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Das Geistliche Wort | 24.05.2020 | 08:40 Uhr

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Am Trauma wachsen

Sprecher: „Die Vergangenheit ist ein Tyrann, der sich herrisch zu Wort meldet. Eine Falltür öffnet sich im Boden der Gegenwart und man stürzt durch das Loch ins Gestern!“


Autorin: So beschreibt der Journalist Peter Schwarz in einer preisgekrönten Reportage das Leben von Andreas. Als Kind wurde Andreas misshandelt, gedemütigt und wäre fast verhungert. Als Erwachsener sucht er einen Platz im Leben mit seiner traumatischen Vergangenheit.

Wenn Simone Kascholke Folgen schwerer, überfordernder Erlebnisse beschreibt, spricht die Traumapädagogin von einem „Loch im Herzen“.

Traumatische Erfahrungen stellen das Leben, so wie es ist, in Frage. Was man erlebt, ist nicht zu verstehen. Es ergibt keinen Sinn. Man ist ohnmächtig gefangen im eigenen Leben, hat keine Chance, irgendetwas zu tun, ist wie aus dem Nichts heraus ohne Sinn und ohne Halt.

Traumatisierte Menschen erleben, dass ihr Leben solange stillsteht, bis es ihnen gelingt, den eingefrorenen Schrecken zu verarbeiten. Und in eine schlüssige Geschichte einzubetten. Nur so kann es möglich werden, die Erinnerung zu benennen und zur Ruhe kommen zu lassen, auch wenn Beschädigungen bleiben.

Der Traumatherapeut Alexander Korittko sagt:


O-Ton Alexander Korittko: „Das bedeutet für den eigenen Lebensplan, dass vielleicht Dinge, die man sich vorgenommen hat, nicht mehr so gut gehen, weil man immer wieder in Erregungszustände gerät, die auch für andere schwer zu ertragen sind, und die für einen selbst schwer zu ertragen sind, so dass dann vielleicht Dinge, die man sich vorgenommen hat, einfach nicht mehr klappen.“


Autorin: Solche existentiellen Erfahrungen sind leider keine Ausnahmen. Sie gehören zum Alltag. Auch in den biblischen Geschichten haben sie Spuren hinterlassen. Für mich sind diese Erfahrungen in der Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok besonders eindrücklich verarbeitet.


Musik 1: „Ist da jemand“, CD: So schön anders (2017), Track 2; Musik & Text: Adel Tawil, Ali Zuckowski, Nicolas Rebscher, Simon Triebel; Interpret: Adel Tawil; Label: Island Records; LC 00407.

(ca. 01:59-02:30; Länge: 00:31)


Autorin: Als er den Kampf seines Lebens zu bestehen hat, ist Jakob ist in einer schwierigen Lebenssituation: Jahrelang ist er schon auf der Flucht. Der Grund: Er hat seinen erstgeborenen Bruder Esau mit einem duftenden Linsengericht um das Erbe betrogen. Schließlich wird er selbst betrogen. Viele Jahre hat er gearbeitet und eine Familie gegründet. Jetzt ist er mit seinen Frauen und Kindern auf dem Weg in seine Heimat. Es soll wieder in Ordnung kommen, was er angerichtet hat. Er will sich seinem Schicksal stellen und seinen Bruder um Vergebung bitten. Die Furt des Jabbok ist die Grenze. Auf seinem Weg zu neuen Ufern muss er sie überqueren mitten in der Nacht.

Nachdem alle, die zu ihm gehören, und alles was er besitzt, schon sicher auf der anderen Seite des Flusses sind, wird Jakob im Wasser angefallen. Jakob ringt damit die ganze Nacht. Er hat keine Ahnung, mit wem oder mit was er da kämpft. Er schlägt um sich, kämpft blindwütig ums Überleben. Zunächst kraftvoll, dann zunehmend erschöpft und verzweifelt. Das alles im Dunkel der Nacht und mutterseelenallein.

Es geht ums Ganze. Ums nackte Überleben. Um seine Existenz. In diesem Überlebenskampf kann sich Jakob nur eins vorstellen: Das muss Gott selbst sein, der der mit ihm ringt.


Musik 2: „Hey“; Track 5; CD: Hey (2014), Musik & Text: Jasmin Shakeri, Philipp Steinke; Produzent: Philipp Steinke; Interpret: Andreas Bourani; Label: Vertigo; LC 14513.

(ca. 03:53-04:03; Länge: 00:10)


Autorin: Jede existentielle Not, jeder existentielle Kampf ist am Ende ein Kampf mit Gott. Ein Ringen mit dem Sinn des Lebens. Ein Kampf mit dem, der das Leben geschaffen hat, ein Ringen mit dem, was dem Leben Schutz und Sinn gibt.

Später wird man von Jakob sagen: „Er hat mit Gott und mit den Menschen gekämpft und er ist mit dem Leben davongekommen!“ Gottesstreiter wird er jetzt genannt. So heißt das hebräische Wort Israel übersetzt. Israel wird von nun an Jakobs Name sein.

Dann bricht die Morgenröte an. Die Kämpfenden sind am Ende. Keiner scheint zu gewinnen. Jakob gibt nicht auf. Schließlich wird im Ringen seine Hüfte verrenkt. Und doch: Jakob lässt nicht los. Er hält seinen Gegner fest und trotzt ihm eine Bedingung ab – den Segen:

„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“

Und Jakob erhält den Segen. Nicht aber den Namen seines Gegenübers. Jakob kann nur ahnen, mit wem er da gekämpft hat. Sein Gegner bleibt ohne Namen im Dunkeln.

Jakob kommt im Morgengrauen ans rettende Ufer. Dahin, wo die warten, die zu ihm gehören. Und es geht ihm die Sonne auf.


Musik 3 wie Musik 2

(ca. 05:16-05:30; Länge: 00:14)


Autorin: Das kann einen schon wundern, dass nach solchen Kämpfen wieder die Sonne aufgeht. Dass es wieder Tag wird nach einer scheinbar nie endenden Nacht. Dass man zurückfindet zu Menschen, die einem verbunden sind. Es muss diejenigen geben, zu denen wir uns setzen können und weinen und trotzdem als Krieger gelten. (1) Menschen, die die Nachwehen des Grauens mit uns aushalten und uns zugleich als siegreiche Überlebenskämpfer anerkennen.

Jakob ist am rettenden Ufer angekommen. Der Kampf, das Trauma der Vergangenheit, das Grauen steht ihm noch im Gesicht geschrieben. Und es wird Tag. Und die Sonne geht auf über einem, der gerettet ist und gesegnet – gewachsen an dem, was geschehen ist. Und der zugleich beschädigt ist. Jakob hinkt fortan. Seiner Hüfte wegen.

Durch eine Traumatisierung kann beides geschehen: Beschädigung und Wachstum. Stärken, die mir im Trauma zuwachsen.

Dazu noch einmal der Trauma Therapeut Alexander Korittko:


O-Ton Alexander Korittko: „Ein neues Forschungsfeld ist das sogenannte posttraumatische Wachstum, nämlich die Frage: Was kann möglicherweise parallel dazu auch an positiven Konsequenzen für einen traumatisierten Menschen dadurch entstehen? Und da gibt es inzwischen eine Reihe von Forschungsergebnissen, dass Menschen möglicherweise, wenn sie merken: „Ich habe eine schlimme Situation überstanden“, dass sie dann sagen: „Wenn ich das überstanden habe, dann sind andere Dinge, die mir vorher große Sorgen bereitet haben, eigentlich gar nicht mehr so wichtig!“ Das ist ein Aspekt von posttraumatischem Wachstum.“


Autorin: So hat es wohl auch Jakob erlebt: Die Angst, seinem Bruder Esau wieder zu begegnen, sich zu entschuldigen. Die Angst vor Esaus Wut und vor der eigenen Scham scheint jetzt beherrschbar. Jakob kann Esau entgegengehen und sich vor ihm niederwerfen. Am Ende liegen beide sich weinend in den Armen.


Musik 4 wie Musik 2

(ca. 07:36-07:58; Länge: 00:22)


Autorin: Trauer und Hoffnung. Beschädigung und Wachstum. Schlimme Erlebnisse können beides zugleich hinterlassen. Die Lyrikerin Hilde Domin hat das so formuliert: „Federn lassen und trotzdem schweben– das ist das Geheimnis des Lebens.“ Von den Stürmen des Lebens gezeichnet zu sein, und trotzdem das Leben als Herausforderung zu nehmen und zu genießen mit denen, die uns verbunden sind und uns verstehen, wenn die Anfechtung vorüber ist, das könnte Gottes Segen sein.

Der Trauma Therapeut Alexander Korittko sagt dazu:


O-Ton Alexander Korittko: „Ich glaube, wir haben eine naive Haltung, dass wir denken: Guten Menschen passiert Gutes, schlechten Menschen passiert Schlechtes! Durch ein Trauma merken wir: Auch guten Menschen passiert Schlechtes. Und dann trotzdem im Leben weiterzumachen mit der Gewissheit, das erlitten zu haben, das ist – glaube ich – die Kunst, die Hilde Domin hier ausdrücken möchte.“


Autorin: Und Simone Kascholke kennt das aus dem Alltag im Heim. Jahrelang hat sie als Trauma Pädagogin Jugendliche begleitet, die in ihrer Heimgruppe eine neue Heimat gefunden haben. Sie erkennt ihre traumatisierten Jugendlichen in diesem Wort von Hilde Domin wieder:


O-Ton Simone Kascholke: „Weil ich glaube, die haben alle ganz viel Federn gelassen und die müssen zwischendurch auch immer mal Federn lassen – sei es in Schule oder wo das Verständnis für ihre Situation nicht da ist - und trotzdem finden sie immer einen Weg, ihre Bedürfnisse doch irgendwie anerkannt zu bekommen.“


Autorin: Immer wieder hat sie erlebt, wie die schlimmen Erlebnisse, die traumatisierte Jugendliche im Gepäck hatten, sie geprägt haben, wie sie immer wieder an die alten Wunden stoßen, plötzlich misstrauisch, aggressiv oder verzweifelt wurden und doch nicht ihr Gegenüber meinten, sondern die Schatten der Vergangenheit. Und diese Schatten werden ihr ständiger Begleiter bleiben.


O-Ton Simone Kascholke: „Das Trauma auslöschen war auch nie unser Ziel, weil das Löchlein wird immer eine Narbe hinterlassen, aber wenn wir wenigstens ne das Löchs‘chen ein bisschen kleiner machen können, dann war schon viel gewonnen.“


Autorin: Moderne Traumapädagogik kann dazu beitragen.


Musik 5 wie Musik 2

(ca. 10:05-10:27; Länge: 00:22)


Autorin: So weiß Simone Kascholke viele Geschichten Jugendlichen zu erzählen, die sie in den Jahren begleitet hat. Von wahren Kämpfen und tapferen Siegern. Eine, von der sie erzählt, ist Laura Jeske:


O-Ton 6 Simone Kascholke: „Ein Mädchen, das ganz viele tolle Talente hat – sie kann ganz, ganz schön singen. Sie konnte ganz toll mit meinen Tieren umgehen, mit meinen beiden Hunden, die ich mit bei der Arbeit hatte. Aber da war auch eine ganz tiefe Traurigkeit immer bei ihr zu spüren und – ne – da gibt es natürlich auch Familiengeschichte mit einem Vater, der ein Alkoholproblem hatte und sie dadurch als Kind nicht so behandelt hat, wie sie es gebraucht hätte oder verdient hätte.“


Autorin: Laura Jeske hat ihre Erfahrungen im Heim in einem Brief an ihre Betreuerinnen und Betreuer festgehalten und ich bedanke mich, dass ich aus ihrem Brief zitieren darf:


Sprecherin: „Ihr seid die ersten Menschen, wo ich das Gefühl habe, dass ihr mich versteht. Durch euch habe ich es schon weit geschafft. Ich glaube, wenn ich hier nie eingezogen wäre, dann stünde ich immer noch am Anfang. Ihr habt mir gezeigt, dass ich Vieles wert bin. Durch euch traue ich mich, es in der Trauma Klinik auszuprobieren. (…) Wenn ich ans Aufgeben denke, dann zeigt ihr mir, ohne dass ich euch von meinen Gedanken erzähle, wie wertvoll das Leben ist, und dass Aufgeben keine Lösung ist.“


Autorin: Ich verabschiede mich von Ihnen mit einem Wunsch von Andreas, dem jungen Mann, von dem Peter Schwarz berichtet hat und dessen Leben von so einem traumatischen Ringen gezeichnet ist:


Sprecher: Das wäre mein Traum: Jeder kennt jeden, alle kümmern sich um alle, und keiner geht verloren!


Autorin: Dazu können wir alle beitragen! Ihre Pfarrerin Sabine Haupt-Scherer aus Bielefeld.


Musik 6: „Durch die schweren Zeiten“; CD: Stärker als die Zeit (2016), Track 1; Musik & Text: Alexander Zuckowski, Simon Triebel, Udo Lindenberg; Interpret: Udo Lindenberg; Label: Warner Music Entertainment; LC 14666.

(ca. 12:08- Ende)



Anmerkungen:

1. Formulierung in Anlehnung an Adrienne Rich.


Redaktion: Pfarrerin Julia-Rebecca Riedel

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