Aktuelles

Beiträge auf: wdr5 

katholisch

Das Geistliche Wort | 23.04.2023 | 08:40 Uhr

Das Buch der Bücher

Guten Morgen!

Heute ist der Welttag des Buches. Und hinzu kommt noch was anderes: Heute ist der Festtag des Hl. Georg. Und ganz kurios: Beides gehört zusammen. Denn am Tag des Hl. Georg verschenken die Menschen in Katalonien, in Spanien Bücher und Rosen. Und da schließlich heute am 23. April auch noch der Todestag der großen Dichter Shakespeare und Cervantes ist, hat die UNESCO 1995 unseren heutigen Tag zum „Welttag des Buches“ erklärt, um das Buch in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit gestellt.


Musik I: Johann Sebastian Bach, Contrapunctus X


„Welttag des Buches“ Ich frage mich: Ist das überhaupt noch zeitgemäß? Oft hört man doch die Klage, es werde immer weniger gelesen. Gerade die jungen Leute hätten nur noch die Aufmerksamkeitsspanne für zwei Tweets oder eine SMS. Wer ihnen da mit einem längeren Text, gar mit einem Buch käme, der ernte nur gelangweilte Reaktionen. Aber auch generell wird dem Buch schon seit längerem das Totenglöcklein geläutet. Man spricht vom Ende des „Gutenberg-Zeitalters“. Was im 15. Jahrhundert mit den ersten gedruckten Büchern durch Johannes Gutenberg begann, sei nun endgültig Vergangenheit. Texte könne man nunmehr doch viel bequemer im Netz lesen, vieles ist digitalisiert und dadurch jederzeit abrufbar. Ein Buch hingegen müsste man immer erst mühsam hervorholen und sei auch nicht überall greifbar.

Ich bekenne mich zum klassischen Buchleser, der gerne ein Buch in Händen hält. Erst letzte Woche nahm ich nochmal ein Buch aus meiner Studienzeit hervor. Ganze Kapitel sind mit Marker vollgestrichen, gelbe Zettel kleben noch am oberen Rand der Seiten. Und sofort erinnerte ich mich wieder an das Seminar meines Theologiestudiums, zu dessen Vorbereitung ich dieses Buch benutzt hatte und es rührte mich sentimental an als ich feststellte, wie klug und fleißig ich einmal gewesen war.

Vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich, wenn Sie ein Buch aus ihrer Vergangenheit hervorholen. Da sind vielleicht auch Kringel und Striche am Rand. Mit welcher Leidenschaft habe ich früher darin gelesen, von Zustimmung und Ablehnung hin und her geworfen. Die Seiten etwas vergilbt oder mit einem Tropfen Tee bekleckert. An einer Seite noch eine Ecke abgeknickt, damit ich wusste, wo ich am nächsten Tag weiterlesen sollte. Manchmal legte ich eine getrocknete Blüte als Lesezeichen ein. Alte Bücher verströmen oft einen ganzen speziellen Duft von Leder und Leim. Und nehme ich es in die Hand, schlage die Seiten auf, höre ich ein leises Knacken. All dies ruft Erinnerungen hervor an die Zeit, als ich dieses Buch gelesen habe: auf einer Wiese, im Schwimmbad, heimlich unter der Bettdecke, am Schreibtisch.

So wird jedes Buch, das ich einmal gelesen habe, zu einem Gedächtnisspeicher meines Lebens. In ihm finde ich wieder, was ich einmal war, hoffte und dachte. Mancher Satz, manche Redewendung ist mir für immer dadurch präsent geblieben. Ich weiß gar nicht immer genau zu sagen, wo und wann ich es gelesen habe. Aber es hat sich in mir eingebrannt und gehört bis heute zu meiner geistigen Grundausstattung.


Musik II: Johann Sebastian Bach, Contrapunctus X


Viele Jahrhunderte lang gab es für die Menschen e i n Buch, das genau diese Qualitäten besitzt, sich in das Bewusstsein der Menschen einzubrennen.

Man las immer wieder darin, legte Zettel herein und merkte sich ganze Sätze und Kapitel. Gemeint ist natürlich das Buch der Bücher: die Bibel. Denn das Wort „Bibel“ bedeutet nichts anderes als „Buch“.

Und bis heute führt die Bibel weltweit die Bestsellerliste an: Etwa 5 Milliarden Mal wurde sie verkauft.[1] Kurios nur: Die Bibel selbst stand auf der Liste der vom Papst verbotenen Bücher.[2] Auch wenn dieses Buch viel gelesen werden sollte. Übrigens: Lange Zeit hatte die Kirche wohl selbst Angst davor, dass die Geschichten der Bibel falsch verstanden wurden. Wie dem auch sei.

Vielleicht ist es ganz gut, einmal ganz unvoreingenommen an dieses Buch heranzugehen, so, als hätte man noch nie davon gehört oder darin gelesen.

Dann fällt einem solchen „neutralen“ Leser erst einmal auf, dass dieses Buch aus vielen Büchern besteht, dieses Buch eigentlich eine ganze Bibliothek ist. Liest man sich nun in den einzelnen Büchern fest, dann kommt es mir so vor, als ob ich ein altes großes Haus durchstreife mit seinen vielen Zimmern und Gängen. Hier begegnen mir die unterschiedlichsten Personen und Ereignisse: von Mord und Totschlag, Begierde und Leidenschaft, von Betrug, Krieg, Ehebruch und Rache ist die Rede. Es dürfte also kaum eine Facette menschlichen Daseins geben, die nicht in einem dieser Bücher erwähnt würde. In der Bibel finden sich auch alle Gattungen: von den wildesten Schilderungen von Kriegen und Blutbädern bis zu den zartesten Lobpreisungen der Liebe.

Da die Bibel über mehrere Jahrhunderte entstanden ist, verschiedene Autoren und Redaktoren hatte, in Hebräisch, Aramäisch und Griechisch geschrieben wurde, alle literarischen Gattungen in sich vereinigt, kann man sie nicht einfach lesen.

Es finden sich Widersprüche und Gegensätze in der Bibel. Bestimmte Aussagen decken sich nicht mit anderen, in dem einen Buch wird ein Ereignis so dargestellt, in einem anderen wieder anders. Dem kritischen Leser stellt sich unweigerlich die Frage: Wie kann das denn sein? Ist nur das eine wahr und das andere erfunden – oder alles Fake? Warum hat man das nicht harmonisiert, spätestens, als man alle diese Bücher zusammenfasste und zu einem machte? Aber gerade das wollte man nicht. Vielmehr sollte die Vielgestaltigkeit des Erzählten und Berichteten erhalten bleiben. Denn die biblischen Bücher enthalten ja die Erfahrungen und Erlebnisse vieler Menschen, zu unterschiedlichen Zeiten, die sie je individuell mit Gott gemacht haben. Und jedes dieser Ereignisse ist in sich wertvoll und unverwechselbar, im Kleinsten wie im Größten vom Zweifel an Gott bis zur Liebe zu Gott. Nimmt man davon nur einen kleinen Stein, einen unscheinbaren Buchstaben weg, geht dieses einmalige und vielschichtige Erfahrung verloren. Das Prinzip der Bibel ist vielmehr: Aufbewahren für alle Zeiten.

Wenn es zum Beispiel vier Evangelien gibt, die über Jesu Leben und Wirken erzählen, dann sind sie in vielem inhaltlich oft gleich, aber auch oft in Einzelheiten und in den Grundaussagen verschieden. Es ist so, wie die Ausstrahlung desselben Lichtes in verschieden Farben und Facetten. Hätten wir nur ein normiertes und normsetzendes Evangelium, dann sähen wir von diesem Licht nur eine Farbe, nur einen kleinen Spalt. Und so knüpfte man in der Geschichte der Kirche immer wieder an die unterschiedlichen Überlieferungen an, die einen mehr an Johannes, wieder andere mehr an Markus, Lukas und Matthäus. Alle vier bieten legitime und fruchtbare Ansichten Jesu und fördern den Dialog über ihn. Sie schärfen das Bewusstsein für die Variationen der Glaubenserfahrungen, lenken die Aufmerksamkeit auf Nuancen und Besonderheiten. Das Lesen der Bibel ist daher eine Schule des sorgfältigen und genauen Lesens, der Konzentration auf die Bedeutung jedes Wortes.


Musik III: Reinhard Febel, 18 Studien nach Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge


Als katholischer Priester lese ich Seit Jahren immer wieder mit Jugendlichen und Erwachsenen in der Bibel. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie emotional und engagiert die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die jeweiligen Passagen der Bibel reagieren. Keinen lässt das kalt, was da steht. Der eine sympathisiert mit einer Figur, kann sich in deren Leben, Lieben und Leiden wiedererkennen. Die andere äußert unverhohlen ihre Abscheu und Ablehnung, wenn es um Krieg und Totschlag geht. Aber genau das macht die Bibel so einzigartig: Jede und jeder fühlt sich beim Lesen direkt angesprochen, angefasst, angerührt. Es kommt mir jedenfalls so vor, als würde gerade dort die eigene persönliche Geschichte behandelt. Das rührt daher, weil in der Bibel wirkliche Geschichten erzählt werden. Die Bibel ist keine Programmschrift, kein philosophischer Traktat, keine Ideenabhandlung, sondern handelt von Personen, deren Schicksal ungeschönt und ungeschminkt dargestellt wird – als könnte es mein Schicksal sein. Gerade, wenn man zum Beispiel mit Kindern die Bibel liest, kann man diesen Funken spüren, der überspringt. Das Kind identifiziert sich mit David oder Tobias. Und andere fragen ganz realistisch nach: Wie kommt Moses trocken Fußes durch das Rote Meer? Und wieder andere sorgen sich um Jesus: Was hat der eigentlich gegessen, als er immer so viel unterwegs war?

Das macht den ungeheuren Reiz der Lektüre der Bibel aus. Jeder Mensch, jede Generation findet immer neues in diesen alten Texten. Keine Lektüre, keine Deutung ist für sich abgeschlossen, sondern wird von der nächsten ergänzt und erweitert. So hat sich über Jahrhunderte eine unübersehbare Gemeinschaft von Lesenden gebildet. Quasi der größte Buchclub der Welt! Ich bin mir sicher: In jedem Wort und Satz der Bibel steckt ein Mehrwert, den zu entdecken sich lohnt. Es öffnet sich ein weiter Spielraum der unterschiedlichsten Leseeindrücke und Lebensregeln.

Wir sind nämlich nicht die Ersten, die in der Bibel lesen. So haben es schon Generationen vor uns getan. So haben sich auch im Laufe der Zeit unterschiedliche Zugangsweisen zur Bibellektüre herausgebildet. Von dem ganz naiven Wahrnehmen und Beherzigen der einzelnen Sätze und Zeilen bis zur hochkomplexen, philologisch genauen, historisch-kritischen Methode, die die Bibel nach allen Regeln der Wissenschaft durchleuchtet.


Musik IV: Johann Sebastian Bach, Contrapunctus IX


Bei der Bibellektüre werde ich oft gefragt: Wie kann ich die Bibel am besten Lesen, um sie zu verstehen? Da sage ich, dass jede Zugangsweise ihre Berechtigung hat, und jede und jeder das am besten für sich selber prüft.

Für mich hat sich eine Methode besonders bewährt, die bereits im 12. Jahrhundert der Kartäusermönch Guigo II. (* vor 1174; † 6. April 1193) in seiner Schrift: „Scala claustralium“ entwickelt hat, einer Art „Treppe des Mönches zu Gott“. Guigo unterscheidet darin vier Phasen, die man durchschreitet, wenn man die Bibel liest. Es sind vier Stufen, die man eine nach der anderen emporsteigt: er nennt sie „lectio“, „meditatio“, „oratio“, „contemplatio“, also „Lesung“, „Nachdenken“, „Gebet“ und „Betrachtung“.

Bei der „lectio“, der „Lesung“, geht es um das genaue Lesen in der Bibel. Das setzt eine gewisse Ausdauer und Kontinuität voraus. Gerade am Anfang kommt einem vieles unverständlich, sperrig, ja widersinnig vor. Da gilt es dann trotzdem weiterzulesen. Einzige Voraussetzung, die der Leser mitbringen muss: Offen-Sein und vorurteilsfrei das Geschriebene erst einmal wahrnehmen. Ansonsten ist es jedem Leser freigestellt, wo und wann er in der Bibel liest. Ob beim Warten, in der Natur oder zuhause in einem stillen Winkel. Im Laufe der Zeit merkt jeder selber, wo er am besten diese Offenheit des Textes mitbringt. Wenn er sich dann gesammelt hat, gibt er sich ganz dem Text hin, denn so formuliert es Guigo: „Die Lesung ist das eifrige Lesen der Bibel mit aufmerksamen Geist.“[3] Bei diesem aufmerksamen Lesen trete ich in einen Dialog mit Gott ein, lasse mich von seinem Wort ansprechen, nehme seine Gegenwart mit allen Sinnen und Gefühlen wahr.

Beim zweiten Schritt, der „meditatio“, dem „Nachdenken“, versuche ich den Sinn der Worte zu erfassen. Dies geschieht dadurch, dass ich einzelne Sätze und Kapitel der Bibel immer wieder lese und darüber nachdenke. In der Tradition der Mönche nennt man dies auch „ruminatio“, „Wiederkäuen“. Und dabei setzte ich alle meine Verstandeskräfte ein, denn die „meditatio“, so Guigo, ist eine „eifrige Tätigkeit des Verstandes, verborgene Wahrheiten durch die eigene Vernunft aufzudecken“[4]. Auf diese Weise erfahre ich, was Gott mir persönlich durch dieses Wort der Bibel sagen will. Denn die Bibel ist das Gesprächsangebot Gottes an mich, an den Menschen.

Damit gelange ich zur dritten Stufe, wie sie Guigo beschreibt, die „oratio“, das „Gebet“. Mein Gebet ist die Antwort auf das Wort, das Gott an mich gerichtet hat. Während des geduldigen Lesens bricht sich der Sinn des Wortes für mich auf, mein eigenes Herz öffnet sich, durch die Buchstaben hindurch entdecke und erfahre ich die an mich gerichtete Weisung. Nun kann ich selber aussprechen, was mich bewegt, kann Klage und Lobpreis anstimmen.

Auf der vierten und letzten Stufe, der „contemplatio“, der „Betrachtung“, gelange ich zu einer Vertrautheit mit Gott, zur „familiaritas cum Deo“, wie es auch auf lateinisch heißt. Ich gehöre auf einmal zur Familie mit Gott und finde eine Ruhe in Gott.

Nun, ich weiß, dass diese vier Schritte nicht einfach sind, aber ich lade Sie ein, heute am „Welttag des Buches“ es einmal auszuprobieren mit dem Buch der Bücher. Ich bin mir sicher, Sie werden überrascht sein, was da alles zu entdecken ist. Viel Vergnügen dabei wünscht Ihnen Pfarrer Dominik Meiering aus Köln.


Musik V: Reinhard Febel, 18 Studien nach Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge



[1] Vgl.: https://www.die-besten-aller-zeiten.de/buecher/faq/die-10-meistverkauften-buecher.html.

[2] Vgl.: https://www.welt.de/kultur/article155953221/Warum-der-Papst-die-Bibel-auf-den-Index-setzte.html.

[3] Guigo, Scala claustralium, c. 1. Zitiert in: Daniel Tibi, Lectio divina. Gott begegnen in seinem Wort, Geist und Leben 83/3, 2010, S. 222 – 234, hier S. 225.

[4] Guigo, Scala claustralium, c.1. Zitiert: a.a.O., S.228.

evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
katholisch
Abspielen (Kirche im WDR)
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
evangelisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen
katholisch
Abspielen