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Das Geistliche Wort | 16.10.2022 | 08:40 Uhr

"Vom Marktführer zur Minderheit"

„Ich wurde zu einer Zeit geboren, in der die Mehrheit der jungen Leute den Glauben an Gott aus dem gleichen Grund verloren hatte, aus welchem ihre Vorfahren ihn hatten – ohne zu wissen warum.“ Mit diesem Satz beginnt ´Das Buch der Unruhe´ von Fernando Pessoa und wer meint, der portugiesische Schriftsteller würde die aktuelle Situation des Glaubens und der Kirche beschreiben, der irrt. Der Text ist aus dem Jahre 1930. Das Phänomen der Volkskirche und ihr Problem wurde selten treffender beschrieben. Menschen glauben das, was sie vorfinden und die Mehrheit mit ihnen teilt, ohne sich zu fragen, warum sie das tun.

Musik 1: Fado da Sina (Camané)

Ich wurde dreißig Jahre nach dem Text von Fernando Pessoa
geboren, im Jahr 1960. Und wenn man in meinen Kindertagen nach der Religionszugehörigkeit gefragt wurde, gab es eigentlich nur drei Antworten: man war evangelisch, katholisch, oder komisch. Weit über 90% der Menschen gehörten in Westdeutschland einer der zwei großen Kirchen an und die, die nicht dazu gehörten, mussten begründen, warum sie nicht „normal“ sind.

In diesem Jahr nun hat sich in Deutschland das Verhältnis zum ersten Mal seit Jahrhunderten ins Gegenteil verkehrt. Die konfessionell gebundenen Christen sind, selbst in ökumenischer Verbundenheit zu einer Minderheit geworden. Normalfall ist jetzt: Nicht mehr evangelisch oder katholisch zu sein. War der Vermerk ´konfessionslos´ früher nachteilig bei der Arbeitssuche, spielt dieser längst keine Rolle mehr und ein Kirchenaustritt hat, zumindest für Steuerzahler, sogar einen finanziellen Vorteil. Solange eine Religion ein Monopol hat, ist ihre Legitimation und Plausibilität stabiler als dort, wo die religiöse Gesellschaft nicht identisch ist mit der Gesamtgesellschaft. Jetzt und zukünftig vermehrt, werden die Kirchenmitglieder begründen müssen, warum sie nicht zur Mehrheit gehören, und ich befürchte, dass die Wenigstens dazu in der Lage sind.

Musik 2: Fado da Sina (Camané)

Die Gefahr eines jeden Monopolisten ist, dass er seine marktbeherrschende Stellung selbst nicht in Frage stellt und wenn sie dann doch bedroht wird, ist es meist schon zu spät. Können Sie sich noch an das Blackberry erinnern? Im Jahre 2000 wurde es eingeführt und war einer der marktbeherrschenden Smartphones mit Internetzugang sowie Mailfunktion und sah mit seinem winzigen Tastenfeld aus wie eine kleine Schreibmaschine. Der Firmensitz von Blackberry in den USA befindet sich in der Stadt Waterloo und das, was Sie denken, wenn Sie das Wort hören, lässt sich im übertragenen Sinne auch in Verbindung bringen mit diesem Marktführer. Sieben Jahre später ging das IPhone mit einem Touchscreen statt echter Tasten an den Start. Blackberry erlebte sein Waterloo und verschwand vom Markt.

Ich will auch ein positives Beispiel zum Thema Marktführerschaft nennen, ebenfalls aus der Wirtschaft. Der High-Tech Maschinenbauer ASML ist in den Niederlanden ein Börsenkomet. ASML arbeitet in Eindhoven eng mit der technischen Universität zusammen. In der Kooperation fordert er von der Uni ausdrücklich, Grundlagenforschung zu betreiben, unkonventionell und kreativ zu denken. Begründet wird dies damit, dass man seine Marktführerschaft nur ohne Scheuklappen behaupten kann. ASML sagt der Uni und den Studierenden „Überrascht uns, kommt mit einem Out-of-the-box Konzept, damit uns nicht das passiert, was mit Blackberry passiert ist.“

Doch zurück zum Religionsanbieter, dessen Produkt, anders als in der freien Wirtschaft, anderen Plausibilitäten folgt. Weltfremd und angestaubt darf auch dieses freilich nicht sein, wobei es einen wesentlichen Unterschied gibt: das Produkt Glaube, für uns der christliche Glaube, wird von den unterschiedlichsten Kirchen angeboten und – und das ist einzigartig – das gibt es auch ohne diese Anbieter.

Musik 3: Fado da Sina (Camané)

Noch einmal das Zitat von Fernando Pessoa: „Ich wurde zu einer Zeit geboren, in der die Mehrheit der jungen Leute den Glauben an Gott aus dem gleichen Grund verloren hatte, aus welchem ihre Vorfahren ihn hatten – ohne zu wissen warum.“ Er begründet seine Einschätzung damit, das der menschliche Geist eher fühlt, als denkt, weshalb ich eine Verkündigung des Glaubens, die nicht im Herzen des anderen ansetzt, für verfehlt halte.

Diese Erkenntnis, dass viele Menschen glauben oder auch nicht, ohne darüber nachzudenken, ist bald hundert Jahre alt und ich befürchte, sie wird noch immer nicht wirklich akzeptiert. Die schwindende Kirchlichkeit der letzten Jahrzehnte wurde zwar nie bestritten, aber beantwortet wurde sie hauptsächlich mit dem Prinzip Hoffnung, dass es doch wieder so wird wie es war. Gleichzeitig wurden auch viele Initiativen gestartet, leider ohne bleibenden Erfolg. So erinnere ich mich in meiner Jugend in den 70er Jahren an die Frühschichten und unsere Pfarrkirche war vor der Schule schon voll mit jungen Menschen. Nach einigen Jahren ebbte das Interesse ab und es folgten die Spätschichten, bis auch diese mangels Interesses eingestellt wurden. Moderne Musik, Jugendmessen, Taizé, Weltjugendtage, großartige Ideen, beeindruckende Begegnungen, nur wurde daraus keine Volkskirche mehr.

Dann setzte man die Hoffnung darauf, dass die Menschen im Alter zurück in die Kirche kommen würden. Doch wenn in einem vergreisenden Land wie dem unsrigen die Kirchen sich unaufhaltsam leeren, dann liegt das nicht an der ausbleibenden Jugend, sondern an den Alten, die nicht mehr kommen.

Musik 4: Adiós noniño (Astor Piazzolla)

Was die bekannte Devise „Not lehrt beten“ meint, nämlich eine Katastrophe belebt die religiöse Praxis, wurde zwar nicht herbeigesehnt, aber hier und da konnte man doch hören, dass die Menschen wieder zur Kirche kommen würden, wenn es ihnen nur schlechter gehen wird. Am 16. Januar 1991 begann der Angriff auf den Irak und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie voll die Kirchen an den folgenden Wochenenden waren. Dreißig Jahre später jedoch vermochten es weder die Corona-Pandemie noch der Ukrainekrieg, dass die Kirchen sich wieder füllten. Inzwischen scheint selbst die Devise von „Not lehrt beten“ ihre Gültigkeit für eine Religiosität unter äußerem Druck verloren zu haben. Der schleichende Auszug, die wachsende Distanz und eine jährlich größer werdende Austrittswelle haben dazu geführt, dass die Kirchen sich im freien Fall befinden. Die Marktführer von einst sind auf dem Weg in die Minderheit.

Ich kann Sie beruhigen, auf diese Situationsbeschreibung folgt weder Klage, noch ein erneutes Beschwören der Hoffnung. Ich plädiere für ein bewusstes Aushalten der Situation, denn ich sehe kaum Möglichkeiten, sie aktiv zu verändern. Wir können sie aber bewusst durchschreiten und in ihr viel lernen.

Wer so lange auf die bindende Kraft der Tradition gesetzt und darüber seine Zukunft verspielt hat, der sollte als Erstes die Angst vor ihr verlieren. So wie es war, wird es nicht mehr werden und wenn wir dies eingesehen haben, dann können wir uns der Zukunft sogar freudig zuwenden.

Womit wurde bei schwindender Kirchenbindung unsere Relevanz zuletzt noch begründet? Besonders überzeugend sind in unserer Gesellschaft ein praktischer Nutzen und ein persönlicher Mehrwert, weshalb gerne das sozial-caritative Engagement der Kirchen hervorgehoben wird, denn es ist dem Leben der Menschen dienlicher als die geistliche Motivation, aus denen heraus es geschieht. Nach außen mag sich die Kirche durch ein solches Engagement gut begründen. Aber nach innen begründet sich der christliche Glaube nicht allein mit dem, was die Kirche für die Gesellschaft tut, selbst wenn sich für viele Menschen ihre Berechtigung darin erschöpft.

Musik 5: Fado Xuxu (Frederico Valério)

„Denn wir essen Brot, aber wir leben vom Glanz“ Dieses Wort von Hilde Domin ist für mich wie eine Brücke zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, denn sie gibt beidem sein Recht. Und was die sichtbare Welt überschreitet, gehört zum Wesenskern dessen, was Kirche betrifft und angeht. Ausdrücklich möchte ich mich an dieser Stelle selbst in die Pflicht nehmen, denn bei allen Gottesdiensten, Trauungen, Taufen und Beerdigungen versuche ich etwas von dem Glanz aufscheinen lassen, der in unserer Botschaft zu finden ist. Damit dies heutzutage gelingt, müssen wir eine Sprache sprechen, die nicht mehr bei der Tradition und der Lehre der Kirche ansetzt, sondern im Leben, der Erfahrungen und der Denkweise der Menschen. Eine gut gestaltete Feier, ihre Zeichen und Worte können die Tür zu einer Dimension eröffnen, die dem Leben der Mitfeierenden einen wohltuenden Glanz verleiht. Es war dann ein gelungener Gottesdienst, wenn wir aus ihm etwas aufgerichteter herausgehen als wir hineingegangen sind und Kindern habe ich mit diesem Gedanken erklärt, warum unsere Kirchen so groß und so hoch sind: Damit jeder Mensch darin Platz findet und wir alle aufrecht vor Gott stehen können.

„Die Ernte ist groß, aber es gibt zu wenig Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden.“ (Lk 10,2ff) Lange - viel zu lange - haben Verantwortliche und Gemeindemitglieder auf das Modell einer Kirche gesetzt, in der nur Priester Erntehelfer sein durften. Als diese dann immer weniger wurden, konnte dank starker Finanzmittel das Problem kompensiert werden mittels bezahlter Laien. Im Lukasevangelium schickt Jesus 72 Jünger aus, nachdem er von der Ernte gesprochen hat. Ohne eine Zahlensymbolik allzu sehr zu bemühen, mir gefällt das Bild der christlich-mittelalterlichen Welt, in der die 72 der Zahl der gesprochenen Sprachen bzw. Völker entspricht. Das heißt, die Botschaft des Evangeliums ist zu allen Menschen gesandt und alle Jünger und Jüngerinnen sind ihre Botschafter. Entscheidend, ja fast überlebenswichtig für unsere Zeit finde ich daher die Erkenntnis, dass alle Getauften Erntehelfer sind und nicht nur die, die dafür bezahlt werden. Folgerichtig führt das dann aber auch zu einer anderen Struktur in der Kirche mit weniger Machtgefälle nach unten, aber auch weniger Arbeitsdelegation nach oben.

Musik 6: Fado Vianinha (Francisco Viana)

„Gott liebt die Monopole nicht“ So sagte es der Schweizer Dichter und Pfarrer Kurt Marti und die christlichen Kirchen werden sich in unserem Land daran gewöhnen müssen, dass sie selbst in ökumenischer Verbundenheit keine Monopolisten mehr sind. In einigen Ländern der Erde sind die Christen es gewohnt, im Dialog zu sein mit anderen, oft größeren Religionsgemeinschaften. Ein solcher Dialog, in unserer Gesellschaft auch mit Agnostikern und Atheisten, wird der Theologie gut tun.

Im Sinne einer ökumenischen Verbundenheit hätte ich es begrüßt, wenn bei der Pandemie nicht jede Gemeinde ihren eigenen Gottesdienst, oft in mäßiger Qualität gestreamt hätte, sondern die Kirchen mit einem gemeinsamen Aufruf alle Gläubigen zu dem einen Fernsehgottesdienst am Sonntagmorgen eingeladen hätten, der ohnehin gesendet wird. Was für ein Zeichen hätte dies sein können.

Zum Schluss will ich Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, noch ein Beispiel nennen, an dem Sie sehen können, dass ein Minderheitenstatus durchaus auch sein Gutes hervorbringen kann. Bei Trauergesprächen werde ich hin und wieder damit konfrontiert, dass einer der beiden Eheleute um des lieben Friedens willen, vor der Trauung die Konfession wechseln musste und darunter gelitten hat. Wenn heutzutage ein Kind aus einer praktizierenden Familie seinen Eltern mitteilt, dass es sich verliebt hat in einen Menschen einer anderen Konfession, der ebenfalls praktiziert, dann ist das, was vor Jahrzehnten ein Manko war, inzwischen zum ökumenischen Sechser im Lotto geworden, ohne das sich an der Theologie der Konfessionen viel geändert hätte. Ist das nicht ein Fortschritt?

Das erste Mal vor 1700 Jahren wurde in unserem Land das Evangelium verkündet. Damit dies auch zukünftige Generationen hören, muss der Resonanzraum Kirche sich ändern, nicht die Botschaft. Wir stehen an einer Zeitenwende. Ich bin voll gespannter und freudiger Erwartung auf das, was wir in Zukunft daraus machen.

Musik 7: Fado Vianinha (Francisco Viana)

Einen schönen Sonntag wünsch Ich Ihnen! Ihr Pfarrer Thomas Frings aus Köln.

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