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Das Geistliche Wort | 14.07.2024 | 08:40 Uhr
Im Rauschen dieser Zeit
Aus rechtlichen Gründen enthält das Audio der Internetfassung nicht die im Manuskript genannte Musik.
Musik 1: Im Rauschen dieser Zeit
Titel: Im Rauschen dieser Zeit; Komposition: Timo
Böcking & Samuel Dembi Samba; Interpreten: HERZ+MUND; Album: Im Rauschen
dieser Zeit (feat. Samuel Rösch) – Single; Label: Timo Böcking, Martin
Buchholz; LC: unbekannt
Autor: „Ich will deine Stimme hörn im Rauschen dieser Zeit!“ Timo Böcking und Sam Samba haben dieses Lied im vergangenen Jahr geschrieben. Mitten in einer Zeit, in der viele Krisen zusammenkommen. Seitdem singen wir es häufiger in unserer Gemeinde. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Mir spricht dieses Lied gerade im Moment aus dem Herzen. Das Bild vom „Rauschen dieser Zeit“ spricht mich sofort an. Ich habe das Gefühl, es „rauscht“ gerade buchstäblich heftig an allen Ecken und Enden.
Natürlich gibt es ein gewisses Grundrauschen immer in unserem Leben. Die Klänge und Geräusche, die uns umgeben. Die Gespräche, die wir führen. Die vielen Nachrichten und Informationen, die wir aufnehmen. Und in uns selber „rauscht“ es ja auch. In unseren Köpfen spricht es ganz häufig. Und diese inneren Stimmen, die sind ja zum Teil uralt. Manche meinen es gut mit uns. Manche machen uns aber auch ganz schön runter. Oder setzen uns unter Druck.
Also: es „rauscht“ eigentlich immer. Aber ich habe den Eindruck: das Rauschen „dieser Zeit“, jetzt, ist nochmal besonders stark. Ein Beispiel: Wir erleben gerade Hassbotschaften und Fake News wie vielleicht noch nie. Natürlich, gelogen wurde immer schon, seit es Menschen gibt. Aber die Lügen hatten wahrscheinlich noch nie so ein Ausmaß und eine Reichweite und Wirkung wie jetzt. Gerade in den digitalen Medien können sie sich rasant verbreiten. Und sie werden immer hemmungsloser verbreitet. Und dann „rauscht“ es in vielen Diskussionen gerade ganz heftig. Ich erlebe so viele Stimmen, die aufgeregt sind und aggressiv und zornig. Gerade im Netz ist das immer wieder zu sehen. Da muss manchmal nur ein bestimmtes Wort fallen, und sofort gehen Leute in die Luft und schlagen los. Und schon ist eine sachliche Diskussion am Ende und es wird nur noch mit harten Bandagen gekämpft. Und ehrlich gesagt: Mir selber geht das manchmal auch so.
Der Psychologe Volker Busch hat in seinem Buch „Kopf hoch“ dafür einen schönen Vergleich gefunden: er spricht von Entzündung! Er sagt sinngemäß: „Wenn wir uns einen schmutzigen Splitter in den Fuß jagen und die Stelle wird heiß und rot, dann kämpft der Körper gegen Viren oder Bakterien und arbeitet daran, diesen Splitter wieder loszuwerden. Das ist unangenehm, aber sinnvoll und wichtig. Wenn sich unser Körper aber wegen jeder Kleinigkeit entzündet oder chronisch entzündet ist, dann tut das überhaupt nicht mehr gut, sondern macht uns nur krank. Und schwächt uns.“ Und Busch hat den Eindruck, unsere Gesellschaft ist gerade chronisch an vielen Stellen „entzündet“. Vielleicht, weil viele Menschen sich von der Fülle der Krisen überfordert und verängstigt fühlen.
Musik 1: Im Rauschen dieser Zeit
Autor: Ja, es „rauscht“ gerade richtig heftig. Und damit man in diesem Rauschen nicht untergeht, ist es so wichtig, auf eine Stimme zu hören, die anders ist. Die aufbaut und ermutigt. Die auch Missstände aufzeigt, aber nicht, um fertigzumachen. Sondern um Dinge zurechtzubringen. Um zu heilen. Ich glaube, wir brauchen gerade im Moment eine Stimme, die uns stärkt und unsere Ängste zur Ruhe bringt. Und einen Weg zum Frieden aufzeigt, der diesen Namen wirklich verdient. Und ich glaube, genau so redet Gott mit uns. Jeden Tag.
Der Punkt ist nur: Gottes Stimme ist meistens leise. Vielleicht kennen Sie die Geschichte um den Propheten Elia. Der ist ja auch buchstäblich „entzündet“ für Gottes Sache. Legt sich mit dem Königshaus und mit den Propheten des Gottes Baal an. Verausgabt sich dabei und lädt am Ende selbst Schuld auf sich. Schließlich flieht er voller Angst und völlig erschöpft und ausgebrannt in die Wüste und will nur noch sterben Aber Gott lässt Elia nicht fallen. Er versorgt ihn durch einen Engel mit Brot und Wasser und viel Ruhe. Und verspricht, Elia zu begegnen und ihn wieder zu stärken. Elia macht sich neu auf den Weg. Er steigt auf einen Berg und wartet auf Gottes Stimme. Er erlebt auf diesem Berg einen gewaltigen Sturm, dann ein Erdbeben und schließlich noch ein heftiges Feuer. Also „Rauschen“ wäre hier noch mächtig untertrieben. Aber in all diesen lauten Ereignissen ist Gott gerade nicht. Er kommt in „einer Stimme verschwebenden Schweigens“, wie es da so schön in der Geschichte heißt. Und diese leise Stimme ist es, die Elia wieder aufbaut.
Musik 2: Home
Titel: Home; Komposition/Interpretin: Ida Sand; Album:
Meet Me Around Midnight; Label: Label: Act; LC: 07644
Autor: Ich glaube, dass auch Jesus eine solche leise Stimme in seiner Taufe gehört hat. Und er hat sich wie Elia dem Rauschen seiner Zeit immer wieder entzogen, den ganzen Streitgesprächen, den Erwartungen der Menschen um ihn herum, der politischen Hitze seiner Zeit. Und ist auf einen Berg in die Stille gegangen, um diese leise Stimme wieder neu zu hören: „Du bist mein geliebtes Kind, ich freue mich so sehr an Dir!“ Ich glaube, es ist gerade jetzt so wichtig, das zu tun. Das Rauschen immer wieder mal hinter uns lassen und einen Ort suchen, an dem es still ist. Wenn Sie das Rauschen dieser Zeit nicht mehr ertragen können, dann nehmen Sie sich einen stillen Moment und denken Sie an diesen Satz: „Du bist mein geliebtes Kind, ich freue mich so sehr an Dir!“ Das gilt Ihnen ganz persönlich! Gott will Ihnen das jeden Tag, jede Stunde neu sagen. Und kein Rauschen dieser Welt kann diesen Satz ungültig machen oder zum Schweigen bringen.
Und gleichzeitig müssen wir sehen: Manchmal zieht uns das Rauschen dieser Zeit einfach mächtig runter. Und da hilft es gar nichts zu sagen: „Als Christenmensch müsste ich doch trotzdem stark und zuversichtlich und fröhlich sein.“ Nein, wenn Sie sich im Rauschen dieser Zeit einfach nur müde und mutlos und manchmal ohnmächtig fühlen, dann nehmen Sie das so an, wie es gerade ist. Es ist völlig verständlich. Diese Zeiten sind belastend und anstrengend. Und manchmal kann man nur mit dem Lied von eben sagen oder besser noch singen: „Wenn der Nebel dichter wird, dann nimm mich an die Hand und halt mich fest!“
Musik 2: Home
Autor: Und jetzt? Wie gehen wir in Gottes Sinne mit dem Rauschen dieser Zeit um? Wir können uns ja nicht dauerhaft da herausziehen. Es gehört zu dieser Welt und zu unserem Leben. Gott sendet Jesus ja ganz bewusst in diese „rauschende“ Welt. Und uns dann ja auch. Deswegen: was könnte heute unsere Aufgabe sein?
Im Römerbrief des Apostels Paulus werden Anstöße gegeben, die gerade im heutigen „Rauschen der Zeit“ erstaunlich hilfreich sein können. Paulus schreibt in Römer 12:
Sprecher:in: „Passt euch nicht dieser Zeit an. Gebraucht vielmehr euren Verstand in einer neuen Weise und lasst euch dadurch verwandeln. Dann könnt ihr prüfen, was dem Willen Gottes entspricht.“
Autor: Ich übersetze das mal frei: „Macht nicht alles mit, was gerade passiert. Und verstärkt das Rauschen dieser Zeit nicht mit dem, was Ihr sagt und tut. Sondern gebraucht Euren Verstand und schaut genau hin und prüft die Dinge. Wenn Ihr Nachrichten hört oder im Netz etwas lest, dann prüft erst einmal: aus welcher Quelle kommt das? Ist die vertrauenswürdig? Oder haut da jemand irgendetwas raus, um Stimmung zu machen? Lest in der Zeitung nicht nur die Schlagzeilen. Sondern den ganzen Artikel. Dann stellen sich manche Dinge plötzlich ganz anders dar als in der reißerischen Überschrift. Wenn Ihr in einer Diskussion seid, gerade auch im Netz, dann prüft Eure Worte, bevor Ihr sie sagt oder schreibt: Ist das, was ich da sage, auch belegt und belastbar? Ist es hilfreich? Wie ist der Ton, in dem ich spreche? Kann ich es selbst gut hören, wenn jemand so mit mir redet? Lasst uns einen anderen Ton und Stil in das Rauschen dieser Zeit bringen. So übersetze ich, was ich bei Paulus lese.
Dann schreibt der Apostel weiter:
Sprecher:in: „Lasst nicht nach in eurem Eifer. Lasst euch vom Geist anstecken und dient dem Herrn. … Lasst euch auf die Unbedeutenden ein. … Seid alle miteinander auf Einigkeit aus. … Lebt mit allen Menschen in Frieden – soweit das möglich ist und es an euch liegt.“
Autor: Das klingt ja erstmal etwas widersprüchlich: geistlicher Eifer auf der einen Seite - und Einigkeit und Frieden auf der anderen. Aber gerade diese Spannung passt sehr gut. Um nochmal Volker Buschs Bild von der Entzündung zu nehmen: An welcher Stelle ist es wichtig, dass wir uns als Christenmenschen „entzünden“ und empören? Und stark für andere Menschen eintreten? Gerade für die „Unbedeutenden“, die Schwächsten unserer Gesellschaft? Und an welchen Stellen ist es wichtig, dass wir entzündungshemmend wirken, uns nicht aufregen, die Empörung nicht mitmachen und stattdessen dazu beitragen, dass Menschen runterkommen? Ohne zu beschwichtigen und das Deckmäntelchen der Liebe über die Dinge zu legen? Ich glaube, dass das im Moment ein wichtiger Auftrag für uns ist: entzündungshemmend zu wirken – im Ton, im Stil, im Umgang miteinander. Dass auch Menschen, die anderer Meinung sind, spüren, dass wir sie als Menschen achten und respektieren.
Musik 3: Clax's Theme
Titel: Clax's Theme; Komponist/Interpret: Till
Brönner; Album: 30 Years North Sea Jazz Festival; Label: 2005 Universal
International Music B.V.; LC: unbekannt
Autor: Im Johannesevangelium gibt es eine Geschichte, in der Jesus buchstäblich „entzündungshemmend“ wirkt – im besten Sinne. Da kommen Schriftgelehrte und Pharisäer mit einer Menschenmenge zu ihm. Und mit einer Frau, die beim Ehebruch ertappt wurde. Die Stimmung ist zornig und aufgeheizt, viele würden die Frau am liebsten sofort steinigen. Die Pharisäer nutzen diese hitzige Stimmung, um Jesus unter Druck zu setzen. Sie sagen: „Meister, wir haben diese Frau gerade beim Ehebruch erwischt. Sie ist fremdgegangen. Im Gesetz steht, dass eine solche Frau gesteinigt werden muss. Was sagst Du?“ Was für eine Situation! Was für ein Druck! Jesus kann hier eigentlich nichts richtig machen. Wenn er sagt: „Lasst die Frau frei und vergebt ihr“, stellt er sich eindeutig gegen das Gesetz. Wenn er sagt: „Befolgt das Gesetz und steinigt sie“, handelt er gegen alles, was er den Menschen bisher an Barmherzigkeit vorgelebt hat. Im Grunde eine ausweglose Situation. Und dann noch die Aggressivität, die in der Luft liegt. Wie leicht könnte man sich von dieser Hitze anstecken lassen und selber aggressiv werden. Oder aber ängstlich und eingeschüchtert allem zustimmen, was die Menge will.
Und was tut Jesus? Keins von beidem. Er setzt sich in aller Ruhe auf den Boden und zeichnet mit dem Finger im Sand. Lässt sich nicht unter Druck setzen, eine schnelle Antwort zu geben. Allein das wirkt schon entzündungshemmend: wenn man in so einer entzündeten Situation nicht sofort reagiert, sondern sich Zeit nimmt, in sich zu gehen. Und dann kommt der Satz, der die ganze Situation verändert und die Entzündung von einem Moment auf den nächsten abkühlt: „Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Dieser Satz ist keine Antwort auf die Frage der Pharisäer: Was sollen wir mit dieser Frau tun? Jesus weigert sich, auf diese Frage einzugehen. Sondern er dreht sie stattdessen um und fragt: „Was ist denn mit euch, Sportsfreunde? Wer von euch ist ohne Schuld? Wer von euch dürfte niemals in die Mitte gestellt und verurteilt werden? Wer von euch ist noch nie auf Vergebung angewiesen gewesen? Wer das von sich sagen kenn – der soll anfangen.“ Jesus lenkt die Aufmerksamkeit von der Frau auf die Leute selbst. Plötzlich müssen sie von sich selbst Rechenschaft ablegen. Und das kühlt ihren Zorn gewaltig. Und ihre Lust am Verurteilen auch. Einer nach dem anderen lässt seinen Stein fallen und geht.
Jesus macht uns hier vor, wie man in erhitzten Situationen manchmal entzündungshemmend wirken kann. Er zieht sich buchstäblich aus der Hitze heraus und nimmt sich Zeit zum Nachdenken. Und er lässt sich vom Zorn der Leute nicht selbst entzünden. Er geht nicht in den Ring. Sondern findet Worte, die die Leute abkühlen lassen. Ich weiß nicht, ob man in jeder Situation so wirkungsvoll entzündungshemmend sein kann. Aber ich will von Jesu Verhalten lernen. Und mich seltener von anderen unter Druck setzen und entzünden lassen.
Das ist nicht immer leicht. Aber mir hilft dabei eine weitere Empfehlung aus dem gerade schon genannten zwölften Kapitel des Römerbriefs. Eine Empfehlung, die auch Jesus in der Bergpredigt gibt:
Sprecher:in: „Segnet die Menschen, die euch verfolgen. Segnet sie und verflucht sie nicht.“
Autor: Da fragen sich viele: „Hallo?? Wie soll das gehen?“ Aber versuchen Sie es mal! Segnen Sie die Menschen, über die Sie sich aufregen, mit denen Sie echte Probleme haben, die Ihnen fremd sind oder sogar Angst machen. Ich mache das in letzter Zeit öfter: im Bus, in der Innenstadt, irgendwo unterwegs, in der Gemeinde, bei Diskussionen auf Facebook, bei denen mir der Kamm schwillt. Und ich merke, dass mir das hilft, runterzukommen. Wenn ich andere segne, nur für einen Moment in meinen Gedanken, dann sehe ich sie als Menschen, an denen Gott etwas liegt. Und die seinen Segen genauso brauchen wie ich. Das rechtfertigt keineswegs alles, was sie tun. Und das soll Widerspruch gegen sie nicht abwürgen. Aber ich sehe sie dadurch als Menschen, mit denen mich trotz allem etwas verbindet.
Und noch etwas hilft. Die Autorin Karin Kuschik erzählt in ihrem Buch „50 Sätze, die das Leben leichter machen“, wie sie einmal an einem Filmset ist, um jemanden dort zu interviewen. Als sie ankommt, ist die Stimmung total aufgeheizt: alle sind hektisch und aggressiv, Leute brüllen sich an. Nur eine junge Schauspielerin sitzt gelassen und entspannt an einem Tisch und trinkt einen Tee. Karin Kuschik spricht sie an und fragt: „Wie machen Sie das, hier so ruhig zu bleiben?“ Die junge Frau antwortet: „Ach, wissen Sie, worüber ich mich aufrege, entscheide ich immer noch selbst.“ Für mich ein wunderbarer Satz, gerade für das Rauschen dieser Zeit. Packen sie ihn sich ein und nehmen Sie ihn mit.
Ich kann mich dem Rauschen dieser Zeit nicht entziehen. Und zugleich ist meine Erfahrung: Ich muss mich ihm auch nicht anpassen. Sondern kann mit Gottes Hilfe einen anderen Klang hineinbringen. Deswegen möchte ich mich und Sie einfach ermutigen: Lassen Sie uns seine Stimme suchen und auf sie hören. Falls Sie denn eine Antenne dafür haben. Ich höre diese Stimme manchmal in der Stille. Oder in der Musik. Manchmal an einem ruhigen Ort in der Natur. Dann wieder in einem Gottesdienst. Ich habe das Gefühl: Im Gebet, in einem Text aus der Bibel, in einem Lied kommt Gott manchmal direkt zu uns und „nimmt uns bei der Hand“. Genau dieses Versprechen brauchen wir – im Rauschen dieser Zeit.
Dass Sie das für sich erleben, wünscht Ihnen von Herzen Pfarrer Joachim Römelt aus Solingen.
Musik 4: Bumpin', Titel: Bumpin'; Komponist/Interpret: Till Brönner; Album: Oceana; Label: Universal Music International; LC: 97777
Quellen:Busch, Volker: Kopf hoch! Mental gesund und stark in herausfordernden Zeiten, München 2024
Kuschik, Karin: 50 Sätze, die das Leben leichter machen, Rowohlt Taschenbuch; 19. Edition 2022
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth