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Das Geistliche Wort | 30.10.2022 | 08:40 Uhr

Niemals ganz allein

„Kann alleine“. „Kann allein, bin schon groß!“

Liebe Hörerinnen und Hörer, wer mit Kindern zu tun hat, kennt diesen Ausspruch. „Kann alleine!“

Es ist ein Meilenstein in der Entwicklung eines Kindes, wenn es das sagen kann. Denn der Ausspruch setzt viel voraus: Zutrauen ist gewachsen bei dem kleinen Menschen. Andere haben dem Kind Fähigkeiten und Selbstbewusstsein vermittelt: Mutter, Vater, größere Geschwister und viele weitere. Dabei scheint es paradox: Zu „Kann alleine!“ kommt niemand ganz allein.

MUSIK I: George Benson, Being with you

„Kann allein, bin schon groß!“

Was für Kinder einen Meilenstein der Entwicklung markiert, ist von Erwachsenen kaum noch zu hören. Es scheint zu selbstverständlich. Oft stimmt es ja auch, wir können viel alleine. Das macht uns unabhängig. Aber bei aller Wertschätzung der Unabhängigkeit: Ich frage mich, können wir alles allein? Müssen wir alles allein schaffen? Gibt es nicht doch zu viele Situationen, die mich überfordern, wo ich es eben nicht alleine kann und nicht alleine schaffe? Und dann? Dann brauche ich die Hilfe von anderen. Denn ohne die Hilfe von anderen bin ich allein und schließlich verlassen.

Erst letztens. Da fühlte ich mich einmal so richtig verlassen. Ich bin katholische Ordensschwester und habe Leitungsaufgaben. Deshalb muss ich oft auf überregionale Konferenzen, wo ich viele Menschen treffe, die ich nicht kenne. In der Regel kann ich damit gut umgehen. Aber diesmal fühlte ich mich auf einer Versammlung total unwohl. Und dann passierte auch noch ein Missverständnis. Hört sich vielleicht banal an, war es aber an dem Tag für mich keineswegs: Ich fand den Raum für die geplante Gruppenarbeit nicht. Plötzlich allein! In einem großen Konferenzzentrum – echt verloren.

In Windeseile schrumpfte ich innerlich zu einer Erstklässlerin zusammen und musste mich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Niemand auf dem Flur, den ich hätte fragen können. Allein! Wie froh war ich, als schließlich jemand auftauchte, der helfen konnte. Denn alleine hätte ich nicht weiter gewusst. Eine riesige Erleichterung, obwohl es für Außenstehende nur eine einfache Situation war.

Ich weiß nur zu gut: Es gibt viel viel schwierigere Situationen, die Angst machen können. Und durch die kommen wir alleine erst recht nicht durch. Da brauchen wir immer wieder Menschen, die helfen und uns beistehen. Aus meiner Erfahrung in meiner alternden Ordensgemeinschaft denke ich an die Schwester, die in ihrer Demenz nicht mehr versteht, warum sie im Krankenhaus ist. Ich denke an die Flüchtlinge, die bei uns wohnen, die sich im fremden Land nicht verständigen können. Ich denke an politische Gefangene, die in Haft sitzen, weil sie ihrem Gewissen gefolgt sind. Sie alle brauchen andere Menschen, die ihnen helfen und beistehen. Und ich würde noch weiter gehen und grundsätzlich sagen: Nein, wir kommen alle nicht allein durch dieses Leben. Niemand von uns.

MUSIK II: George Benson, Affirmation

Wir kommen nicht allein durchs Leben. Immer wieder brauchen wir andere Menschen. Für mich zeigt sich das beispielsweise beim Sport: Der innere Schweinehund wird leichter besiegt, wenn ich mich zum Joggen oder zum Schwimmen mit jemand verabrede. Gemeinsam geht’s oft leichter. Und vielleicht bin ich auch deshalb Ordensfrau geworden: Mir hilft es, mit anderen gemeinsam zu beten. Wenn ich weiß, dass die anderen jetzt auch zum Gebet gehen, raffe ich mich leichter auf, denn auch zum Beten muss ich manchmal einen inneren Schweinehund überwinden.

Glauben geht einfach nicht gut allein. Glauben lebt vom Austausch. In meiner Ordensgemeinschaft zum Beispiel tauschen wir uns regelmäßig mit anderen Menschen über biblische Texte aus. Das bereichert! Denn neue Sichtweisen kommen hinzu, auf die ich alleine gar nicht gekommen wäre. Und es überrascht mich auch nicht, dass viele Menschen nach geistlicher Begleitung fragen. Zunehmend entdecken Menschen geistliche Begleitung als eine Hilfe auf ihrem persönlichen Weg. Auch bei uns Ordensleuten bitten Menschen immer wieder darum. Sie haben das Vertrauen, ein offenes Ohr zu finden. Und eine Rückmeldung, die mir jemand anbietet, kann mich weiterbringen.

Wenn wir in der Ordensgemeinschaft oder in einer Gruppe gemeinsam überlegen, kommen uns bessere Ideen für anstehende Aufgaben als beim einsamen Nachdenken. Das alles kann unter dem Motto stehen: „Ich kann es nicht allein schaffen und ich brauche es auch nicht allein zu schaffen.“ Das ist für mich eine zentrale Erfahrung, wie Kirche ist und sein soll: Gemeinsam sind wir bunter, stärker, umfassender, auch im Glauben. Was eine von uns hat, kommt allen zugute. Was einer kann, ist im Pool unserer Fähigkeiten.

MUSIK III: George Benson, Brezin’

Ich bin nicht allein, muss nicht alles können, muss es nicht allein schaffen. Gemeinsam sind wir stärker. Für mich endet diese Gemeinschaft nicht mit denen, die mit uns auf dieser Erde leben, sondern sie reicht viel weiter. Und das zeigt sich für mich, wenn die katholische Kirche diese Woche das Fest Allerheiligen feiert. Sie feiert dann, wie weit die Gemeinschaft reicht, nämlich über den Tod hinaus. Was das bedeutet? Wir sind selbst dann nicht allein, wenn niemand mit uns im Raum ist. Die, die vor uns waren können mir als Vorbilder in meinem Alltag helfen. Sie können mich animieren, mutig und entschieden meinen Weg zu gehen. Menschlich, christlich, mit Gott. Jede und jeder von uns steht doch auf den Schultern von denjenigen, die vor uns waren. Was verdanke ich nicht alles meinen Eltern, Großeltern, den früheren Generationen? Das macht mich stark – und vielleicht sogar bescheiden. Denn so bin ich Teil eines größeren Ganzen.

Die katholische Kirche feiert Allerheiligen, weil sie glaubt, dass es unzählige Menschen gibt, die uns Lebenden schon einen Schritt voraus sind. Sie sind schon den Schritt durch den Tod gegangen, aber zugleich sind sie uns immer noch verbunden. Dazu gehören nicht nur die, die wir gekannt haben, sondern auch viele, die schon lange vor uns gelebt haben. Niemals allein, nicht einmal in der äußersten Verlassenheit. Mir ist dieser Gedanke sehr nah und sehr lieb. Aber ich weiß natürlich auch, dass es Menschen gibt, denen es schwer fällt, das zu glauben, oder die die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod ablehnen. Aber ich finde es einen tröstlichen Gedanken, dass die Toten uns nahe sind und leben.

MUSIK IV: Sting, Fantasy

Übrigens: Bevor die katholische Kirche Allerheiligen feiert, feiert die evangelische Kirche das Reformationsfest. Dass diese beiden Feste so nah beieinander liegen, freut mich sehr. Für mich hat dieses Zusammentreffen auch eine übertragene Bedeutung: Niemals ganz allein zu sein, heißt auch, niemals ganz allein zu glauben. Katholische und evangelische Christenmenschen müssen nicht allein für sich stehen. Ich bin überzeugt: Die evangelischen und die katholischen Traditionen können sich gegenseitig bereichern: Wie schön, wenn die Betonung der Heiligen Schrift und eine Liturgie voller Zeichen zusammenkommen. Gern auch noch angereichert durch die Ikonen der orthodoxen Christen. Konfessionalität könnte überwunden werden: Wenn alle Christen so am Evangelium orientiert wären, das heißt „evangelisch“, dass wir rechtgläubig, das heißt ja „orthodox“, wären, dann wären wir endlich umfassend – und das meint eigentlich „katholisch“.

Ich erinnere mich noch gerne an das Reformationsjubiläum 2017. Da haben evangelische und katholische Ordensleuten zusammen ein Fest gefeiert. Ja, das war wirklich ein Fest, mit Essen und gemeinsamem Abendgebet in der Kirche. Es zeigte allen Beteiligten damals: Wir sind nicht allein. Niemals. Das war eine wichtige Erfahrung. Aber es braucht noch viel mehr Mut, um miteinander Christinnen und Christen zu sein, über alle Konfessionsgrenzen hinweg. Ich wünsche es mir sehr, dass gelingt, was Jesus sich gewünscht hat (Joh 17,21): Alle sollen eins sein. Wir Christen können und müssen noch viel voneinander lernen – wie schön, dass wir auch das nicht allein tun müssen.

MUSIK V: George Benson, Tenderly

Es gibt so viele Erfahrungen, dass wir nicht allein sind. Und das nicht nur in Bezug auf jeden Einzelnen oder auf die verschiedenen Konfessionen. Ich würde den Kreis sogar noch weiter ziehen: Auch wir Christinnen und Christen sind nicht allein. Im letzten Urlaub habe ich ein Buch gelesen von Navid Kermani, dem deutsch-iranischen Schriftsteller und Orientalisten, der vielfach ausgezeichnet ist. Das Buch heißt: „Jeder soll von da, wo er steht, einen Schritt näher kommen.“

Ein wunderbares Buch: „Jeder soll von da, wo er steht, einen Schritt näher kommen.“ David Kermani, ein Moslem, erklärt seiner 12-jährigen Tochter seine Sicht des Islam und beschreibt dabei zugleich das Judentum und das Christentum. Ob er bei seiner Tochter damit angekommen ist, weiß ich nicht so recht. Aber mich hat es voll erwischt. Und mir wurde bei der Lektüre klar: Nein, wir Christen sind nicht allein mit unserem Vertrauen auf einen Gott, der das Leben liebt. Wir Christen sind verbunden mit den Muslimen in der Erfahrung eines Gottes, der im Herzen wohnt und im Atem – wie Herr Kermani sagt.

Ich habe selten ein zeitgenössisches Buch gelesen das so voll ist von bewegender Mystik und Poesie. Und da unten, in den Tiefen der Mystik, da treffen wir uns: Christen, Muslime und Juden. Ja, sogar mit denen, die anderen Religionen angehören, gibt es so viele Gemeinsamkeiten. Das Buch dieses muslimischen Mannes hat mich neu spüren lassen, dass ich niemals ganz allein bin, weil Gott mit uns Menschen ist, ganz nah. Gott im Herzen, Gott in den Religionen, Gott in den Kirchen, Gott im anderen, Gott in einem Buch, Gott in der Schöpfung.

Wir sind niemals ganz allein. Wir müssen es nicht allein schaffen. Und ich frage mich: Ob wir Menschen das verstanden haben? Ob das bei uns Wurzeln geschlagen hat? Von mir selbst kann ich sagen: Manchmal spüre ich das. Dann aber scheint da wieder nichts zu sein. Manchmal erfasst mich Panik des Alleinseins, dann aber weiß ich wieder tief drinnen: Ich bin nicht allein.

MUSIK VI: George Benson, Weekend in LA

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch eine weitere Erfahrung erzählen, die mich geprägt hat. Vor einiger Zeit war ich mit einer Gruppe zu Exerzitien in der jordanischen Wüste. Als wir an einem Tag eine Zeit lang jede für sich allein waren, habe ich mich verlaufen und den Treffpunkt der Gruppe nicht wiedergefunden. Als ich merkte, dass irgendetwas nicht stimmte, kam es eben nicht, das erwartete Panikgefühl, was mich sonst manchmal überfällt, wenn ich mich verlassen fühle. Ich blieb total ruhig. Etwas in mir gab mir eine Gelassenheit und ein tiefes Vertrauen. Du bist nicht allein. Und so rief ich in regelmäßigen Abständen den Namen des Gruppenleiters, bis ich irgendwann gehört wurde. Als ein begleitender Beduine hinter einer Felsspitze auf mich zugelaufen kam, war das für mich eine Gotteserfahrung – und zugleich eine Erfahrung menschlicher Nähe und großer Freude. Dann kam auch der Gruppenleiter und nahm mich erleichtert fest in den Arm. Niemals ganz allein.

Wie beglückend das sein kann, so eine Erfahrung. Ich weiß allerdings nicht, ob ich bei einer ähnlichen Situation nicht doch wieder in Panik verfalle oder ob ich dann wieder die Gelassenheit und das Vertrauen habe: „Du bist nicht allein!“ Es bleibt wohl immer ein Lernprozess, mir bewusst zu machen: Du bist niemals allein. Lebenswege, Lernwege – da gibt es Rückfälle und Auf und Ab. Wie gut, dass wir auch auf diesen Lernwegen nie ganz allein sind.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie immer wieder darauf vertrauen können: Du bist niemals allein. Ihre Schwester Katharina Kluitmann aus Münster

MUSIK VII: Shirley Bassey, You'll Never Walk Alone


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