Nachbar Gott

Dichter nehmen die Wirklichkeit ungewohnt wahr, konkreter, tiefer, manchmal mystisch. Als scharfer Beobachter nimmt Rainer Maria Rilke sie naturgenau und zugleich als Mysterium wahr. Selbst seine religiös überspannte Mutter hat ihm die spirituelle Tiefensicht nicht austreiben können. Dabei kitzelt er, der kirchendistanzierte Mystiker, meine eingeschlafene Gottessehnsucht durch einen überraschenden Perspektivwechsel wach:

Sprecher: Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manchesmal in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -so ists, weil ich dich selten atmen höre und weiß: Du bist allein im Saal.

Und wenn du etwas brauchst ist keiner da, um deinem Tasten einen Trank zu reichen: Ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen. Ich bin ganz nah.

Ist das nicht Rilkes eigene Erfahrung: allein im Saal – keiner da, als er etwas braucht? Doch jetzt wechselt er die Seite. Er, der Angewiesene, erkennt auch Gott als den Angewiesenen. Er nennt ihn „Nachbar Gott“. Er horcht, ob dieser „Nachbar Gott“ sich meldet und lädt ihn zu sich ein: „Ich bin ganz nah.“

Er weiß: die Wand zu Gott ist dünn. Aus hilflos-zärtlichen Gottesbildern ist sie aufgebaut. Fast nichts ist diese dünne Wand. Ein Hauch.

Doch diese zarte Wand, sie hilft auch: sie schützt vor der überwältigenden, überfordernden Gottesnähe. Und sie hilft, zu unterscheiden ohne zu trennen: Du bist du und ich bin ich. Und sie ermöglicht, die alten Rollen zu wechseln: In deiner Ohnmacht, Gott, in deiner Zurückgezogenheit bin ich dir nah und klopfe an die hauchdünne Wand von mir zu dir.

Und ich bete mit Rilke: „Ich danke dir, du tiefe Kraft, die immer leiser mit mir schafft…“

Aus Aachen grüßt Sie

Georg Lauscher.