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Das Geistliche Wort | 28.07.2024 | 08:40 Uhr
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Jammern und Klagen
Autorin: Jammern und klagen. Ach, tut das manchmal gut.
Kürzlich habe ich mich so richtig hineingesteigert in das Jammern. Ich sitze in
der Deutschen Bahn. Mein ICE steckt an einem schönen Sonntagmorgen zwischen
Berlin und Hannover fest. Es hat mehrfach laut und bedrohlich geknackt, dann geht
es ganz schnell: Mitten in der Wallachei bremst der Zug hart und wir stehen fest…90
Minuten dauert es, bis wir nach Hannover weiterfahren können, wo wir dann alle
den Zug verlassen müssen. Was wirklich passiert ist…niemand sagt es uns. Die
Feuerwehr ist jedenfalls unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Personen sind
wohl nicht zu Schaden gekommen.
Ich bin genervt. Endlich mal ein sonniger Sonntagmorgen und ich stecke in der
Bahn fest. Alles Miese, was ich jemals mit der Deutschen Bahn erlebt habe, kommt
hoch. Wütend tippe ich mein Elend in die Whatsapp Gruppe unserer Familie. Etwas
Mitleid kann ich auf diese Weise erheischen.
Einen Tag später schon frage ich mich: Muss das eigentlich sein? Ich hatte keinen Termin an dem Tag…hatte weder Hunger noch Durst…wieso habe ich nicht einfach weiter meinen Film geschaut? Immerhin gab es noch ein Freigetränk für alle. Und es ist ja am Ende auch gar nichts Schlimmes passiert.
Sprecher: (aus Psalm 38,7+9+11 aus der Basisbibel 2021)
„Ich
bin gekrümmt und tief gebeugt.
Den ganzen Tag gehe ich traurig umher.
Ich bin erschöpft und ganz und gar zerschlagen.
Ich brülle heraus, was mein Herz bedrückt.
Mein Herz pocht heftig, die Kraft geht mir aus.
Autorin: Diese Worte sind mehr als 2000 Jahre alt. Sie stehen in der Mitte der Bibel, in dem Buch der Psalmen. Viele Psalmen klingen wie sehr persönliche Gedichte oder Gebete. Klingen manchmal ganz aktuell, obwohl viele von ihnen fast 2500 Jahre alt sind. Sie klingen zudem ehrlich…da macht niemand auf Friede, Freude, Eierkuchen. Auch Sorgen, Ängste, Trauer und Not werden bei Namen genannt. Es wird laut geklagt.
Man
könnte denken, die Texte in der Bibel müssten doch voller Hoffnung sein. Das
erwartet man doch schließlich von Gläubigen: Dass Gott ihnen Kraft gibt. Was
soll das sonst alles mit dem Glauben? Aber nein: Das Buch der Psalmen ist
voller Klagen.
Vielleicht…weil das Leben so ist? Nicht nur bunt und lustig, sondern auch
schwer und traurig?
Musik 1:
Titel: Silent World (feat. Mitchel Forman);
Komposition/Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Silent World; Label: ACT
Music+Vision GmbH+Co.KG; LC: 07644
Autorin:
Vielleicht
täuscht mein Eindruck. Aber es wird viel geklagt in Deutschland. Vor allem in
den sozialen Medien. Manche sagen, das Internet ist die Plattform der
Dauernörgler. Was wird da geschimpft und gejammert! Über die da oben. Die
Politikerinnen und Politiker zumeist. Über die Ampel, die Altparteien, die uns
in die Misere geführt haben. Welche Misere eigentlich genau, frage ich mich manchmal.
Da lamentiert eine Frau ins Mikrofon der Reporterin, winkt dann ab und geht
nach Hause. In ihr eigenes Haus, das seit Jahren abbezahlt ist, wie die
Reporterin schnell herausfindet. Jammern auf hohem Niveau? Was ist da los? Auch
sehr verbreitet: Klagen über die Medien, dass sie alle staatlich gelenkt seien.
- Kurzer Einschub: Diesen Text hier habe ich an meinem Schreibtisch
geschrieben. Niemand, wirklich niemand hat bei mir angerufen oder mir gesagt,
was ich schreiben soll. Das Thema beschäftigt mich einfach, sobald ich im Netz
unterwegs bin und deshalb will ich meine Gedanken sortieren und mit Ihnen
teilen. -
Zurück zum Klagen: Hat das in dieser Heftigkeit in der Corona-Zeit begonnen?
Das habe ich mich oft gefragt.
