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Nach Hause kommen

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Kirche in WDR 5 | 24.11.2022 | 06:55 Uhr

Nach Hause kommen

Für medizinisches Personal in Krankenhäusern gehört der Tod irgendwie zum Beruf dazu. Immer wieder sterben dort Menschen aufgrund von schweren Krankheiten oder Verletzungen. Damit können die Pflegenden in der Regel gut umgehen. Wenn allerdings ein Kind stirbt, geht das den behandelnden Personen durchaus mal an die Nieren. Eine Intensivschwester erzählte mir als Seelsorger bei einer zufälligen Begegnung: „Der Notarzt brachte einen Säugling mit Kreislaufstillstand. Wir haben wirklich alles gegeben, lange reanimiert. Wir wollten es nicht zulassen, dass dieses kleine Menschlein geht. Aber es half nichts. Wir konnten den Kleinen nicht retten. Also blieb dem verantwortlichen Arzt schließlich nichts anders übrig, als die Bemühungen einzustellen. Und dann geschah etwas Wundervolles: Als ich nochmal auf das tote Kind sah, fiel durch die Lamellen am Fenster ein Sonnenstrahl auf die Stirn des Jungen. Da wusste ich: Jetzt ist er gegangen. Jetzt ist er im Himmel.“

Auch wenn ich nicht dabei war: Diese Geschichte geht mir ans Herz. Nicht nur das tragische Schicksal des Säuglings. Viel mehr berührt mich, wie die Krankenschwester deutet, was sie gesehen hat. Eigentlich ja ganz banal: Die Sonne scheint durchs Fenster auf den toten Säugling. Die anderen haben das vielleicht gar nicht wahrgenommen oder sich nichts dabei gedacht. Aber diese Schwester sieht mehr als einen Lichtschein. Für sie ist das Licht auf der Stirn ein Zeichen, ein Zeichen des Himmels. Ich weiß nicht, ob diese Krankenschwester an Gott glaubt. Aber ich denke trotz der ganzen Tragik für die Angehörigen, die ich natürlich nicht kenne: Ja, dieser kleine Mensch ist doch zu Hause angekommen. Obwohl er ja erst am Anfang seiner Reise durch das Leben stand.

Mit zu Hause meine ich in dem Zusammenhang Gott, der alles Leben vollendet, egal ob es kurz oder lang dauerte, egal, unter welchen Bedingungen ein Mensch lebte. Gott nimmt diesen kleinen hilflosen Menschen zu sich und lädt ihn ein in ein unendliches, wunderbares Leben.

Es wäre für mich als Vater auch unsäglich schmerzhaft, wenn ich einen meiner Söhne verlieren würde. Und ich weiß nicht, ob mich diese Vorstellung vom wunderbaren Leben trösten würde. Vielleicht würde mir auch ein Text aus dem Alten Testament helfen. Dort spricht Gott: „Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, ohne Erbarmen sein gegenüber ihrem leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergisst: Ich vergesse dich nicht.“[1] Diese Zusage galt vor über 2500 Jahren dem Volk Israel, und sie gilt noch heute, und zwar uns. Das Bild von einem sorgenden Gott, der niemanden vergisst, tröstet mich irgendwie. Ich höre daraus, dass auch kleine Kinder, die ja besonders auf Schutz und Sorge von Erwachsenen angewiesen sind, bei Gott geborgen sind. Dass er sie sieht und liebt, auch und gerade dann, wenn sie leiden oder sogar sterben müssen. Und ich würde den Bogen noch weiter spannen: Die Zusage Gottes gilt natürlich auch für Erwachsene. Ich vertraue darauf: Er vergisst mich nicht. Mich nicht und all die anderen Menschen.

An der Stelle im Buch Jesaja schließt Gott eine weitere Zusage an: „Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.“[2] Dieses Bild erinnert mich an früher, als ich mir Dinge, an die ich unbedingt denken musste, mit Kuli in die Hand geschrieben habe. So stelle ich mir vor, dass Gott die Namen aller Menschen in seine Hände geschrieben hat. So als Gedächtnisstütze. Und manchmal fordere ich ihn auf, wiederum bildlich: „Jetzt guck doch mal auf deine Hände und denke an diesen und jenen Menschen!“ Besonders wenn ich mitfühle mit denen, die gerade leiden müssen. Und wenn ich die vor Augen habe, die sinnlos und zu früh sterben, durch Krebs, Covid oder eine andere Krankheit, auf der Straße oder im Krieg. Ich hab die Hoffnung, dass Gott an sie denkt.

Die Zusage Gottes: „Ich vergesse dich nicht. Ich habe dich aufgeschrieben in meine Hände“, sie lässt mich hoffen und glauben, dass Gott sein Versprechen wahrmacht. Und das macht es mir etwas leichter zu akzeptieren, wenn Menschen aus meiner Sicht zu früh sterben, wie der kleine Säugling im Krankenhaus.

Daher glaube ich auch, dass der Tod ein Ende ist, aber nicht das Ende.

Herzlich grüßt Sie Pastoralreferent Martin Dautzenberg


[1] Jes 49,15

[2] Jes 49,16



































































































Jesus überspielt seine Wunden nicht. Er tut nicht so, als sei alles in Ordnung. Doch bevor er ihnen seine Wunden zeigt, sagt er: „Friede!“ Vielleicht sagt er dieses weitende Wort „Friede“ zugleich sich selbst und den anderen. Er öffnet sich, er zeigt sich. So haben auch die anderen die Chance, sich zu öffnen, genauer hinzusehen, sich der Realität ihrer eigenen Wunden und ihres eigenen Anteils an der gemeinsamen Geschichte zu stellen.

Den Weg zum anderen finde ich nur durch die enge Tür meines eigenen Lebens. Nur wenn ich mich selbst gut wahrnehme, kann ich auch andere gut wahrnehmen. In dem Maße wie ich mich selbst verstehe, lerne ich zugleich, andere zu verstehen.

Dank der ruhigen Begegnung mit den Wunden Jesu und ihrem eigenen Anteil freuen sich die Jünger, Jesus wiederzusehen. Und zur Bekräftigung sagt Jesus noch einmal: „Friede mit euch!“ (Vgl. Joh 20,19-21)





























Max Frisch prägt in einem seiner Tagebücher für diese Haltung ein treffendes Bild: Dem anderen die Wahrheit nicht wie einen nassen Lappen ins Gesicht schlagen, sondern wie einen Mantel hinhalten – zum Anziehen!

So können Wunden zu Erkennungszeichen und zu Verbindungszeichen einer innigen Beziehung werden – genau in dem Maß, wie es ein Wachsen in gegenseitiger Sensibilität und Achtung gibt!

Gott, je klarer ich mich selbst erkenne, desto klarer erkenne ich die anderen. Und je tiefer ich mich selbst verstehen lerne, desto tiefer lerne ich die anderen verstehen. In der Bibel lese ich: „Liebe den anderen, denn er ist wie du.“[1] Hilf mir, gerade in belastenden Situationen anderen verbunden zu bleiben. So kann ich wachsen – mit ihnen gemeinsam.

Aus Aachen grüßt Sie

Spiritual Georg Lauscher

[1] Übersetzung nach Martin Buber

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