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Das Geistliche Wort | 13.02.2022 | 08:40 Uhr

Leben - mit aller Macht


„Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“: seit ich diesen Vers aus dem 85. Psalm erstmals gehört habe, lässt er mich nicht mehr los. Dass die Gerechtigkeit den Frieden knutscht, wie ein verliebtes Paar, das eigentlich schon immer zusammengehört hat: Was für schönes Bild, was für ein Weg da aufgezeigt wird! Oder ist es ein Ziel?

Musik 1: Louis Armstrong, What a Wonderful World – Teil 1

Tja, wenn das so einfach wäre, dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Gerade scheint es mir dafür wieder ein paar Grade zu kalt in der Weltpolitik. Was sich in der Ukraine abspielt, klingt nicht nach einem Friedenfest. Und mit der Gerechtigkeit ist es auch nicht gut bestellt an so vielen Stellen... an Europas Ostgrenze frieren Menschen, die eigentlich auf der Flucht vor Armut und Ungerechtigkeit sind, in den Polnischen Wäldern; allein vor Spaniens Küste starben 2021 über 4000 geflüchtete Menschen im Meer. Das alles stört das Bild aus den Psalmen. Das sind Störungen – und die nehmen sich Vorrang.


Ich möchte Ihnen heute von einer Frau erzählen, die im vergangenen Jahrhundert genau das ziemlich gut im Blick hatte. Und deren Theorie beeindruckt mich sehr und prägt mehr und mehr die Art, wie ich mit Menschen zusammenarbeite. Zusammenarbeite, dass vielleicht doch mal was wird aus diesem Traum von dem Kuss, von Gerechtigkeit und Frieden.

Musik 2: Louis Armstrong, What a Wonderful World – Teil 2

Was, wenn die Stellschrauben direkt vor uns liegen? Wenn wir nur zugreifen, begreifen müssen, um zu wissen: Da geht er lang, der Weg zu mehr Gerechtigkeit und Frieden? Was, wenn wir auf nichts mehr warten müssen als auf einen Mutausbruch in uns selbst?

„Ich bin nicht allmächtig, ich bin nicht ohnmächtig, ich bin partiell mächtig.“

Dieser Satz stammt von Ruth Cohn. Sie war eine deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin. Im August 1912 wird sie in Berlin geboren, als Tochter wohlhabender jüdischer Eltern. Zunächst studiert sie auf Wunsch des Vaters Ökonomie, doch dann wird ihr Interesse für die Psychologie stärker, setzt sich durch. 1933 kommen die Nazis an die Macht und Ruth flieht in die Schweiz. Sie studiert dort weiter, belegt neben Psychologie auch Theologie, Medizin, Literatur und Philosophie. Zugleich macht sie die Ausbildung zur Psychoanalytikerin. 1941 emigriert sie mit Mann und Kind in die USA.

Ihr Ausbildungsweg lässt mich ahnen, wie suchend sie war. Sie blickte aus so vielen Perspektiven auf die Welt und die Menschen. Womöglich war auch sie, wie ich und viele andere, auf der Suche danach, dieses Leben zu verstehen. Zu verstehen, wie es gelebt werden kann, so gelebt werden kann, dass es gottgemäß und menschengerecht ist. Denn Ruth Cohn war es nicht genug, einzelne Menschen therapeutisch zu begleiten. Sie nahm das große Ganze in den Blick. In einem Interview im Jahr 1980 sagt sie:

„Es war die Couch mir zu klein, in der Zeit, wo die Nazis regiert haben, und wo mir es eben sinnlos erschien, einen Menschen auf der Couch zu haben, wenn es sich um ganze Bevölkerungen handelt.“

Musik 3: Wolf Biermann: „Ermutigung“

Ruth Cohn bleibt eine Suchende. Die Erfahrungen der Nazizeit prägen ihr Denken und Handeln. Sie befasst sich intensiv mit ganz unterschiedlichen Ansätzen der Psychologie, dem Humanismus, immer mit der Frage, wie die Menschen zueinander in Beziehungen stehen, was das Miteinander prägt und womöglich besser prägen kann. Aus ihren Studien und Erfahrungen entwickelt sie in den 50er Jahren die Themenzentrierte Interaktion, kurz TZI genannt. Ihr Ziel war es, nicht nur eine Methodenlehre zu entwickeln, die Gruppen hilft, gut miteinander zu arbeiten und lernen. Allem voran stellt sie Axiome, Grundhaltungen, ein humanistisches Wertesystem, das den Einzelnen an seine Möglichkeiten und seine Verantwortung erinnert. Ihre große Vision traut sie sich klar zu benennen:

„Genauso wie die Naturwissenschaften sich auf die Hoffnung zum Beispiel mal gestützt haben, wir wollen fliegen können, und eines Tages wurde dieser Traum Wirklichkeit. Und ich glaube, dass die Humanwissenschaften heute einen Traum haben, der sich auch verwirklichen lässt: zu einer humaneren Menschheit zu kommen.“

Musik 4: Hannes Wader, Jeder Traum

Ruth Cohns Themenzentrierte Interaktion fasziniert mich, lockt mich immer mehr, mich näher mit ihr zu beschäftigen.

Fragt man in einer Runde, ob jemand schon einmal von der TZI Ruth Cohns gehört hat, dann kommt vermutlich „das ist doch das mit dem Ich-Wir-Es-Dreieck!“. Ja, das ist es. Auch. Das berühmte Dreieck nimmt in den Blick, dass wir es in jeder Situation mit Individuen und mit Gemeinschaft, dem Wir, zu tun haben. Und das neben den Menschen die Anliegen, das ES eine Rolle eine wichtige Rolle spielt, das alle drei „Ich-Wir und Es“
stets miteinander in Dynamik sind. Doch unbedingt dazu gehört der Kreis, den Ruth Cohn um dieses dynamische Beziehungsgeschehen zwischen Ich-Wir-Es gezogen hat: Er steht für den Globe, das große Ganze, zu dem alles und alle in Beziehung stehen. Die Weltpolitik, das Wetter, die Traurigkeit oder die Freude des Einzelnen, die Stimmung zwischen Herrn Meier und Frau Müller in der Buchhaltung - Alles steht in dynamischer Beziehung zueinander.

Und alledem sind wir nicht ohnmächtig ausgesetzt. Im Gegenteil. Zu Ruth Cohns ganz zentralen Grundannahmen gehörte ihr Verständnis von Macht. Sie ruft dazu auf, sich seiner eigenen Teilmächtigkeit bewusst zu werden:

„Ich möchte Menschen, die all dieses Leid nicht wollen, ermutigen, nicht zu resignieren und sich ohnmächtig zu fühlen, sondern ihre Vorstellungskräfte und Handlungsvermögen einzusetzen, um sich solidarisch zu erklären und zu verhalten, solange wir selbst noch autonome Kräfte in uns spüren. Das ist das Eigentliche, was ich mit TZI möchte.“

Ruth Cohn macht Mut, die eigene Macht zu leben. Das ist für sie die zentrale Stellschraube, um sich auf diesen Weg zu machen, an dessen Ende womöglich wirklich Gerechtigkeit und Frieden stehen.

Ich kann mit Ruth Cohns Ansatz viel anfangen. Zu träumen, mit Haltung, und Verstand, mit Herz und der Bereitschaft zu handeln. Ja, damit kann ich viel anfangen. Und ich will Ihnen mal ganz konkret zeigen, wo sich das festmachen kann: Ich spreche von der Art, wie Christinnen und Christen Fürbitte halten.

Sonntag für Sonntag hören und verkünden die Christen die frohe Botschaft von Gottes Art zu leben, vom Reich Gottes. Sonntag für Sonntag tragen wir in den Fürbitten und Predigten dann die Diskrepanz vor Gott, all die Störungen, und sagen: „Sieh her, Gott, hier ist es noch nicht so, wie Du es Dir vorstellst, oder? Zumindest ist es da noch nicht so – und da auch nicht, wie wir uns das vorstellen.“

Ich bin dieser Fürbitten schon lange müde geworden. Mit einem Kollegen habe ich mal lange darüber diskutiert. Das ist zwar schon Jahre her, aber das geht mir noch immer nach. Mein Standpunkt damals war: Ich brauche Gott nicht vorzuschlagen, was er den Menschen auf der Flucht Gutes tun könnte oder denen, die einen Menschen verloren haben. Hat Gott nicht längst alles getan? Er hat uns eben nicht ohnmächtig und allein in diese Welt gesetzt, sondern in Gemeinschaft, ausgestattet mit Vollmachten und Talenten. Und würden wir diese ausgraben, könnten wir wirklich was bewegen!

Wenn überhaupt notwendig, dann sollten Fürbitten lediglich unsere Aufgabenzettel sein, unsere Nachdenklisten: Wo braucht es unsere Menschlichkeit, die Gott uns möglich macht?

Musik 5: Joan Baez, God is God

Und mein Kollege, mit dem ich damals über den Sinn von Fürbitten diskutiert hatte: Wie stand er dazu, dass ich es überflüssig fand, Gott mit unseren Bitten zu behelligen, statt es selbst in die Hand zu nehmen?

Der Kollege konnte da nicht ganz mitgehen. Er erinnerte mich daran, dass wir zwar freie Kinder Gottes aber mit Gott verbundenen Kinder Gottes sind. Dass wir aus dieser Verbundenheit mit ihm heraus immer wieder damit rechnen dürfen, dass da was kommt. Sein Fazit: Gott ist nicht fertig mit uns. Wir sowieso nicht mit ihm. Diese Beziehung ist lebendig. Und da kann es nicht schaden, sich mit Gott zusammenzusetzen, wenn wir diese Welt verändern wollen.

Seine Sicht hat meine deutlich erweitert. Wie das ja immer so ist:

Es braucht das gemeinsame Denken, Pläne schmieden. Und ja, auch das gemeinsame Beten, das gemeinsame sich bewusst mit Gott in Verbindung setzen, wenn wir weiterkommen wollen, auf diesem Weg namens Menschwerdung. Fürbitten sind der gemeinsame Blick aufs große Ganze, damit wir nicht auf der Einzelcouch verharren. Fürbitten halten uns in Beziehung. Und Gott gehört dazu. Sie halten uns in der Dynamik, die es uns Menschen möglich macht, Verantwortung zu übernehmen. Vom Beten ins Handeln zu kommen - und zurück.

Denn: Solange Menschen sind auf Erden, werden sie Verantwortung übernehmen müssen für das große Ganze, genau das bedeutet für mich Teilmächtigkeit. Ruth Cohn hat das so ins Wort gebracht:

„Ich kümmere mich um meine Angelegenheit, ich bin ich; Du kümmerst Dich um Deine, Du bist Du. Die Welt ist unsere Aufgabe; sie entspricht nicht unseren Erwartungen. Doch wenn wir uns um sie kümmern, wird sie sehr schön sein, wenn nicht, wird sie nicht sein.“

Ruth Cohn ist vor zwölf Jahren gestorben. Gerne würde ich mit ihr über ihre TZI und meinen Glauben ins Gespräch gehen. Gerne würde ich ihr sagen: „Frau Cohn, ich glaube ja, dass Gott es ist, der diesen Traum in uns angelegt hat und der uns unsere Teilmächtigkeit anvertraut hat. Sogar hinter den gelegentlichen Mutausbrüchen, die ich so habe, ahne ich ihn. Ja, das glaube ich, Frau Cohn: Mit Gott ist zu rechnen. Er hält ein Reich für möglich, in dem Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Und Menschen sicher auch. Was meinen Sie dazu, Frau Cohn?“

Musik 6: Barcelona Gipsy Klezmer Orchestra - Hévenu Shalom Aléchem

Mein Name ist Michaela Bans. Ich arbeite als Pastoralreferentin und Supervisorin im Bistum Münster. Ich tue das, auch, weil mich dieser 85. Psalm nicht loslässt. Weil ich der Welt diesen Moment wünsche, da Frieden und Gerechtigkeit sich küssen. Und das nicht nur kurz und flüchtig. Für heute aber wünsche ich Ihnen erst einmal einen guten Sonntag.

Quellen der Zitate: www.stiftung-ruth-cohn.de

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