Ankommen

Aus rechtlichen Gründen enthält das Audio nicht die im Manuskript genannte Musik.

Autor: Wie bin ich der geworden, der ich bin? Ergeben die Wege und Umwege, die ich gegangen bin, im Rückblick einen Sinn? Das Wort »Sinn« kommt aus dem Indogermanischen. Es bedeutet »einen Weg einschlagen«.

Ich habe zuletzt die Wege nicht mehr verstanden, die ich gehen musste.

Bin durch dunkle Täler der Traurigkeit gegangen, war auf Abwege geraten, bin an meine körperlichen und seelischen Grenzen gestoßen. So konnte es nicht mehr weitergehen. Da sind in der Pandemie Freundschaften zerbrochen. Beruflich steckte der Karren fest. Ich sah mich gezwungen, meinen Arbeitsplatz zu wechseln. Und der plötzliche Tod meiner Mutter in zu heißen Sommertagen gab mir den Rest.

Manchmal haut dich das Leben um, geht dir der Boden unter den Füssen verloren, ist es notwendig, einen neuen Weg einzuschlagen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Viele werden das so oder ähnlich kennen. Ich möchte heute Morgen mit Ihnen erkunden, was Licht in unser Dunkel bringen kann, was Sinn macht, wenn alles Sinnlos erscheint. Worauf ist zu achten, um am Ende des Weges gut anzukommen? Ein lockerer Spaziergang, ein Katzensprung wird das nicht.

Musik 1:

Titel: Fragile; Interpret: Freddie Hubbard; Album: Times Are Changing; Label: Capitol Records; LC: 00148

Autor: Als ich nicht mehr weiterwusste, fiel mir das Buch von Stefanie Stahl in die Hände: »Das Kind in dir muss Heimat finden«. Darin beschreibt sie als Psychotherapeutin, wie sehr wir uns da-nach sehnen, angenommen zu sein und geliebt zu werden. Im Idealfall entwickeln wir in der Kindheit ein gesundes Selbst- und Urvertrauen, das uns erwachsen werden und selbstbewusst in der Welt stehen lässt. Im Regelfall prägen jedoch allerlei Kränkungen, Enttäuschungen und Verunsicherungen unser Leben.

Da wurden Bedürfnisse nicht befriedigt oder äußerten sich Eltern abwertend über uns. Das prägt dich ein Leben lang. Jedes Kind braucht sichere Bindungen. Es bedarf der Ermutigung zur Selbstständigkeit. Wir sind angewiesen auf die Erfüllung unserer leiblichen Grundbedürfnisse. Jedes Kind sehnt sich nach Wertschätzung. Herrscht hier in Kindestagen Mangel, wächst in uns ein Schattenkind heran, dass unbewusst unser Verhalten steuert. In unserem emotionalen Rucksack schleppen wir dann zu viele unverdaute Erlebnisse mit uns herum. Die ticken dann wie kleine Zeitbomben in uns, können uns jederzeit triggern, zu unangemessenen Reaktionen führen. Vom Weg unseres Schattenkindes zum Sonnenkind erzählt Stefanie Stahls Bestseller.

Ihr Buch stieß in mir eine Tür zu einem Weg auf, der bis heute anhält. »Du öffnest die Bücher und sie öffnen dich.« hat der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow einmal formuliert. So erging es mir. Meine Auseinandersetzung mit Stahl ließ mich selbst anfangen, mir die Dinge von der Seele zu schreiben. Das ist meine Art, wieder Boden unter den Füssen zu verspüren. Wenn ich im Rückblick verstehe, was geschehen ist, stehe ich fester in der Welt und kann ich das Leben wieder neu angehen. Ich entdeckte dabei, dass mein Hänschen zum Hans, mein inneres Kind erwachsen werden muss, um eine innere Heimat zu finden, um auf meinem Weg gut anzukommen. Davon will ich erzählen.

Mir steht dabei als Bild ein alter Baum vor Augen. Er wächst Jahr um Jahr, ob es stürmt oder schneit. Ring um Ring wird er größer, wird er erwachsener. Aus meinem Nachdenken ist ein Gedicht entstanden das die Überschrift: „Ankommen“ trägt. (1)

Musik 2:

Titel: Forever and ever; Komposition/Interpret: Wolgang Haffner; Album: Silent World; Label: ACT Music+Vision; LC 07644

Sprecher (overvoice):

ankommen

alles wesentliche

ist ein geschenk

alles wachstum

ist ein geschehen

solange

sonne und regen

tag und nacht

nicht vergehen

wachsen wir heraus

aus zu kleinen schuhen

aus zu engen häuten

reifen wir ring um ring

der ewigkeit entgegen

wie ein baum

seine wurzeln wachsen

tief in den mutterboden hinein

seine äste strecken sich

weit in die welt hinaus

zum menschen hin

zum himmel hoch

polaritäten halten

alles in spannung

schenken dem leben

unverfügbare kräfte

einen tieferen sinn

um heimat zu finden

um erwachsen zu werden

um anzukommen

Musik 3:

Father and Son; Interpret: Cat Stevens; Album: Tea for the Tillerman (2020 Remaster); Label: Island (Universal Music); LC: 97777

Autor: In dem Song von Cat Stevens sagt der Sohn:

Sprecher: Ich sehe jetzt einen Weg für mich, und weiß, dass ich gehen muss.

Autor: Der Sohn bricht auf. Ein beliebtes, auch biblisches Motiv. Mich erinnert es an das alte Kinderlied „Hänschen klein“.

Sprecherin:

Hänschen klein, ging allein in die weite Welt hinein.

Stock und Hut stehn ihm gut, wandert wohlgemut.

Doch die Mutter weinet sehr, hat ja gar kein Hänschen mehr.

Da besinnt sich das Kind, läuft nach Haus geschwind.

Autor: Was besingt dieses Lied? Hänschens Selbstbewusstsein ist nicht von schlechten Eltern. Er ist klein aber oho. Hänschen steht auf eigenen Füßen, um allein in die Welt zu gehen. Ihm scheint die Ablösung vom Elternhaus gelungen zu sein. Wohlgemut ist er gestimmt und unterwegs. Beste Voraussetzungen, um erwachsen zu werden, um anzukommen. Die Welt in ihrer Weite, mit all ihren Möglichkeiten, liegt vor ihm; alle Türen stehen ihm offen.

Das Gegenteil von weit ist eng. Eng kommt von Angst. Angst kommt aus dem Lateinischen von ›angina‹. Wenn’s eng wird ums Herz, sich die Kehle zuschnürt, die Angst lähmt, kann es lebensbedrohlich werden. Hänschen ist unterwegs mit Mut und Weite. Stock und Hut stehn ihm gut. Vieles kann ihm Stock und Hut geworden sein: das Erbe der Eltern, die Sitten und Bräuche der Heimat, seine erworbenen Überzeugungen, sein Glaube?

Wohlgemut in die weite Welt zu ziehen, zeugt von einem guten Weltvertrauen und guter Beziehung zum Elternhaus; beste Voraussetzungen – bis die weinende Mutter ins Spiel kommt. Je weiter er sich entfernt, umso schwerer fällt es ihr, den Sohn loszulassen. Hänschen spürt die Weite der Welt nicht mehr. Sein Wohlgemut wird von mütterlicher Schwermut überschattet. Dass muntere in die Welt ziehende Sonnenkind wird zum betrübten Schattenkind. Mutters Empty-Nest-Syndrom bricht Hänschen das Herz. Da besinnt sich das Kind und kehrt um geschwind. Mutters Angst macht Hänschen das Herz eng; zieht ihn, wie an einer unsichtbaren Hundeleine, zurück ins alte Nest, ins Hotel Mama. Hänschen darf nicht zum Hans werden.

Wie gut, dass es eine andere Fassung dieses Kinderliedes gibt. Es ist die ursprüngliche und die geht so:

Musik 4:

Hänschen klein; Interpret: Kalle Klang, Die Flohtöne & Sing Kinderlieder; Album: Sing mit mir Kinderlieder; Label: 2015 TIPTOPTON; LC: 50568

Sprecherin (overvoice):

Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein,
Stock und Hut steht ihm gut ist ganz wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr hat ja nun kein Hänschen mehr.
Wünsch’ dir Glück, sagt ihr Blick, kehr nur bald zurück.

Sieben Jahr, trüb und klar, Hänschen in der Fremde war,

Da besinnt sich das Kind, eilet heim geschwind.

Doch nun ist’s kein Hänschen mehr, Nein, ein großer Hans ist er;

Stirn und Hand braun gebrannt, wird er wohl erkannt?

Autor: Hand aufs Herz, welche Liedfassung würden wir am Bett unserer Kinder bevorzugen? In der Urfassung ist Hänschen zum Hans geworden. Das Weggehen gehört zu seinem Erwachsenwerden. Die Fürsorge der Eltern ließ ihn davonkrabbeln.

Kinder, die ihre Wege gehen dürfen, kehren eher freudig zurück, um ihre Eltern zu besuchen. Sie schätzen ihr Elternhaus als Homebase, fühlen sich darin weiterhin geborgen und versorgt. Wie oft sind unsere drei Kinder in der Pandemie nachhause gekommen, um das Verwöhn-Aroma eines guten Miteinanders zu genießen? Ich weiß, nicht überall war das so. Vielen ist die Decke auf den Kopf gefallen. Sicherungen sind durchgebrannt. Manche haben es nicht mehr miteinander ausgehalten. Familien und Ehen sind zu Bruch gegangen.

Weil auch erwachsene Kinder weiter an der unsichtbaren Nabelschnur elterlicher Anerkennung hängen, kann es für sie zum Krisenphänomen werden, wenn Ehen auseinandergehen, ein Elternteil stirbt, das Elternhaus aufgegeben werden muss. Geht der einstige Heimathafen, gehen die sicheren vier Wände der Kindheit verloren, fühlt sich das Leben fragiler und ungeschützter an. Als ich meinen neuen Arbeitsplatz antrat, mussten wir auch unser Wohnhaus verlassen, kein leichter Schritt, besonders für unsere Kinder, obwohl sie aus dem Haus sind.

Haben Eltern das Gefühl, ihren Kindern ausreichend Liebe und Urvertrauen mitgegeben zu haben, fällt es ihnen leichter, ohne Kinder im Haus für sich zu sorgen und ein zufriedenes Leben zu führen. Haben sie ihren Kindern genügend innere Freiheit mit auf den Weg gegeben, stehen die Chancen gut, dass sie nachhause kommen und wieder in die Welt ziehen, so wie sie es wollen.

Hier lauern für Hänschen die größten Gefahren: Fehlt das Vertrauen der Eltern, dass alles gut gehen wird, fehlt Hänschen selbst das nötige Urvertrauen, herrscht eher Enge und Angst, statt Freude und Freiheitsgefühl.

Das gefährdet dann den Wandel, das Erwachsenen werden, das Loslassen auf allen Seiten. Eltern, die ohne Kinder im Haus mit sich etwas anzufangen wissen, sind der beste Dünger für ihr Erwachsenwerden.

Selbstverständlich fällt Kindern das Weggehen nicht leicht. Auch sie kennen die Angst vor dem Neuen, auch wenn sie sich das nicht eingestehen wollen. Dass sind die Geburtswehen des Erwachsenwerdens. Doch zu Hause bleiben ist keine Lösung. Angst vor neuen Schritten, Schwellenkrisen, die wir nicht angehen, ließe Hänschen im goldenen Käfig seiner Eltern für immer und ewig einsitzen.

Der Schlüsselsatz, der Türöffner in der Ur-Fassung unseres Kinderliedes ist der Muttersegen. Sie banalisiert ihre Schmerzen nicht, lässt Hänschen aber gesegnet gehen: »Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr. Wünsch’ dir Glück, sagt ihr Blick, kehr nur bald zurück.« Diese Mutter lässt ihr Hänschen erwachsen werden, vertraut ihn dem unverfügbaren Lauf des Lebens an.

Let it grow and let it flow, ein Song von Eric Clapton, könnte auch ihr Lied sein, ein Segens-lied, damit ihr Kind gut in der Welt ankommt und seine neue Heimat findet.

Musik 5
Let it grow; Interpret: Eric Clapton; Album: 461 Ocean Blvd. (Deluxe Edition); Label: 2004 Polydor Ltd. (UK); LC: 24570

Standing at the crossroads
Trying to read the signs
To tell me which way I should go
To find the answer
And all the time I know
Plant your love and let it grow

Let it grow, let it grow
Let it blossom, let it flow
In the sun, the rain, the snow

Sprecherin (overvoice):
Ich steh an der Kreuzung,
versuche, die Zeichen zu lesen,
um mir zu sagen, welchen Weg ich gehen soll,
um die Antwort zu finden
und die ganze Zeit weiß ich doch
pflanze deine Liebe und lass sie wachsen
lass sie wachsen, lass sie blühen, lass sie fließen
bei Sonne, Regen, Schnee.

Autor: Es gibt Heilkräfte im Menschen, die uns wachsen lassen, die unsere Seele stark machen. Trotz größter Trockenheit dokumentieren die Ringe eines Baumes sein Wachstum. Solange wir leben, geht unser Erwachsenwerden weiter.

Die indogermanische Wurzel des Wortes »Trost« heißt »deru«. Damit wurde das feste Kernholz bezeichnet, dass den Baum im Sturm Halt, Elastizität und Widerstandskraft gibt. Was für eine schöne Metapher: Trost = Kernholz des Baumes = alles, was uns in den Stürmen unseres Lebens Stabilität und Halt gibt.

Jesus hat einmal gesagt: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33) Getrost sein, mich verlassen können auf das Kernholz, welches in mir gewachsen ist, auf dass, was mir für meinen Weg mitgegeben wurde, um meine Heimat zu finden, um anzukommen, das wäre es doch!

Als Abraham aus der Stadt Ur aufbricht und nicht weiß, wo sein Weg lang gehen wird, trägt er nicht mehr als eine Verheißung in seinem Herzen. Gott wird ihm das gelobte Land zeigen. Gott weiß den Weg für Abraham. Im Navi hat er als Ziel eingegeben: Gelobtes Land. Abrahams Tank ist voll mit viel Spirit und Segen. Denn der Himmlische spricht damals zu Abraham: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“ (1. Mose 12,3)

Was für ein schönes Wort! Welch wunderbarer Rückenwind für einen der aufbricht, der „all in“ geht, alles auf eine Karte setzt, seine alte Heimat verlässt, um neu anzufangen. Sein Weg ist kein leichter, aber am Ende kommt er gut an. Wie es in der Urfassung für Hans ein Happy End gibt, so gibt es das auch für den Ur- und Erzvater Abraham, dem Erzvater im Judentum, Christentum und Islam.

Meiner jüngsten Tochter habe ich zum 18. Geburtstag Wünsche mit auf den Weg gegeben, als meinen Vatersegen; einen Segen, den ich von meinem Vater leider nie bekommen habe, weil wir in zu verschiedenen Welten gelebt haben.

Musik 6:

Titel: Belief; Komposition/Interpret: Wolgang Haffner; Album: Silent World; Label: ACT Music+Vision; LC 07644

Sprecher (overvoice):

volljährig

was ich dir wünsche mein kind

sind gute freunde

die dir ehrlich ihre meinung sagen

die dir zur seite stehen

wenn du hilfe brauchst

die dein inneres sehen

obwohl die welt auf äußerlichkeiten achtet

was ich dir wünsche mein kind

ist ein mensch

der dich liebt wie du bist

der dich bewundert

weil du ein wunder gottes bist

der durch dick und dünn mit dir geht

der deines vertrauens wert ist

der dir ein geheimnis bleibt

der dich ein geheimnis sein lässt

was ich dir wünsche mein kind

ist ein wissen um deine wurzeln

ist ein wissen um deine heimat

ist ein wissen um deine werte

du wirst uns verlassen

eigene erfahrungen sammeln

neue wurzeln schlagen

eigene nester bauen

so wünsche ich dir

finde dein element

höre auf dein herz

folge deiner stimme

spüre deinen spirit

breche zu neuen ufern auf

so wünsche ich dir

viel ur- und weltvertrauen

viel selbst- und gottvertrauen

die liebe deiner eltern

die liebe deiner geschwister

die liebe deiner großfamilie

nur die liebe macht frei

zu gehen und wiederzukommen

so wünsche ich dir

genug brot für jeden tag

genug kraft für jede herausforderung

genug mut für notwendige fehler

genug gegnügsamkeit für schwere zeiten

was ich dir wünsche mein kind

sind gottes engel an deiner seite

sinn und zufriedenheit auf deinen wegen

ist gottes reicher segen

für dein volljähriges lebensjahr

(S. Eckert, herzgeborenes, 52)

Autor: Das wünsche ich auch Ihnen: Dass Sie trotz krisenhafter Zeiten getrost unterwegs sind; im Rückblick sagen können, meine Wege und Umwege haben Sinn gemacht. Dass Sie, sollten Sie Kinder haben, diese mit Gottvertrauen loslassen können und sich selbst, wie Dietrich Bonhoeffer einmal gesagt hat: von guten Mächten wunderbar geborgen wissen. Mögen Gottes Engel Sie durch helle Tage und dunkle Täler begleiten, um am Ende Ihrer Zeit in Gottes offenen Armen anzukommen.

Das wünscht Ihnen Ihr Pfarrer Siegfried Eckert aus Leverkusen.

Musik 6:

7 Years: Interpret: Lucas Graham; Album: Lukas Graham (Blue Album); Label: Island (Universal Music); LC: 97777.

Quellen:

(1) Siegfried Eckert: Ankommen. Wie deine Seele Heimat findet, Gütersloh 2023.

(2) Siegfried Eckert: herzgeborenes. Gebete, Leipzig, 2022.

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth