei sind.

In der Gruppe passiert die Einführung in die Haltung der spirituellen Suche. Hier lesen wir einen biblischen Text, der uns begleitet. Und manchmal bekommen wir eine Anregung mit.

Ich lade Christian Herwartz ein, eine Gruppe von Theologiestudierenden für einen Nachmittag zu begleiten. Zu Beginn fragen sie ihn: „Wie können wir denn mit fremden Menschen auf der Straße in Kontakt kommen?“ Und Christian Herwartz sagt: „Ich empfehle euch zu fragen: Können Sie mir sagen, wo Gott ist?“ Wir finden diese Empfehlung ziemlich abgefahren: Wird uns überhaupt jemand darauf eine Antwort geben?

Wir ziehen einzeln los. Ich lande ganz intuitiv an einem Platz am Rand der Stadt. Die Parkbänke sind von Menschen belegt, die alle eine Bierflasche dabeihatten. Ich frage zwei von ihnen, ob ich mich dazu setzen könnte. Der eine Mann beklagt sich gleich, wie vermüllt dieser Platz ist. Da, wo er sitze, passe er immer auf, dass nichts herumliegt. Das hat mich erstaunt.

Dann nehme ich Anlauf: „Ich würde Ihnen gerne noch eine Frage stellen. Ich hoffe, ich trete Ihnen damit nicht zu nahe. Ist vielleicht ein bisschen verrückt, die Frage. Aber es interessiert mich wirklich, was Sie dazu sagen. Also: Können Sie mir sagen, wo Gott ist?“ Da lacht mein Gegenüber laut auf: „Na ja, überall. Hier, bei mir. Was denkst Du denn, wer mir jeden Morgen in den Hintern tritt, damit ich überhaupt aufstehe? Ohne Gott wäre ich doch schon nicht mehr da.“

Am Abend kommt die Gruppe wieder zusammen: Wir essen gemeinsam zu Abend, und dann tauschen wir darüber aus, was wir unterwegs erlebt haben. Denn oft wird erst deutlich, wie wichtig das war, was mir unterwegs passiert ist, wenn ich es anderen erzähle. Sie helfen mir es zu deuten. Eine Studentin erzählt, was sie auf ihrem Gang durch die Stadt erlebt hat:

Sprecherin: Ich habe mich zu einem Mann gehockt. Der saß da auf der Straße und bettelte. Hinter ihm stand seine Gitarre. Ich hab' ihn gefragt, ob er mir was vorspielen kann. Und dann hat er mir sein Beatles-Liederbuch gezeigt. Ganz stolz. Das war sein, sein größter Schatz, glaube ich. Und ich mag ja auch die Beatles. Und dann haben wir darüber gequatscht. Wir hatten einen solchen Spaß zusammen. Da war eine ungeahnte Schönheit mitten auf der Straße. Die habe ich echt nicht erwartet. Vielleicht war da ein Stück Gott, kann sein.“

Autorin: Eine andere Studentin sagt, dass es ihr schwergefallen sei, ihre Bewertungen abzulegen. Das verstehe ich gut. Ich finde das auch schwer. Einer aus unserer Gruppe hat sich allerdings den ganzen Nachmittag geärgert:

Sprecher: „Boah. Den ganzen Tag einfach so durch die Gegend zu laufen. Das ist doch Quatsch! Da gehe ich besser zur Tafel und tue was Vernünftiges.“

Autorin: Ich verstehe, dass es keinen Automatismus gibt: Ich suche Gott, und dann finde ich ihn auch. Genauso wenig wie: Ich suche mich, und deshalb finde ich mich. Exerzitien auf der Straße haben keine Erfolgsgarantie, aber vielleicht haben sie eine Verheißung. Im Interview sagt Christian Herwartz:

Sprecher: „Also die Juden sagen: Wenn Gott sogar im Dornbusch ist, der ja nicht der anerkannteste Baum ist, dann ist er überall. Und wenn ich von Gott sage, dass er überall ist, dann muss ich in die Offenheit gehen, ihn da zu suchen, wo er auf mich wartet. Und wo er auf mich wartet, das kann eben überall sein. Und dafür ein Gespür zu kriegen, wo wartet Gott auf mich. Also, wenn sich einer nicht komplett zumacht, dann wird der eine Spur entdecken.“

Autorin: In den Straßenexerzitien habe ich eine Ahnung davon bekommen, was das heißt: Gott ist da. Mitten im Alltag. In tausenderlei Gestalten ist er unterwegs auf der Straße. Ohne Handy und Geld in der Tasche fällt es mir leichter, ihn zu entdecken. Dass Sie ihm im neuen Jahr auf der Spur bleiben, das wünsche ich Ihnen, und dann am Abend eines Tages plötzlich denken: „Ach, da war doch was.“

Musik 5: “The London Apprentice”

[i] Christian Herwartz: Dem Auferstandenen heute begegnen. Eine Standortbestimmung von Exerzitien auf der Straße. GuL 87/3 (2014), S. 255.

[ii] Christian Herwartz u.a.: Im Alltag der Straße Gottes Spuren entdecken. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, 2. Auflage Neukirchen 2019, S. 40

[iii] Exodus 3,5.

[iv] Elisabeth Tollkötter: Den Blick immer neu säubern von Vorurteilen, Abwertungen, Ängsten, in: Christian Herwartz u.a.: Im Alltag der Straße Gottes Spuren entdecken. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, 2. Auflage Neukirchen 2019, S. 17.

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