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Kirche in WDR 5 | 24.12.2021 | 06:55 Uhr
Das letzte Türchen
Guten Morgen am Heiligabend. Verrückt – oder? Sollte man diesen Tagesteil besser „Heiligmorgen“ nennen? Wie auch immer – ein besonderer Morgen. Kein normaler Morgen wie sonst in dieser Woche. Jeder hat da so seine eigenen Gewohnheiten – die einen schlafen ausführlich aus, weil sie die „scheinheilige Nacht“ doch sehr ausgiebig in den vollen Kneipen der Innenstädte mit allen möglichen Menschen gefeiert haben, die über die Weihnachtstage in ihre Heimat zurückkehren und sich über das Wiedersehen freuten. Und das sogar coronabedingt oft erst nach zwei Jahren. Die anderen (dazu zähle ich mich selbst auch), die doch noch das eine oder andere im Endspurt vor den Feiertagen zu erledigen haben. Egal wann wer aus den Federn kriecht: Für ganz viele gibt es einen kleinen Handgriff an diesem besonderen Morgen, der sie schon seit Kindertagen nervös und ganz unruhig macht: Das Öffnen des letzten Türchens am Adventskalender. Oder das Öffnen des letzten Säckchens, der letzten Schublade, der letzten Seite des Adventsbegleiters, den es ja in schier unendlich vielen Formen und Varianten gibt. Hinter den Doppeltürchen der papiernen Adventskalender meiner Kinderzeit verbarg sich – das war nach einigen Jahren weder ein Geheimnis noch eine große Überraschung - in aller Regel eine bunte Darstellung der Weihnachtskrippe – größer als alle anderen Bilder der letzten 23 Tage. Deutlicher Hinweis auf das, was da am Abend des Heiligabends kommen würde. Ich werde gleich wohl hinter dem letzten Türchen meines Räucher-Kerzen-Adventskalenders nach dreiundzwanzig Duftvariationen aller Art eine Weihrauch-Kerze entdecken – die dann unmittelbar entzündet wird und schon einmal etwas weihnachtlichen Duft in meiner Wohnung verbreitet. In anderen Kalendern findet sich eine besondere Leckerei, ein besonders ausgefallenes Gewürz, ein besonderes Parfüm-Flacon, ein besonderer Likör – was auch immer: Hinter der 24 steht immer etwas besonderes als deutlicher Hinweis darauf: Die Wartezeit ist zuende – jetzt beginnt wirklich etwas ganz Besonderes. Kein Schluss – Aus – Feierabend – so, wie das sicher die hunderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Weihnachtsmärkte erleben, die gestern ihre Stände geschlossen haben.
Ganz genauso geht es mit dem Text, der im Mittelpunkt der Gottesdienste steht, die heute Morgen in den katholischen Kirchen gefeiert werden. Zacharias, der Ehemann der Elisabet, spricht seine Vorausschau: „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes / wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, / die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, / und unsre Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens.“ Das ist sozusagen das 24. Türchen des „echten“ Adventskalenders, das Türchen mit dem Ausblick auf das, was kommen wird. Maria ist schon schwanger und wird sich nach dem Besuch bei Elisabet und Zacharias gleich mit Josef, ihrem Mann, auf den Weg nach Bethlehem machen, wo sich die Geburt Jesu ereignen wird. Es dauert nicht mehr lange. Die uralten Verheißungen, von denen auch die Propheten-Texte dieser letzten Tage vor Weihnachten gesprochen, ja geschwärmt haben, gehen in Erfüllung. Gott hat sozusagen das letzte Türchen aufgestoßen – jetzt sieht man schon, was sich ereignen wird. Alles ist noch einmal in Erinnerung gerufen worden, damit auch keiner das große Ereignis verpasst – Generation für Generation – jetzt, in der Endspurt-Woche Tag für Tag. Das Warten hat sich gelohnt und wird jetzt auch überreich belohnt. Für die allermeisten mit vielen Geschenken, Überraschungen und Leckereien – für alle aber, die ihre Ohren, vor allem die Ohren des Herzens spitzen mit der Geburt des Kindes in der Krippe. Ok – das ist das Kontrastprogramm, das Gott uns heute Nacht zumutet. Das große Geschenk ist für die, die nur einfach neugierig hinter das letzte Türchen schauen, vielleicht etwas enttäuschend. Doch gerade da helfen mir die Texte der vergangenen Tage immer wieder neu, das wahre Geheimnis der Menschwerdung Gottes in einem unscheinbaren Kind in elenden Verhältnissen wertzuschätzen. Das ist dann so ganz anders, als unser oft überladenes Fest. Aber es ist liebenswürdig – und es lohnt sich, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, das Gott da mit uns beginnt.
Genießen Sie den „Heiligen Morgen“, den Blick hinter das letzte Türchen des Adventskalenders und dann die Spannung des „Heiligen Abends“ bis zum Kind in der Krippe. Kommen Sie gut, gesegnet und reich beschenkt durch die Feiertage! Der Endspurt ist vorbei – und er hat sich gelohnt!
Das wünscht Ihnen Ihr Pfarrer Ulrich Clancett aus Jüchen.