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Kirche in WDR 5 | 11.07.2020 | 06:55 Uhr
Alles hat seine Zeit
Es ist allmorgendlich dasselbe Bild. Immer zur selben Zeit. Um punkt 9 Uhr bricht mein Nachbar zu seinem Streifzug auf. Durch den Garten. Er beginnt ganz vorne am kleinen Teich. Steht dann mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper auf der Wiese und späht über den Bambus hinweg, um zu sehen, was die Goldfische so tun. Und dann läuft er gemächlich weiter in Richtung Blumenbeet. Die Hände hat er dabei hinterm Rücken zusammengelegt. Und so spaziert er, wie ein Flaneur aus einer anderen Zeit. Hebt den Kopf, wenn ein Vogel zwitschert, bleibt hier und da stehen, schaut mal länger, mal kürzer, legt seinen Blick auf die Pflanzen, lässt die Handfläche über die Hecke gleiten.
Ich genieße es richtig meinem Nachbarn dabei zuzusehen. Diese Ruhe, mit der
er seinen morgendlichen Streifzug zelebriert, greift unweigerlich auf mich
über.
„Alles hat seine Zeit“, flüstert mir dieser Anblick zu. Und das gerade ist die
Zeit zum Genießen.
„Alles hat seine Zeit“ – ein geflügeltes Wort, das ursprünglich aber aus
der Bibel stammt. Im Alten Testament können Sie es finden, im Buch Kohelet. Ein
fast philosophisches Buch, in dem sehr grundsätzliche Betrachtungen über die
Welt angestellt werden, über den Menschen und über das Leben. Da geht es darum,
dass die Zeit im Fluss ist, dass sie läuft, unaufhaltsam. Und es geht darum,
dass alles, was ist, vergänglich ist. Altes geht und Neues kommt. Und es liegt
nicht in unseren Händen was die Zeit bringt.
Wir können über die uns gegebene Zeit auch nicht ganz frei bestimmen. Nicht
alles ist zu jeder Zeit machbar. Wir bewegen uns in einem vorgesteckten Rahmen.
Wir müssen arbeiten, schlafen, mal trauern wir, mal sind wir glücklich, wir
hadern und lieben. Wir leben unser Leben in bestimmten Grenzen.
Aber innerhalb dieser Grenzen dürfen wir das Genießen nicht vergessen. Im Buch Kohelet
findet sich sogar eine Aufforderung, das Leben zu genießen. Da steht
geschrieben:
„Alles hat [Gott] so gemacht, dass es schön ist zu seiner Zeit. […] Und
wenn irgendein Mensch bei all seiner Mühe […] Gutes genießt, ist auch dies ein
Geschenk Gottes.“
Das bedeutet, dass Gott es gut mit uns meint. Das heißt: Er schenkt uns Zeit,
die eigens dafür gemacht ist, sie zu genießen. Und wenn wir das annehmen und
ihm unser Vertrauen schenken, wenn wir dieses Gute, das er da extra für uns bereithält
auch sehen und es in die Tat umsetzen, dann wird Zeit zum Geschenk.
„Alles hat seine Zeit“. Jeden Morgen um 9 Uhr ist für meinen Nachbarn Zeit, um durch den Garten zu streifen. Um die Hände auf dem Rücken zusammenzulegen, um ganze 15 Minuten lang zu flanieren und einfach zu genießen.
Ich bin ihm dankbar, dass er mich daran erinnert das Genießen nicht zu
vernachlässigen und ich wünsche mir und Ihnen, dass wir das auch ab und an
schaffen. Dass wir die uns geschenkte Zeit gut nutzen.
Ihre Verena Tröster aus Köln.