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Das Geistliche Wort | 16.02.2020 | 08:40 Uhr

Gegenwärtigkeit - erleben oder erleiden?

„Das fällt denen ja früh ein!“ Wenn der Satz fällt, ist der Zug meistens abgefahren. Eine Erkenntnis, eine Entscheidung, ein Gedanke kam zu spät. Der rechte Zeitpunkt? Verpasst! Allenfalls rettet noch ein „Besser spät als nie“ den Wert der Entscheidung.

Es ist eben nicht nur wichtig, was entschieden und, was gesagt wird, sondern auch wann. Das erleben Politikerinnen und Politiker täglich. So gut kann kein neues Gesetz sein, dass es nicht erstmal durch die Zeitprüfung muss. Und meistens durchfällt.

Mein Name ist Michaela Bans, ich bin Pastoralreferentin im Bistum Münster. Und beim Thema „zu spät gekommen“ denke ich in diesen Tagen unweigerlich auch an den sogenannten „Synodalen Weg“ der Katholischen Kirche. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: für den wurde es höchste Zeit. Aber ich prophezeie schon jetzt: Egal, was dort beschlossen
wird - vielen wird es zu spät kommen. Denjenigen, die meinen, die Zeichen der Zeit längst früher erkannt und benannt zu haben. Anderen wird jegliche Änderung zu früh kommen.

Der rechte Zeitpunkt ist nämlich ein sehr subjektives Phänomen. Davon kann mancher auch in seinen ganz persönlichen Bezügen ein Lied singen. So manche Liebeserklärung wurde mit einem „zu früh“ bestraft, so manche Bitte um Entschuldigung fand kein Gehör mehr.

So subjektiv das Empfinden für den richtigen Zeitpunkt auch ist – Die Idee davon, dass es einen richtigen, womöglich einzig richtigen Zeitpunkt gibt, scheint in vielen Menschen verankert.

Und das Leiden darunter, dass der rechte Zeitpunkt ständig verpasst wird, scheint mir ein kollektives Gegenwartsphänomen zu sein. So groß kann kein Klimapaket der Welt sein, dass ihm nicht ein „zu spät“ entgegengeschleudert würde. Und natürlich auch ein „zu früh!“

Die Gegenwart hat, meine ich, einen schweren Stand. Immer wird sie an der mächtigen, festgeschriebenen Vergangenheit gemessen und an der unkonkreten, unendlich weiten Zukunft. Und verliert den Abgleich. „Früher war alles besser!“ Oder: „Es kann nur besser werden!“… Das Gras auf der anderen Seite des Zeitenzauns scheint grüner zu sein. Dabei ist es doch auch nur Gegenwart, an die wir uns in Zukunft erinnern werden.

Vom amerikanischen Journalisten Bitter Pierce stammt der treffende Ausspruch: „Gegenwart: Jener Teil der Ewigkeit, der den Bereich der Enttäuschung von jenem der Hoffnung scheidet.“

Gegenwärtigkeit – schaut man sich im Netz nach diesem Begriff um, kommen einem etliche Artikel entgegen, die meisten beschäftigen sich mit Achtsamkeit. Die Grundvermutung? Wir sind zu wenig im Hier und Jetzt. Und weil wir so sind, stehen wir meist neben uns.
Und wenn ich mich zu lange -zu oft -zu weit von mir selbst entferne, dann kann es passieren, dass ich den Weg nicht mehr finde. Zu mir. Und ich möchte ergänzen: Zu Gott.

Wie oft habe ich den Satz in seelsorglichen Gesprächen gehört, wie oft selbst empfunden: Ich kann nicht beten. Komme nicht in Kontakt mit Gott. Als wäre er nicht da. Längst haben viele vor mir erkannt, dass beide anwesend sein müssen, wenn es zu einer Begegnung kommen soll. Der große Theologe Meister Eckhard schrieb schon vor langer Zeit:

„Gott ist allzeit bereit, aber wir sind sehr unbereit; Gott ist uns nahe, aber wir sind ihm ferne; Gott ist drinnen, aber wir sind draußen; Gott ist zu Hause, aber: wir sind in der Fremde.“

Die Frage nach der ganz persönlichen Gegenwärtigkeit. Nach dem „im Jetzt und Hier richtig sein“ ist eine der großen Fragen des Menschseins.

Die großen Weltreligionen widmen sich ihr, die Esoterik, die Philosophie. Und Lieschen Müller tut es zwangsläufig auch immer wieder. Denn die Sehnsucht nach Gegenwärtigkeit ist keine theoretische. Sondern eine, die praktisch in jeder Biographie vorkommt.

Und alle, von Buddha bis Lieschen Müller suchen sie nach Wegen, wie wir das lernen können, mehr in der Gegenwart zu sein.

Meine These: Wer mehr Gegenwärtigkeit will, muss sich von der Bewertungskultur verabschieden. Das zarte Pflänzchen Gegenwart braucht Barmherzigkeit.

Wie alle Zeiten, so hat auch die unsere ihre ganz eigenen Herausforderungen. Eine davon: Wir haben Zugang zu so viel Wissen und zu so vielen Meinungen wie nie. So schnell wie nie. Wenn wir wollen, sind wir ratz-fatz mit der ganzen Welt vernetzt. Können uns Meinungen bilden und äußern. Was für eine Errungenschaft! Und was für eine Herausforderung!

Bei der Fülle an Informationen und Meinungen wird unser Ambiguitätsmuskel stetig angespannt. Doch die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit und Unsicherheit auszuhalten ist nicht proportional mitgewachsen. Allzu verführerisch ist die Möglichkeit zum schnellen Kommentar – Stichwort: Hate-Speach. Allzu anstrengend ist es, Ungewissheit ertragen zu müssen. Allzu beängstigend, so wenig Kontrolle zu haben.

Wir werden ständig aufgerufen, uns zu verhalten. Informationen zu verarbeiten. Und versuchen, Herr und Frau dieser Lage zu werden, indem wir ein Bewertungsschubladensystem bedienen. Und das nicht nur nach außen. Wir bewerten nicht nur die anderen. Sondern auch uns selbst.

Ich glaube, wer Gegenwärtigkeit erfahren will, wer öfter bei sich zuhause sein will, der sollte seine Ambiguitätstoleranz trainieren. Toleranz kommt von „tolerare“ – aushalten. Und genau darum geht es meiner Meinung nach: Erstmal auszuhalten, was ist. Statt es direkt einordnen und bewerten zu wollen. Wer toleriert, aushält, was ist, der ist mitten drin in dem, was sich Gegenwart nennt. Wer bewertet, nimmt dagegen Abstand vom Hier und Jetzt. Schafft Distanz. Zeitlich und emotional. Egal, wie das Urteil ausfällt, ob positiv oder negativ.

Vor einigen Jahren war ich Seelsorgerin in der Studierendengemeinde in Münster. Einmal kam eine Studentin und wollte mich sprechen. Ihr Opa war gestorben. Aber kaum hatte sie mir das gesagt, schob sie schnell dahinter: „Aber eigentlich ist das das nicht wirklich schlimm, denn er war ja sehr krank. Es ging ihm schon so lange wirklich schlecht. Eigentlich bin ich sogar erleichtert, dass er nicht mehr leiden muss. Ja, eigentlich kann man wirklich sagen: für ihn war das eine echte Erlösung.“ .“

„Eigentlich gibt’s ja eigentlich nicht“, habe ich ihr geantwortet. Sie hat gestutzt und grinste mich kurz verschämt an, wie ertappt. Und dann wurde sie still. Guckte auf ihre Schuhe und ich auf meine. Und nach ein paar Minuten, in denen wir schweigend dagesessen haben, sagte sie: „Er fehlt mir.“

Da war für uns beide spürbar, was wir verlieren, wenn wir zu schnell bewerten. Wir verlieren den Zugang zu dem was ist. Überspringen das Hier und Jetzt, in dem noch nicht alles festgelegt ist. Diese Spannung namens Gegenwart. Im Moment eines Verlustes mag diese Gegenwart schmerzen. Aber ein „es ist gut, dass er gehen konnte“ – das mag der Kopf sagen. Aber damit ist der Schmerz doch nicht erledigt. Das Herz wird nicht so schnell die Schublade zu machen, wenn einer gegangen ist.

Bewertungsärmer leben - Womöglich ein guter Vorsatz für die Fastenzeit, die bald naht. Den eigenen Ambiguitätsmuskel trainieren - für mehr Gegenwärtigkeit. Täte mir gut. Und ich glaube: der katholischen Kirche auf ihrem synodalen Weg auch.

Verleben Sie diesen Sonntag doch möglichst gegenwärtig. Springen Sie nicht gleich auf das, was nächste Woche ansteht, grämen Sie sich nicht mit dem was war – das wünscht Ihnen Pastoralreferentin Michaela Bans aus Nottuln bei Münster.


Quellenangaben:

„Gegenwart: Jener Teil der Ewigkeit, der den Bereich der Enttäuschung von jenem der Hoffnung scheidet.“Ambrose Gwinnett Bierce (1842 - 1914), genannt Bitter Pierce, US-amerikanischer Journalist und Satiriker, Quelle: Bierce, Des Teufels Wörterbuch (The Cynic's Word Book), 1906 (1909 als »Devil’s Dictionary« in ›Collected Works‹, Vol. 7) "Gott ist allzeit bereit, aber wir sind sehr unbereit; Gott ist uns nahe, aber wir sind ihm ferne; Gott ist drinnen, aber wir sind draussen; Gott ist zu Hause, aber: wir sind in der Fremde." Meister Eckharts mystische Schriften. Übertragen von Gustav Landauer, Karl Schnabel, Berlin: 1903, S. 111





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