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Kirche in WDR 5 | 16.01.2020 | 06:55 Uhr
Ein armer Kerl
Guten Morgen!
Mir gegenüber im Zugabteil sitzt ein Junge. Ich schätze ihn auf 13 oder 14
Jahre. Wir kommen ins Gespräch. „Mann, war das ein langer Tag“, sagt er. Dann
kommt eine Zugansage. Unser Zug hat Verspätung. Der Junge ist ärgerlich: „Jetzt
weiß ich nicht, wie ich nachher vom Bahnhof nach Hause kommen soll. Der Bus
wird weg sein.“ Er erzählt mir, dass er auf eine Privatschule geht, weil er in
seinem Heimatort von der Schule geflogen ist. Damit er nicht noch einmal
scheitert, haben die Eltern ihn in der auswärts gelegenen privaten Schule untergebracht.
Jeden Tag ist er mit Bahn und Bus fast drei Stunden unterwegs. Ein langer,
langer Tag. Tausend Euro monatlich ist den Eltern die Schule wert. „Aber Geld
ist nicht das Problem“, sagt mein junger Gesprächspartner. Ich frage: „Und wo
liegt das Problem?“ „Naja“, sagt er mit einem bekümmerten Gesicht, „ich weiß
nicht, ob ich jetzt die achte Klasse schaffe. Ehrlich gesagt: Es ist
unwahrscheinlich, dass ich versetzt werde. Und dann weiß ich auch nicht mehr
weiter. Aber heute ist ja erstmal Wochenende. Und das verbringe ich bei meinem
Dad.“
Als der Junge aussteigt, wünsche ich ihm ein schönes Wochenende und sage noch:
„Ich hoffe, du schaffst die Klasse…“ Er lächelt mich an, bedankt sich und
verschwindet. „Armer Kerl“, lautet der Kommentar meines Abteilnachbarn.
Wie hat eben der Junge gesagt: „Geld ist nicht das Problem.“ Aber Unsicherheit
und Angst vor dem Schuljahr und dem Zeugnis – die sind sein Problem. Bestimmt
haben seine Lehrer oder seine Eltern schon oft genug an ihn appelliert: „Setz
dich auf den Hosenboden! Arbeite fleißiger, sonst schaffst du es wieder nicht!“
Und auch, wenn sich der Junge danach richten sollte – seine Beklemmung
angesichts seiner ungewissen Zukunft bleibt.
„Armer Kerl“ – diese Bezeichnung ist wohl zutreffend. Obwohl die Eltern
offenbar über genug Geld verfügen und dies in seine Ausbildung stecken, ist der
Junge irgendwie arm dran. Die Eltern erscheinen so perfekt. Doch er hat Angst
vor der Zukunft, befürchtet, wieder nicht mithalten zu können. Er weiß nicht,
ob er die Erwartungen seiner Eltern erfüllen kann. Die teure Schule, die muss
sich doch rentieren…
Wäre doch jemand da, der zu ihm sagt: „Du, das kenn ich von mir selbst. Ich
stand auch schon mal kurz vor dem Absturz in der Schule. Aber ich hatte da
einen tollen Freund, der mir Mut gemacht hat. Mit ihm zusammen habe ich mir
jeden Tag ein Pensum zum Lernen vorgenommen. Immer so viel, dass ich es
schaffen konnte. Ich denke: Es
müsste jemand sein, der weiß, wovon er spricht, jemand, der selbst schon einmal
Schwierigkeiten hatte, es müssen ja keine Schulschwierigkeiten sein. So jemand
also könnte dem Jungen Mut machen und ihm Zuversicht vermitteln. Dann
wäre er kein „armer Kerl“ mehr. „Die Armut hilft der Armut“, habe ich mal
irgendwo gelesen. Und es ist klar: „Arm“ ist jede und jeder in diesem Leben an irgendeiner Stelle. Ich
glaube, das ist das Geheimnis des Reiches Gottes, von dem in der Bibel immer
wieder die Rede ist. Dieser Satz stellt alles noch einmal in einen größeren
Zusammenhang: Menschen wird geholfen, indem sich jemand neben sie stellt und ihnen beisteht. Einer wie sie selbst, weil er
Mensch ist.
Hoffentlich hat meine Zugbekanntschaft einen solchen Menschen gefunden.
Ich wünsche ihnen einen guten Tag. Ihr Pfarrer Michael Opitz aus Düsseldorf.
Redaktion:
Landespfarrerin Petra Schulze