Das war eine harte Zeit, zweifelsohne, vor allem für Familien mit Kindern, für all
diejenigen, die besonders um ihre Gesundheit fürchten mussten. Für Menschen in
engen Wohnungen, als man nirgendwo hingehen konnte. Für die, die ihre Arbeit in
der Gastronomie zum Beispiel verloren haben. Ich selbst habe in der Zeit meine
Mutter verloren und wir durften sie wochenlang in ihrer letzten Lebensphase
kurz vor ihrem Tod nicht besuchen. Das war schlimm. Richtig furchtbar. Das hat
meine Schwestern und mich total fertig gemacht.
Sprecher:
(aus
Psalm 38,7+9 aus der Basisbibel 2021)
„Ich bin gekrümmt und tief gebeugt.
Den ganzen Tag gehe ich traurig umher.
Ich bin erschöpft und ganz und gar zerschlagen.
Ich brülle heraus, was mein Herz bedrückt.“
Autorin: Mit diesen Worten aus Psalm 38, einem Klagepsalm der Bibel,
konnte ich damals viel anfangen. So traurig, so verzweifelt wie ich war. Zum
Glück konnte ich mein Elend teilen, mit meinen Schwestern, meiner Familie.
Herausbrüllen…ja, das war manchmal nötig.
Deshalb verstehe ich Menschen auch, die aus tiefsten Herzen klagen. In dieser
Corona-Zeit wurden viele Fehler gemacht. Wir waren alle überfordert. Es war
alles so neu und die Bilder der Toten aus Italien so furchtbar.
Aber: Hätte ich es im Bundeskanzleramt oder als Gesundheitsministerin besser
gemacht? Ich bin mir da nicht so sicher.
Sprecher: Psalm 22,7+8+15 Basisbibel 2021
„Ich
bin ein Wurm und kein Mensch.
Ein Gespött der Leute.
Alle, die mich sehen, lachen nur über mich.
Sie spitzen ihre Lippen, sie schütteln den Kopf.
Mein
Lebensmut ist weich wie Wachs.
Dahingeschmolzen in meinem Inneren.“
Autorin: Wenn ich solche Klagen höre – auch diese Worte stehen in der Bibel, in Psalm 22 - frage ich mich unwillkürlich: Was um Himmels willen ist passiert? Ist dieser Mensch erkrankt, hat jemand ihn gedemütigt, beleidigt, gemobbt oder geschlagen?
Oder … ist das vielleicht jemand, der es sich im Jammern gemütlich macht?
Denn das gibt es ja auch. Es ist gar nicht so unattraktiv: Einfach immer
schimpfen auf die da oben. immer auf die anderen zeigen: Die Nachbarn, den
Partner oder die Partnerin, die Politik, die Medien und so weiter. Die anderen
sind schuld, und ich bin Opfer. Unschuldig. Ich kann nichts machen.
Dann ist das Klagen eher so was wie: Schmollend in der Ecke sitzen. Eher so was Kindisches. Eher etwas, was sich mal ändern müsste…so bald man etwas erwachsen wird.
„Deutschland, einig Jammerland“ heißt ein Buch, das die beiden Psychologen Annika Lohstroh und Michael Thiel bereits 2011 geschrieben haben. Sie unterscheiden darin zwischen Kritik und Jammern. Beides entsteht, weil Menschen gerne glücklich sein wollen. Aber es gibt große Unterschiede:
Sprecherin:
„Kritik und Jammern entspringen der gleichen Quelle, dem Streben nach Glück.
Nur dass Kritik mit Lösungsvorschlägen, Fakten und konkreten Hinweisen
aufwartet, also sich direkt an ein Gegenüber wendet, damit lösungsorientiert
und handlungsfordernd ist. Während Jammern ein Ausdruck der inneren
Befindlichkeit ist (…), sich nicht direkt an einen Adressaten wendet, vor allem
aber keine konkreten Veränderungen fordert und damit Verantwortung und
Konsequenzen aus dem Weg geht.“ (Deutschland, einig Jammerland, Seite 39f.)
Sprecher: Psalm 13,1-4a+6 (Übersetzung Luther 2017)
Gott,
wie lange willst du mich so ganz vergessen?
Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?
Wie lange soll ich mich sorgen in meiner Seele
und mich täglich ängstigen in meinem Herzen?
Schaue
doch und erhöre mich, Herr, mein Gott.
Ich traue darauf, dass du so gnädig bist.
Mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst.
Ich will Gott singen, der so wohl an mir tut.“
Autorin: Ein Klagepsalm. Auch hier wird „nach oben“ geschimpft. In diesem Fall geht es aber nicht gegen die amtierende Regierung, nicht gegen die Parteien, sondern gegen Gott: Wie lange noch! Wie lange vergisst du mich, wo ich doch zugrunde gerichtet werde? Wie kannst du nur?
Dann kommt das Erstaunliche. Die Wende. Und diese Wende gibt es in allen Klagepsalmen der Bibel: Auf einmal lesen wir: „Ich vertraue darauf, dass du gnädig bist. Dass du hilfst.“ Und mehr noch: „Ich will Gott singen, dass er so wohl an mir tut“.
Wie
kommt es zu dieser Wende: Eben noch tiefstes Leid und dann: Hoffnung, sogar Lob
und Dank?
Das passt doch irgendwie gar nicht.
Oder…vielleicht gerade…und vielleicht doch?
Musik 2:
Titel: Here and Now (feat. Bill Evans); Komposition/Interpret:
Wolfgang Haffner; Album: Silent World; Label: ACT Music+Vision GmbH+Co.KG; LC:
07644
Autorin:
Die
Wende. Wie kommt man raus aus dem Loch? Die Psalmen der Bibel zeigen einen Weg
auf: Zu klagen, auch laut zu klagen oder mit anderen zu klagen - das ist
wichtig. Es gehört zum Menschsein dazu. Früher wurden diese Psalmen allein oder
auch in Gemeinschaft zu bestimmten Anlässen gesungen, gesprochen, inszeniert. An
den Heiligtümern, in Kulten oder am Kranken- und Sterbebett. Klagen mitten im
Alltag. Denn das Leben ist auch schwer und dunkel.
Aber da nicht stehen zu bleiben…das ist die Kunst.
In den Psalmen greifen die Menschen zu einem vielleicht einfachen oder auch
sehr schweren Trick: Sie erinnern sich an das, was Gott alles Gutes für sie
gemacht hat. Wo Gott sie geschützt, gerettet und bewahrt hat. Das bedenken sie
wieder und wieder. Dadurch wendet sich das Blatt. Dann gelingt ein zweiter
Blick: Auf die eigenen Ressourcen, die Kraftquellen. Wie im Theater, wenn auf
einmal ein zweiter Scheinwerfer angeworfen wird, der die Bühne in einem neuen
Licht erstrahlen lässt. Der sichtbar macht, was vorher im Dunklen lag: Ah, da
ist noch was anderes. Licht, Hoffnung, Dankbarkeit, Kraft.
Der
Satz einer berühmten Schriftstellerin und Filmemacherin fällt mir ein. Sie hat 2001
den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen und sich bis dahin schon
oft durchkämpfen müssen. Nicht nur als schwarze Schülerin an einer
Missionsschule in Simbawbe, sondern auch, als sie wegen ihres Protestes gegen
die Korruption in ihrer Heimat ins Gefängnis kommt. Tsitsi Dangarembga hat mal
gesagt:
"Wenn ihr wollt, dass euer Leiden aufhört, müsst ihr handeln".
Das ist ein klares Statement. Von einer, die es wissen muss.
Durch
Jammern wird nix besser. Man muss ins Handeln kommen.
Nun werden in den Psalmen keine Patentrezepte vergeben: tu dies oder das und
dann geht es bergauf.
Musik 3:
Titel: The Peace Inside (feat. Till Brönner); Komposition/Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Silent World; Label: ACT Music+Vision GmbH+Co.KG; LC: 07644
Autorin (overvoice): In den Psalmen beginnt das Handeln damit, dass ein zweiter Schalter angemacht wird: Was habe ich nicht alles schon Gutes erlebt? Wofür bin ich Gott dankbar?
Musik 3 freistehend
Autorin: Ich bin gefangen in meinen trüben Gedanken und dann gelingt es mir, da herauszukommen. Indem ich mich frage: Was ist mir alles schon geschenkt worden? Von Gott oder von wem auch immer? Was gibt mir Kraft? Was macht mir Hoffnung? Wofür bin ich dankbar?
Funktioniert das auch heute?
Oder ist das realitätsfern?
Kann es nicht eine Wende nur geben, wenn etwas ganz Handfestes sich verändert?
Also wenn zum Beispiel die Mieten bezahlbar werden oder der Mindestlohn steigt,
wenn der Partner sich endlich mehr um den Haushalt kümmert oder die Kinder
öfter zu Besuch kommen?
Ich denke, da ist was dran. Hätten wir heute immer noch die harten Coronaregeln
und dürften nicht miteinander feiern und vieles mehr…dann wäre die Stimmung
hier eine komplett andere. Wären Schulen renoviert und gäbe es genügend
Pflegekräfte, Erzieherinnen, Handwerker, die Stimmung würde sich merklich
aufhellen, oder?
Vor einem Jahr gab es eine Befragung junger Menschen in sieben europäischen
Ländern zwischen 16 und 26 Jahren. Nur etwas mehr als die Hälfte blickt
optimistisch in die Zukunft. Die gegenwärtigen Krisen bedrücken sie: Klima,
Energie, Kriege, Fachkräftemangel und manches mehr.
Das
sind echte Probleme und große Herausforderungen. Die kann man nicht
wegmeditieren. Nicht schönreden. Nicht optimistisch übertünchen. Wir werden
alle gebraucht, um diese Krisen zu meistern.
Jede und jeder von uns.
Dafür aber brauchen wir Kraftquellen. Klagen allein hilft nicht weiter. Die
Psalmen der Bibel sagen: Schaut hin, was Gott euch alles geschenkt hat. Dann
bekommt Ihr Kraft. Dann geht es voran.
Sprecher:
Psalm
23, 1-3a,6, Luther 2017)
Der Herr ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen ein Leben lang
Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
Autorin:
Neben
den Klagepsalmen gibt es in der Bibel auch die wunderschönen Dankgebete, gerade
im Buch der Psalmen. Wie dieser bekannte Psalm 23.
Das Klagen und Danken gehört in der Bibel zusammen.
Ich denke sehr oft: Was für ein Privileg, dass ich in diesem Teil der Welt,
hier in Deutschland geboren bin. Nichts, gar nichts habe ich dazu getan. Bin geboren
in ein Land hinein, das immer noch zu den reichsten in der Welt gehört. In eine
Phase des Friedens und großen Wohlstandes.
Da kann ich doch nur dankbar sein. Keinen Tag sollte ich verstreichen lassen,
ohne mich daran zu erinnern. Damals, in der Coronazeit, als meine Mutter starb,
ist mir das auch deutlich geworden. Sie wurde vier Jahre vor dem 2. Weltkrieg
geboren. Ihre Kindertage fielen in diesen grauenvollen Krieg, in eine Zeit, als
Bomben fielen, Familien Hunger litten und viel, viel Angst hatten um ihre
Lieben an der Front. 1947 starb ihre Mutter, nachdem ihr Vater 1946 krank und gebrochen
von der Front heimgekehrt war. Wie viel schwerer war das Leben doch für sie.
Dankbar zu sein, für so etwas Großes, aber auch die vielen kleinen Dinge…das
macht zufrieden. Mir persönlich fällt auch niemand anderes ein, an den ich
meinen Dank richten könnte, als Gott. Mich daran zu erinnern, was Gott mir schon
alles geschenkt hat, jeden Tag wieder neu, das gibt mir viel Kraft.
Kraft, die ich brauche. Denn natürlich sehe ich auch: Unser Land, unsere Welt
steht vor großen Herausforderungen. Vieles muss kritisiert und verändert
werden.
Jammern reicht nicht. Handeln ist das Gebot der Stunde. Wie gut, dass wir in einer Demokratie leben, wo wir alle etwas tun können. Ich kann morgen auf die Straße gehen und demonstrieren. Ich kann in eine Partei eintreten und mitreden. Ich kann mich ehrenamtlich engagieren, damit etwas anders wird.
Musik 4:
Titel: Rise and Fall; Komposition/Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Silent World; Label: ACT Music+Vision GmbH+Co.KG; LC: 07644
Autorin
(overvoice): Auch Jesus hat gejammert. Aber ganz anders.
An mehreren Stellen in der Bibel heisst es: …und es jammerte ihn. Immer dann,
wenn Menschen ihr Leid vor ihn gebracht haben. Ihre Krankheit, ihre Not. Da klingt
etwas anderes durch: „Es jammerte ihn“ heißt dann: er fühlte mit, es rührte ihn
an, es ließ ihn nicht kalt.
Das wünsche ich uns allen: Das wir Worte finden und Klagen können, wo wir Grund
dazu haben. Dass wir Kraftquellen haben und danken können. Dass wir Dinge in
die Hand nehmen und unser Land mitgestalten. Und manchmal wünsche ich uns
jemanden, den „es jammert“: Der Mitgefühl zeigt, sich anrühren lässt, Leid spürt,
um dann zu handeln.
Bleiben Sie behütet, Ihre Pfarrerin Antje Rösener aus Hattingen.
Musik 4: freistehend bis Beitragsende
Quellen:
Annika Lohstroh, Michael Thiel: Deutschland, einig Jammerland.
Gütersloh 2011
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth