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Kirche in WDR 5 | 19.08.2020 | 06:55 Uhr

Fassadensätze

Guten Morgen,

mit vier Jahren erlebte meine Mutter, wie in einer Nacht mehr als zwölf Tausend Bomben auf ihre Heimatstadt Plauen fielen. Ihre hochschwangere Mutter, meine Oma, wurde schwer verletzt, die Wohnung zerstört. Mein Vater musste als Neunjähriger aus dem Land seiner Kindheit fliehen und alles zurücklassen. Ja, meine Eltern sind Kriegskinder und ich, ihre Tochter, gehöre zur so genannten Generation der Kriegsenkelinnen und -enkel.

Es mag befremdlich klingen, aber tatsächlich haben wir Kriegsenkel uns lange geweigert, das Leid unserer Eltern anzuerkennen – oder es zumindest ignoriert. Wie schmerzhaft muss das für sie gewesen sein. Erst die Einsicht in die leidvollen, teils traumatischen Erfahrungen der Kriegskinder, lässt heute fragen: Wie wirken sich die Kriegskindheiten der Eltern auf die Biographie ihrer Kinder, also auf mich und meine Generation aus?

Ich beschäftige mich mit dieser Frage seit langer Zeit. Dabei ist mir ein Buch in die Hände gefallen „Das Erbe der Kriegsenkel“. Darin begibt sich der Journalist Matthias Lohre auf die Suche. Nachdem seine Eltern gestorben sind, bricht in dem 1976 geborenen Mann etwas auf. Er will das jahrzehntelange Schweigen seiner Eltern ergründen. Er tut dies, um auch über sich selbst etwas in Erfahrung zu bringen. Was ihn nicht loslässt, ist die Frage, was das Schweigen der Eltern, ihre – wie er es nennt – Gefühlstaubheit aus ihm macht.

Am Ende einer langen Reise steht Lohre am Grab seiner Eltern. Er schreibt, er beginne nun aus einem lange Zeit undurchdringlichen Nebel aufzutauchen. Angst und Wut seien spürbar geworden. Aber vor allem habe er dort, wo der Nebel am dichtesten war, etwas entdeckt: Dort – schreibt Lohre – „wartet die Trauer darauf, endlich empfunden zu werden.“ Dieser Satz von der Trauer, die darauf wartet, endlich empfunden zu werden, hat mich wie ein Pfeil getroffen und zwar in der gegenwärtigen Corona-Krise. Ich möchte keine Parallelen zwischen Corona und dem Zweiten Weltkrieg ziehen. Nur insoweit, als ich glaube, dass heute mehr denn je die Trauer darauf wartet, endlich empfunden zu werden.

Ich frage mich zum Beispiel, wo es in Deutschland in den vergangenen Wochen und Monaten eigentlich Orte und Zeiten gab, in der kollektiv der Corona-Toten gedacht wurde. Abgesehen von einer Schweigeminute im Fußballstadion. Ich höre allerorten Sätze wie diese: Eigentlich geht es uns gut. Wir sind gesund. Viele sagen das in dem Wissen, dass das Virus sie weitaus schlimmer hätte treffen können. Auch ich höre mich so reden. Aber immer öfter wirken solche Sätze auf mich wie ein bisschen zu perfekt renovierte Fassaden. Es sind Fassadensätze.

Und hinter den Fassaden? Trauert da nicht jemand über das, was durch die Krise unwiederbringlich verloren gegangen ist? Trauert nicht jemand, weil er aus der Ferne mitansehen musste, wie ein geliebter Mensch einsam starb. Trauert nicht jemand, weil das, was er aufgebaut hat, ruiniert ist? Trauert nicht jemand, weil er an die Folgen denkt, die die Isolation und der Argwohn hinterlassen werden. Trauert da nicht jemand, weil er daran denkt, wie tief das Misstrauen gegenüber der Nähe zum Nächsten in jedem von uns Wurzeln schlägt.

Wann, wenn nicht jetzt gilt es, die Fenster der Fassaden zu öffnen. Vielleicht können wir Kriegsenkel einen Schritt vorangehen. Vielleicht könnten wir der Trauer in der gegenwärtigen Zeit das Recht einräumen, empfunden zu werden anstatt weiter immer nur die Fassaden neu zu übertünchen.

Wie befreiend das sein kann, weiß ich, denn ich war Zeugin eines solchen Moments und ich bin für diesen unendlich dankbar. Mitten in der Corona-Krise erzählte ein junger Mann während eines Gottesdienstes im Freien von seinem großen an Corona zerschellten Lebenstraum. Er hatte kurz nach seinem Abitur ein freiwilliges soziales Jahr in Uganda begonnen und musste dieses völlig überstürzt abbrechen. Er hatte das Gefühl, Menschen, die ihm ans Herz gewachsen waren und die ihn mit offenen Armen empfangen hatten, im Stich zu lassen. Von den meisten konnte er sich nicht einmal verabschieden. Dieser junge Mann verlieh seiner Traurigkeit über Corona auf bewegende Weise Ausdruck. Ich und die Zuhörerinnen und Zuhörer im Gottesdienst waren nicht nur berührt von seinen Worten. Wir atmeten leise auf, weil sich unsere Trauer in seiner widerspiegeln konnte.

Ihre Katharina Klöcker

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