Beiträge auf: wdr5
Das Geistliche Wort | 23.06.2024 | 08:40 Uhr
Zu wissen, dass wir zählen
Jessy Wellmer erzählt darin von ihren ganz eigenen Erlebnissen, damals in Mecklenburg-Vorpommern, wo sie aufgewachsen ist. Und sie hat viele andere Geschichten, Zahlen und Studien aus den letzten 35 Jahren zusammengetragen. Und ich denke: 35 Jahre - da ist es an der Zeit, sich all dem zu stellen, was noch nicht zusammenpasst.
Lied 1: Igor Levit, Ode to joy (Beethoven)
Von Wiedervereinigung ist offiziell die Rede – tatsächlich fühlt es sich für viele Menschen nicht so an. Mein Eindruck ist: Während einige das Auseinanderdriften schmerzhaft spüren, geht das Thema Ost und West an anderen so ziemlich vorbei. Ganz ehrlich: Auch für mich war das Thema lange Zeit weit weg. Habe ich nicht so ganz verstanden, warum denn nicht langsam mal gut ist, wiedervereinigt, wie wir sind. Womöglich, weil ich den Anfang nicht richtig mitbekommen, auf jeden Fall nicht mitgefühlt habe. Als alles losging, die Proteste, der Mauerfall, da war ich frische 16 Jahre alt. Von meiner Heimat, dem Münsterland, war die Grenze maximal weit weg. Wir hatten keine Verwandten im Osten. In Berlin war ich erst Jahre später zum ersten Mal. Was damals für viele Menschen so einschneidend alles verändert hatte, war in meinem Leben etwas, das im Fernsehen gelaufen ist. Ich erinnere mich gut an die Bilder von den Trabbis, die über die Grenze fuhren, den Menschen, die sich in den Armen lagen. Zugleich: All das hätte irgendwo auf der Welt sein können. Klar hatte ich mich damals gefreut - für diese Menschen hinter der Mattscheibe, die nun endlich in Freiheit leben konnten. Für die Familien, die sich endlich wiedersehen konnten. Aber mit mir hatte das nichts zu tun.
Was jetzt anders ist? Ich habe einzelne Lebensgeschichten an mich herangelassen. Und beim Hinhören habe ich erkannt: Mir fehlt es nicht nur an Betroffenheit und Interesse an dem Thema. Es fehlt mir an Respekt.
Lied 2: Igor Levit, Ode to joy (Beethoven)
Es fehlt mir an Respekt. Ja, Respekt ist der Schlüsselbegriff. Er leitet sich vom lateinischen „respectare“ ab, was zurückschauen, hinsehen bedeutet. Im Wortsinn ist Respekt also nichts anderes, als den Anderen Aufmerksamkeit zu schenken, Ansehen.
Sehe ich mir die Informationen an, die ich zur Vereinigung von Ost und West bisher gesammelt habe, dann fürchte ich: Es wurde in den ersten Jahren – und bis heute - zu wenig hingesehen, zu wenig respektiert, was war. Kanzler Kohl hatte damals schnell von „blühenden Landschaften“ geredet. Und sicher dachten viele im Westen, die im Osten könnten ja nur froh sein, dass bei ihnen nun alles anders wird. Habe ich auch gedacht. Bis ich eine andere Michaela traf. Die war 1989 auch 16 Jahre alt, aber die andere Michaela lebte im Osten. Sie erzählte mir, dass mit der Mauer für sie sämtliche Pläne zusammenbrachen. Die Schule, die sie ab dem Sommer 1990 besuchen wollte, gab es da nicht mehr. Überhaupt: Nichts von dem, was bislang klar war, was ihr Leben und das ihrer Familie und Freunde ausgemacht hatte, galt mehr. Berufe hießen anders, Ausbildungen und Abschlüsse wurden in Frage gestellt. Ein Viertel der Bevölkerung zog weg aus dem Osten. Viele Betriebe wurden geschlossen. Alte Ansprüche auf Haus und Grund wurden gestellt. Betrüger und Geschäftemacher aus dem Westen brachten Menschen um ihr Erspartes. Stasiakten wurden gewälzt. All das war ziemlich harte Kost. Und dann dieser Druck, sich dem Westen anzupassen. Wer fragte damals die Menschen im Osten nach ihren Kompetenzen? Nach ihrem Wissen? Wer fragte, was sie erlebt haben. Was sie können. Wer sie sind. Wie sie leben wollen. Was sie sich erhalten wollen. Mein Eindruck ist: Das alte Leben, mit allen Leistungen wurde beinahe zubetoniert mit den Ideen von „blühenden Landschaften“. Da gab es zu wenig Hinsehen, zu wenig Respekt vor all dem, was im Osten gelernt und erfahren wurde. Zu wenig sich gegenseitig erzählen, was gut läuft im Westen und im Osten und was nicht. Zu wenig: Und, wie wollen wir es denn künftig machen, jetzt, wo wir zusammenziehen? Kein Wunder, dass für viele Menschen aus dem Osten ein Gefühl von Heimatverlust aufkam. Ein Leben wie zur Untermiete. Du bist geduldet, die Regeln bestimmen die anderen. Ich glaube, ich lese: dieses Gefühl ist bei vielen bis heute geblieben. Und je mehr ich all das an mich heranlasse, desto besser kann ich das verstehen. Ich denke wieder an meine Namensvetterin und daran, dass auch ich im Sommer 1990 die Schule gewechselt habe. Alles ganz normal. Während für die andere Michaela die Welt zusammenbrach, galt für mich: Im Westen nichts Neues.
Lied 3: Silly, Werden und Vergehen
Jetzt, im 35. Jahr des Mauerfalls befremdet mich vieles, was damals geschrieben wurde in der Zeit der Wende. Aufgewühlt hat mich folgendes Zitat. Das stammt aus dem Buch „Deutschland, was nun“, von 1991. Und darin schreibt der Jurist, Politikwissenschaftler und Publizist Arnulf Baring als Wessi:
Sprecher:
„Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar. In den meisten Fällen fehlt heute vom Fachlichen her eine Berufsperspektive in den Bereichen, in denen mal ausgebildet wurde. Wir können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts nützen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten.“ [1]
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich solche Worte schockieren. Ich lese das und frage mich: Gab es damals Proteste gegen eine solche Sicht auf Menschen? Gab es eine Gegenrede hier im Westen der Republik? Ich hoffe sehr. Menschen als verzwergt zu bezeichnen, ihnen Wissen und Kompetenz abzusprechen, sie ausschließlich aus einer rein westlichen Leistungsperspektive heraus pauschal abzukanzeln, das ist das Gegenteil von Respekt. Und ich ahne, Arnulf Baring stand mit dieser Sicht nicht allein da.
Was ich auch ahne? Was Jesus getan hätte; in Deutschland, Anfang der 90er Jahre. Er wusste, was dran ist, wenn für Menschen eine Welt zusammengebrochen ist. Das kann ich im Lukasevangelium nachlesen, ganz am Ende. Nach der Kreuzigung heißt es dort:
Sprecher:
Am selben Tag gingen zwei, die zu den Jüngern von Jesus gehört hatten, nach dem Dorf Emmaus, das zwölf Kilometer von Jerusalem entfernt lag. Unterwegs unterhielten sie sich über alles, was geschehen war. Als sie so miteinander sprachen und alles hin und her überlegten, kam Jesus selbst hinzu und ging mit ihnen. Aber sie erkannten ihn nicht; sie waren wie mit Blindheit geschlagen. Jesus fragte sie: »Worüber redet ihr denn so erregt unterwegs?« Da blieben sie stehen und blickten ganz traurig drein, und der eine – er hieß Kleopas – sagte: »Du bist wohl der Einzige in Jerusalem, der nicht weiß, was dort in diesen Tagen geschehen ist?« »Was denn?«, fragte Jesus.[2]
„Was denn?“ fragte Jesus. Jesus hört erstmal hin. Voller Respekt vor dem, wer die beiden Männer sind und vor dem, was gerade in ihnen vorgeht. Er will erstmal verstehen, bevor er selbst seine Sicht dazulegt.
„Respekt muss man sich verdienen“ heißt es ja gerne – ich halte das für falsch. Als von Gott gewollte Wesen, als Teil dieser Schöpfung ist Respekt in meinen Augen so etwas wie unser Geburtsrecht. Im Wortsinne lässt sich in der Rückschau auf das Leben eines jeden Einzelnen so vieles entdecken, das Achtung und Beachtung verdient hat. Jeder Mensch hat eine Aufbruchgeschichte hinter sich. Aus dem optimal temperierten Mutterleib mit Vollpension hinaus in diese deutlich kühlere Welt mit all seinen Herausforderungen. Wir alle haben Geschichte und Geschichten, die zählen.
Lied 4 : Alle Geschichten, Thiemo Hauer
35 Jahre Wiederverbindung: Auch über dieses Geburtstagskind lassen sich gute Geschichten erzählen. Schon der Fall der Mauer wurde von friedlichen und stetigen Protesten vorangetrieben. Und bis heute überwiegt in Ost und West der Wille, zusammenzuwachsen. Ist vieles längst gut zusammengewachsen. Und doch: Ich hege Zweifel an der Idee von Einheit. Nämlich dann, wenn sie daherkommt als eine Idee von Verschmelzung, als Symbiose. Die Bundesländer Schleswig-Holstein und Bayern unterscheiden sich riesig, Kölner und Düsseldorfer würden das sogar von ihren Städten behaupten, trotz der geografischen Nähe. Wir waren und bleiben ein diverses Land. Durch Mauerfälle, durch Menschen, die aus anderen Staaten zu uns kommen, durch unterschiedliche Kulturen und individuelle Lebens- und Aufbruchgeschichten. Wir sind gut achtzig Millionen gewordene Charakterköpfe. Diese Diversität bereichert, wenn wir wie wahrnehmen und zulassen. Besser noch: begrüßen. Und: Diversität fordert heraus.
Ich glaube: Diversität
kann auf Menschen beinahe bedrohlich wirken, und zwar dann, wenn sie das Gefühl
haben, in all dieser Unterschiedlichkeit selbst nicht vorzukommen. Mit dem, was
sie ausmacht, was ihnen wichtig ist, nicht respektiert, nicht gesehen zu sein.
Und da komme ich noch mal mit Jesus und der Bibel: Wir brauchen jede Menge Emmausgänge, wenn wir das Potential dieser Vielfalt entdecken wollen. Wenn wir aufhören wollen, uns übereinander zu wundern. Ich meine: Jesus hätte an diesem Tag nach seiner Kreuzigung guten Grund gehabt, sich zu wundern. Die beiden Jünger, die da auf dem Weg nach Hause waren, die hatten vorher von den Frauen am Grab gehört, dass Jesus lebt, trotz Kreuz. Die beiden konnten das aber nicht glauben. Es ging über ihre Erfahrung, über ihren Verstand. Also liefen sie bedröppelt Richtung Heimat, statt ausgelassen Ostern zu feiern. Jesus geht die Strecke mit ihnen und zugleich schlägt er innerlich einen anderen Weg ein: Er bleibt nicht beim Wundern stehen. Überhaupt: Kopfschütteln, Arme verschränken, Schultern zucken – davon erkenne ich nichts in den Erzählungen der Evangelien. Eher Hinhören, Mitgehen, sich mit an den Tisch setzen. Gerade mit denen am Tisch sitzen, die so andere Lebensgeschichten zu erzählen haben als die eigene. Jesus erkennt das Geworden-Sein eines Jeden an. So geht Augenhöhe. So geht Gemeinschaft. Und ich glaube, das ist das ehrlichere Ziel als eine Art von Vereinigung, die womöglich Gleichmacherei im Hinterkopf hat.
Lied 5: Reinhard Mey, Nichts ist für immer
„Begegnet allen Menschen mit Achtung“ schreibt Petrus in einem seiner Briefe an die damals noch jungen Gemeinden.[3] Weil man sich Respekt nicht durch Leistung verdient, nicht durchs Alter, sondern durchs pure Dasein. In der Bibel lese ich, was passiert, wenn Menschen angesehen, angehört werden. Das war nicht nur damals heilsam, das ist es auch heute. Die Psychoanalytikerin Ruth Cohn hat diese Wirkung von Respekt und Achtung beschrieben. Und sie fand dafür Worte, die könnten wunderbar passen in eine Geburtstagsrede zum Mauerfall:
Sprecherin:
„Zu wissen, dass wir zählen;
mit unserem Leben
mit unserem Lieben;
gegen die Kälte;
für mich, für Dich, für unsere Welt.“ [4]
Jeder Mensch zählt. Und jeder Mensch sollte das wissen. Weil es ihm gezeigt und gesagt wird. Immer wieder. Ich bin mir sicher: Wenn Jesus in den letzten 35 Jahren in Deutschland unterwegs gewesen wäre, dann sicher oft im Osten. Um nachzuhören, was die Menschen bewegt. Von ihrer Traurigkeit zu hören, über all das, was nicht mehr ist. Von ihrer Angst, ihrer Freude und Hoffnung. Und von ihrem Ärger über dieses immer und immer wieder Übersehen-, Nicht-gehört-, Nicht-respektiert- Werden mit ihrer Sicht der Geschichte, ihrem Geworden sein.
Ob und wie Jesus in diesen Tagen unterwegs ist, in Ost oder West, das kann ich nicht sagen. Aber ich arbeite ja in Münster. Und da hängt in der Ludgerikirche ein Kreuz mit einem Jesuskorpus. Diesem Jesus fehlen durch einen Bombeneinschlag im Zweiten Weltkrieg die Arme. Die Gemeinde hat die Arme nie ersetzt, sondern stattdessen diesen Satz auf das Kreuz geschrieben: „Ich habe keine anderen Hände als die Euren“. Und dabei geht es nicht nur um die Arme. Jesus hat keine anderen Augen, keine anderen Ohren als die Unseren. Wenn wir genauer hinschauen, genauer hinhören, dann schafft das Verbindung. Mit Jesus und untereinander. Jessy Wellmer schreibt: „Es braucht Aufarbeitung, offene Gesprächskanäle und die Kraft, sich in Bewegung zu setzen – im Osten wie im Westen -, im besten Fall aufeinander zu.“[5] Und ich möchte ergänzen: Der beste Motor, um in Bewegung zu kommen, ist Respekt.
Lied 6: Respect, Aretha Franklin
Ich bin Michaela Bans, aus Nottuln bei Münster. Und ich bin neugierig geworden, auf dieses 35jährige Geburtstagskind namens Deutschland mit Ost, West, Süd und Nord. Es hat uns so viel zu sagen: Anders als viele andere, ist es schließlich mit dem Mauerfall ganz friedlich auf diese Welt gekommen. R-E-S-P-E-C-T, kann ich da nur sagen.
[1] Baring, Arnulf: Deutschland, was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf-Jobst Siedler, München 1991
[2] Gute Nachricht Bibel; Lukas 24, 14-19a
[3] Neue Genfer Übersetzung; 1. Petrus 2,17
[4] Cohn, Ruth C.: "Zu wissen, dass wir zählen", Bern, 1990
[5] Wellmer, Jessy: „Die Neue Entfremdung“, Köln, 2024