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Das Geistliche Wort | 25.04.2021 | 08:40 Uhr

Spurensuche


1.
Am Wendepunkt

Es gibt Wendepunkte im Leben, die alles verändern. Ich möchte Ihnen von so einem Wendepunkt in meinem Leben erzählen und den Konsequenzen daraus, die bis heute nachwirken – gut nachwirken. Mein Name: Ancilla Ernstberger. Ich bin Ordensschwester in Paderborn, genauer gesagt: Augustiner Chorfrau im Michaelskloster in Paderborn und arbeite heute dort in der Michaelsrealschule als Lehrerin. Guten Morgen!

Musik I: Chamberjazz, Mobile

Es ist fast 40 Jahre her – aber ich weiß es noch wie heute. Es war nach dem Abitur. Ich wollte eigentlich Sonderpädagogin werden und bewarb mich um einen Studienplatz. Vergeblich – ich erhielt eine Absage. Daher entschied ich mich für ein anderes Berufsziel: Lehrerin an einer Realschule mit den Fächern Geographie und katholische Religionslehre. Anfang der 80-er Jahre hatte ich dann die Prüfungen im ersten Staatsexamen bestanden. Doch erneut entwickelte sich mein Weg nicht wunschgemäß. Denn es zeichnete sich eine Lehrerschwemme ab: eine Anstellung nach dem zweiten Staatsexamen stand in den Sternen. Da stand ich nun mit dem Gefühl, mit 23 Jahren im Leben immerhin schon etwas geschafft zu haben, und der Unsicherheit, nicht einfach den nächsten konsequenten Schritt gehen zu können. Und dennoch herrschte in mir eine Aufbruchsstimmung vor. Einerseits lockte es mich, mein Geographiestudium zu erweitern, andererseits hatte ich bereits damit angefangen, als drittes Fach Deutsch fürs Lehramt zu studieren, um meine Einstellungschancen zu verbessern. Wie mir ging es damals vielen anderen, die dasselbe Problem hatten, keine Anstellung zu finden. Aber irgendwie machte es mir nicht so viel aus: Mit 23 Jahren lässt sich eine ungünstige Perspektive aushalten. – Und weiter zu studieren, fand ich einfach reizvoll. Neben diesen Überlegungen, wie es mit mir beruflich weitergehen könnte, war ich allerdings nicht auf eine Überraschung ganz anderer Art gefasst. Und die sollte mein Leben verändern: aus der Frage nach meinem Beruf wurde nämlich eine Frage nach meiner Berufung.

Musik II: Jan Gabarek und das Hilliard Ensemble, Beata viscera

2.
Auf die Spur kommen

Wie aus meiner Berufsfrage eine Berufungsfrage wurde, hängt mit einem Erlebnis zusammen, das mich sehr angerührt hat. Es ist später Vormittag des Heiligen Abend 1981. Der Ort: Paderborn, an der Straße vor dem Priesterseminar. Es herrscht bittere Kälte. Ich sitze im Auto und warte auf meine Mutter, die noch einen kurzen Weihnachtseinkauf erledigt. Dabei entdecke ich, wie ein Mann sein Fahrrad über den verschneiten Gehweg schiebt, das mit einigen Taschen befrachtet ist. Ein paar Meter vor mir bleibt er stehen. Zunächst halte ich ihn für jemanden, der noch letzte Weihnachtseinkäufe getätigt hat. Doch dann merke ich, dass es sich um einen Obdachlosen handeln muss, an dessen Fahrrad seine paar Habseligkeiten hängen. Ich sehe dann weiter, wie er bei Eiseskälte ein Stück Brot isst und dazu Wasser trinkt. Passanten kommen, sehen ihn und gehen einfach weiter. Und jedes Mal, wenn sich dem Mann jemand nähert, dreht er sich so zur Seite, dass niemand merkt, wie es um ihn bestellt ist. Offensichtlich schämt er sich! Und ich, die ich diese Situation ja deutlich wahrgenommen habe, tue auch nichts, genau wie alle anderen. Dieses Erlebnis hat mich nicht mehr losgelassen. Es ist für mich bis heute eine Neuauflage der biblischen Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Da heißt es im Lukasevangelium: Ein Mann wird auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho überfallen und ausgeraubt. Er bleibt halbtot liegen. Dann kommen an ihm ein Priester und ein Levit vorbei. Sie sehen ihn, gehen aber tatenlos weiter. Erst ein Fremder aus Samarien hilft, versorgt die Wunden und bringt den Ausgeraubten in eine Herberge, wo er dem Wirt Geld für die Versorgung des Mannes gibt.m In der Bibel geht die Geschichte gut aus. Aber wo war der barmherzige Samariter am Vormittag des Heiligen Abends 1981? Ich selbst war es auch nicht. Und am Abend wollte ich Weihnachten feiern!

Musik III: Chamberjazz, Kolja

3.
Entflammt

Wie Weihnachten feiern, wenn Menschen in der direkten Umgebung Not leiden? Ich war über mich beschämt und auch enttäuscht, weil ich dem Elend des Mannes nichts entgegen zu setzen hatte. – Dementsprechend verlief auch das Weihnachtsfest damals bei weitem nicht so harmonisch wie sonst: Ich diskutierte mit meinen Eltern über mein Erlebnis vom Vormittag. Aber das führte zu keinem befriedigenden Ergebnis für mich. Die Szene vor dem Priesterseminar war mir unter die Haut gegangen. Eine grundsätzliche Krise tat sich auf: Eine Glaubenspraxis genügte mir nicht mehr, die bloß den Festcharakter von Weihnachten erhöht, aber nicht alltagstauglich ist. Wollte ich vor mir selbst bestehen, konnte ich nicht einfach so weiterleben wie bisher. Ich suchte nach Wegen, in denen Gott einen Platz in meinem Leben bekäme – nicht nur an Feiertagen. Es arbeitete unaufhörlich in mir und ließ mir keine Ruhe. Ich wollte – ja ich musste doch eine Lösung finden. Ich überlegte, welche Lebensentwürfe ich kannte. Mir fielen Menschen ein, deren Leben vom Glauben geprägt war, die mich in ihrer Art überzeugten, wie sie Jesus nachfolgten. Schließlich tauchte in mir der Gedanke an ein Leben im Kloster auf. Diese Lebensweise empfand ich als eine Chance, Gott im eigenen Leben und im Alltag bewusst einen Platz einzuräumen. Aber sogleich kamen auch Zweifel auf: Eignete ich mich überhaupt für ein solches Leben? Der Gedanke ließ mich jedoch nicht mehr los. Ich allein und ich persönlich war gefragt. Einige Tage und Nächte des Grübelns warfen mehr Fragen auf, als dass ich Antworten gefunden hätte: Sollte ich tatsächlich zu einem Leben im Kloster berufen sein? Würden meine persönlichen Voraussetzungen ausreichen? Würde ich in dieser Lebensform dauerhaft glücklich sein? Bekam ich es gerade wirklich mit Gott zu tun? Oder täuschte ich mich in dem, was ich erfuhr? Und mit jemandem darüber zu sprechen, das kam für mich nicht in Frage. Schließlich klärte sich in der Nacht des Jahreswechsels alles Für und Wider: Jedes innere Argumentieren führte immer wieder an den Punkt, ob ich mich für dieses Wagnis eines Ordenseintritts entscheiden könnte. Falls ich nicht für ein Leben im Kloster taugen sollte, würde es sich in der Praxis sicher bald zeigen. Also nahm ich allen Mut zusammen und wagte den Schritt ins Kloster. Nachdem die Entscheidung getroffen war, fielen alle Bedenken und Zweifel ab. Zugleich fühlte ich mich absolut frei, ich hätte mich ja auch anders entscheiden können. Aber hätte ich diesen Gedanken an einen Ordenseintritt fallen gelassen, wäre die Gunst der Stunde vorüber – für immer verpasst – so jedenfalls wirkte es auf mich damals. Und jetzt – welches Kloster? Und dann – wie würden meine Familie und Freunde reagieren?

Musik IV: Jan Gabarek und das Hilliard Ensemble, Regnantem sempiterna

4.
Spurensicherung

Die Entscheidung für eine bestimmte Ordensgemeinschaft fiel schneller als das Ringen überhaupt in ein Kloster einzutreten: Orden mit Aufgaben in der Mission oder Krankenpflege passten nicht zu mir und meinen Begabungen. Vor einem Leben in absoluter Abgeschiedenheit von der Welt hinter hohen Klostermauern schreckte ich zurück. Schließlich fiel mir das Michaelskloster in Paderborn ein. Dorthin hatte ich vor Jahren einmal eine Firmgruppe begleitet. Die Schwestern im Michaelskloster verbinden Gebet, Arbeit und geistliches Studium miteinander. Das sprach mich an! Außerdem zogen mich die gemeinsamen Gebetszeiten entlang des Tagesablaufes an wie auch die Beständigkeit in diesem einen Kloster zu leben, ohne Versetzungen an andere Orte. Solche Stabilität und Rahmenbedingungen passten und passen zu mir. Bis zum Eintritt ein halbes Jahr später musste ich allerdings hartnäckigen Gegenargumenten von außen widerstehen. Es gab viele Diskussionen und auch Tränen. Schon damals hieß es: Ein Leben allein für Gott passt nicht mehr in diese Zeit. Heute geht „man“ nicht mehr in ein Kloster. – Aber vom Mainstream habe ich mich schon immer gern abgesetzt. Und nur wenige konnten meinen Entschluss verstehen und bejahen. Und was soll ich heute, vierzig Jahre später sagen: Mit dem Eintritt fing das Abenteuer mit Gott eigentlich erst an. Immerhin hatte ich alles auf eine Karte gesetzt. Jetzt musste es sich zeigen, ob es wirklich der Ruf Gottes war, den ich vernommen hatte, und was er mit mir an diesem Ort beabsichtigte. In den ersten Wochen und Monaten meines Ordenslebens standen das Einleben in die Gemeinschaft auf dem Programm: Reflexion über das eigene Leben sowie über die Spuren Gottes darin. Das war wie eine spannende Entdeckungsreise, denn ich stieß dabei auf manche Vorlieben, wodurch mein persönlicher Weg zu meiner nun gewählten Lebensform vorbereitet worden war, ohne dass ich viel dazu beigetragen hätte: Freude an der Natur und ihre Beobachtung, Genießen von Stille und das Lesen, insbesondere der Bücher von Dostojewski. Erst dachte ich, ich hätte Gott gefunden. Es war allerdings umgekehrt: Gott hatte mich gefunden – ja mehr noch: Er hatte mich gepackt. Und bis heute staune ich, was Gott mit mir in dieser Zeit an diesem Ort vorhatte und vorhat. So ist das Kloster für mich zu einem Ort dauerhaften Lernens geworden. Begabungen, von denen ich vor meinem Eintritt nichts ahnte, dürfen sich entfalten. Das Zusammenleben mit meinen Mitschwestern erfahre ich als Geschenk, denn es ist zugleich fordernd und fördernd. Ebenso ist es der Maßstab, wie es um meine Liebe zu Gott und den Nächsten bestellt ist. Außerdem konnte ich meinen ursprünglichen Berufswunsch umsetzen, denn es gibt hier eine Realschule, an der ich seit 1986 unterrichte.

Musik V: Jan Gabarek und das Hilliard Ensemble, Parce mihi domine

Und heute nach bald 40 Jahren? Eins ist mir sehr klar geworden: Mit Gott komme ich an kein Ende. Und das Leben, mein Leben spielt sich immer wieder ab zwischen Ideal und Realität. Genau diese Spannung fordert mich heraus. Ich bin dankbar für vieles, was ich in meiner und durch meine Gemeinschaft erfahren durfte und auch heute noch gestalten und jungen Menschen mit auf den Weg geben kann. Stets gibt es Neues zu entdecken, zu lernen und zu lassen. Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter und ihre Aktualität, der ich damals nicht gerecht wurde, war die Initialzündung für meinen Lebensentwurf, quasi meine Berufungsgeschichte – und es war kein Strohfeuer. Bis heute brennt etwas in mir, was mich von diesem Gott begeistert, der sich den Menschen zuwendet. Jedoch weiß ich auch: die Flamme der Begeisterung kann ausgelöscht werden. Ohne Wachsamkeit und ohne Beziehungspflege zu Gott geht es nicht. Und es geht auch nicht ohne den Mut, auf seine innere Stimme zu hören und die eigene Haltung zu prüfen, vor allem wenn es um Beruf und Berufung geht. Aber egal ob es um Beruf oder um Berufung geht: Mich trägt ein Gedanke, der auf den großen Ordensgründer und Seelenkenner Ignatius von Loyola zurückgeht. Er hat einmal formuliert: „Du hast mehr Möglichkeiten als du ahnst; ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, die Gott mit dir hat.“ 1

Musik VI: Chamberjazz, Blues für Jens

Im Vertrauen darauf, dass Gott mit jedem Menschen etwas vorhat, grüßt Sie aus dem Michaelskloster in Paderborn Schwester Ancilla Ernstberger.

1 Zitiert nach Kraus, Georg u.a. Erfüllt leben. Ein ignatianisches Fitnessbuch. Freiburg i.Br. 2020

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