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Das Geistliche Wort | 25.08.2024 | 08:40 Uhr

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Der siebte Mann

Musik 1: Shallows

Titel: Shallows; Text: Elena Tonra, Igor Haefeli; Interpretin: Daughter; Album: If You Leave; Label: 4ad/Beggars Group/Indigo; LC: unbekannt


Autor (overvoice): Ein Mann erzählt aus seinem Leben. Als Kind erlebt er eine Katastrophe. Einen Tsunami. Die Riesenwelle reißt seinen Freund mit. Seitdem fühlt der Mann sich schuldig. Hat Albträume. Verlässt seine Heimat. Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami berichtet seine Geschichte in einer kleinen Erzählung: „Der siebte Mann“. Am Ende wird der Mann von seinen Schuldgefühlen befreit. Und mich bewegt sehr, wie es zu dieser Befreiung kommt.


Musik 1: Shallows (freistehend)


Autor: Sieben Personen sitzen in einem Zimmer. Draußen heult der Wind. Sie erzählen sich die Geschichten ihres Lebens. Murakami schafft damit einen Rahmen wie Joseph Conrad in seiner berühmten Erzählung „Herz der Finsternis“. Auch bei Conrad sitzen ein paar Männer zusammen. Sie erzählen sich von dem, was ihr Leben verändert hat. Von Abgründen, in die sie geblickt haben. Und davon, wie sie mit dem Gefühl der Schuld umgegangen sind. Im Herz der Finsternis geht es um eine Reise in den Kongo. Murakami nimmt seine Leser mit nach Japan. In die Jugend seines Helden. Auch hier geht es um Wesentliches. Keine belanglose Plauderei. Sondern was hier erzählt wird, geht mitten ins Herz. Es hat mit den Abgründen der Seele zu tun. Und mit ihrer Heilung.


Sprecherin: „Einmal wäre ich beinahe von einer Welle fortgerissen worden. Das war an einem Nachmittag, als ich zehn war. Es war die riesigste Welle, die ich je gesehen habe. […] Ich bin ihr knapp entgangen, doch dafür verschlang sie alles, was mir wichtig war, und riss es mit sich in eine andere Welt.“ (S. 195)


Autor: Alles, was ihm wichtig war. Der Tsunami hat den Freund des Mannes mit sich gerissen. Beim Erzählen nennt er ihn K. Seit er denken kann, hat er diesen besten Freund. Sie wohnen nah beieinander in einem japanischen Küstenstädtchen. Die beiden gehen auf dieselbe Schule. Sind wie Brüder. Im Laufe ihrer Freundschaft streiten sie sich kein einziges Mal.


Sprecherin: K. war ein dünnes, blasses Kind, mit einem fast mädchenhaft hübschen Gesicht. Er hatte allerdings einen Sprachfehler, und man verstand ihn schwer; wer ihn nicht kannte, hielt ihn möglicherweise sogar für geistig behindert. Und da er so zart war, spielte ich in der Schule wie außerhalb immer die Rolle seines Beschützers. (S. 196)


Autor: Der Freund ist kein guter Schüler. Aber im Zeichnen ist er hochbegabt. Seine Bilder sind ausdrucksvoll und lebendig. Er malt Landschaften, vor allem Seestücke. Am liebsten ist er am Strand und zeichnet. Der Erzähler sitzt oft neben ihm und schaut ihm beim Malen zu. Im September kündigt das Radio einen Taifun an. Den schwersten seit Jahren. Heute denke ich an die Katastrophe von Fukushima. Das Erdbeben und den Tsunami, der die große Reaktorkatastrophe auslöste. Doch Murakami hat seine Erzählung schon fünfzehn Jahre davor geschrieben.

Kurz nach Mittag ändert der Himmel seine Farbe. Der Wind beginnt zu heulen. Der Regen peitscht mit einem seltsam trockenen Prasseln ans Haus. Eine Stunde lang wütet der Taifun. Er versucht, alles zu entwurzeln und mit sich zu tragen. Dann plötzlich Stille. „Wir sind im Auge des Taifuns,“ erklärt der Vater. „Diese Ruhe wird etwa fünfzehn Minuten andauern, dann bricht der Sturm wieder los.“ Der Junge will kurz ans Meer. Der Vater erlaubt es ihm.


Sprecherin: K. sah mich und kam ebenfalls nach draußen. „Wo gehst du hin?“, fragte er. „Ich will mal am Meer nachschauen“, erwiderte ich. Wortlos schloss er sich mir an, und auch sein kleiner weißer Hund folgte uns. „Aber sobald Wind aufkommt, müssen wir sofort zurück“, sagte ich, und K. nickte stumm. (S. 199)


Musik 2: Tomorrow
Titel: tomorrow; Text: Elena Tonra; Interpretin: Daughter; Album: If You Leave; Label: 4ad/Beggars Group/Indigo; LC: unbekannt


Autor: Die beiden Jungen sind im Auge des Taifuns. Sie gehen an den Strand. Begutachten die angespülten Dinge. Plastikspielzeug. Möbelteile und Kleidung. Zerbrochene Kisten mit fremder Schrift. Das Meer ist erstaunlich ruhig. Hat sich weit zurückgezogen, weiter noch als normalerweise bei Ebbe. Plötzlich ist es wieder da. Ganz nah. Nur zehn Zentimeter von den beiden entfernt. Dann zieht es sich erneut zurück und kommt nicht wieder. Dem Erzähler ist das unheimlich. „Los, wir hauen ab!“, ruft er dem Freund zu. Aber der hört nicht.


Sprecherin: Dann hörte ich ein Donnern. Es war so laut, dass es beihnahe die Erde erbeben ließ. Oder, nein – vor dem Donnern hörte ich noch ein anderes Geräusch, ein eigenartiges Gurgeln, als würden große Mengen Wasser aus einem Loch hervorsprudeln. Kurz darauf verschwand es, und ich hörte das seltsame Donnern, das sich immer mehr in ein anhaltendes Brüllen verwandelte. (S. 200f.)


Autor: Der Freund scheint das jedoch nicht zu hören. Der Erzähler will zu ihm hinüberrennen und ihn fortzerren. Er weiß, die Welle kommt. Er will zum Freund. Aber seine Füße laufen in eine andere Richtung. Allein läuft er zur Kaimauer. Von dort ruft er: „Achtung! Eine Welle!“ Diesmal hört es der Freund. Aber es ist zu spät. Die Welle ist lautlos. Hoch wie ein zweistöckiges Haus. Der Freund starrt fassungslos. Dann dreht er sich zur Welle. Und wird verschlungen. Der Erzähler rettet sich hinter den Damm. Danach kommt eine zweite Welle. Und es geschieht etwas Traumatisches.


Sprecherin: Ich kann es Ihnen nicht verdenken, wenn Sie das, was jetzt kommt, unglaubwürdig finden; ich kann es ja bis heute selbst kaum glauben. […] Im Kamm der Welle sah ich, wie in eine durchsichtige Kapsel eingeschlossen, K.s Körper. Doch damit nicht genug, K. lächelte mich sogar an. […] Sein eisiger Blick war auf mich geheftet, während er die rechte Hand nach mir ausstreckte, als wolle er nach mir greifen und mich in seine Welt hinüberziehen. Fast hätte die Hand mich erreicht, und K. grinste mich noch breiter an. Danach verlor ich anscheinend das Bewusstsein. (S. 203)


Autor: Nach drei Tagen wacht der Erzähler wieder auf. Es ist wie eine Auferstehung aus dem Totenreich, am dritten Tage. Aber keine Befreiung. Er hat überlebt. Niemand macht ihm Vorwürfe. Der Freund bleibt verschwunden. Seine Leiche wird nie gefunden. Aber er verfolgt den Erzähler bis in die Träume. Der kann das grinsende Gesicht des Freundes nicht vergessen. Seine ausgestreckte Hand. Immer wieder träumt er, ins Wasser gezogen zu werden. Schreiend und schweißgebadet wacht er auf.

Er kann nicht mehr an der Küste leben. Die Familie zieht ins Gebirge, in die Präfektur Nagano. Aber die Träume bleiben. Und die Schuldgefühle. Er heiratet nicht. Er will keine Partnerin mitten in der Nacht mit seinem Geschrei erschrecken. Das Entsetzen, das ihm tief in den Knochen steckt, kann er mit keiner anderen Person teilen.


Musik 3: Waves

Titel: Waves, Text: Dennis Stehr; Interpret: Mr. Probz; album: Against the Stream; Label: Left Lane Records; LC: 100534.


Autor: Vierzig Jahre bleibt der Mann seiner Heimatstadt fern. Die berühmten Vierzig, die eine Zeit voll machen: Wie beim Zug des Mose durch die Wüste. Er fährt niemals ans Meer. Geht nicht einmal mehr ins Schwimmbad. Dann stirbt sein Vater. Die Familie räumt das Haus auf und findet einen Karton. Darin sind Bilder, die der ertrunkene Freund gemalt hat. Die Familie schickt den Karton nach Nagano. Der Erzähler vermag kaum, die Bilder zu betrachten. Aber dann zwingt er sich doch.


Sprecherin: Die meisten waren Landschaftsbilder. Ich sah den vertrauten Strand, das Kiefernwäldchen dahinter und unseren Ort. […] Wehmut ergriff mich. Die Bilder waren künstlerisch viel besser, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Der Junge K. hatte seine tiefsten Empfindungen hineingelegt, und sein Blick auf die Welt war mir so vertraut wie mein eigener. Ich erinnerte mich lebhaft und in allen Einzelheiten an die Dinge, die wir unternommen hatten. […] Ja, genau, so hatte ich damals die Welt gesehen, ungetrübt und lebendig, wie der Junge K. an meiner Seite. (S. 207)


Autor: Von da an betrachtet er die Bilder jeden Tag. Manchmal versenkt er sich für Stunden in eines davon. Beim Anschauen ist ihm, als dringe sanft etwas in ihn ein. Nach einer Woche geschieht eine Veränderung mit ihm. Ein Gedanke steigt in ihm auf. Die Gewissheit von vierzig Jahren verliert ihre Macht. Etwas Neues gewinnt Kraft. Ausgelöst durch die Betrachtung der Bilder des Freundes.


Sprecherin: Vielleicht war ich bis jetzt einem schrecklichen Irrtum erlegen? Vielleicht hatte K., als er im Kamm der Welle trieb, mich gar nicht hasserfüllt angesehen und mich auch nicht mit sich reißen wollen. Vielleicht hatte sogar sein Lächeln nur grausig gewirkt; sicher war er doch gar nicht mehr bei Bewusstsein gewesen. Oder er hatte mir noch einmal sehnsüchtig zugelächelt. […] Der Hass, den ich in seinem Blick erkannt zu haben glaubte, war vielleicht nichts als ein Spiegel der tödlichen Angst gewesen, die damals von mir Besitz ergriffen hatte. Je intensiver ich K.s Aquarelle betrachtete, desto stärker wurde dieses Gefühl. Auch bei genaustem Hinsehen entdeckte ich in ihnen nichts andres als K.s arglose, unschuldige Seele. (S. 207f.)


Musik 4: Fragile

Titel: Fragile; Künstler: Nils Landgren & Michael Wollny; Album: Fragile At Schloss Elmau; Label: ACT Music + Vision GmbH & Co. KG; LC: LC: 07644


Autor (overvoice): Der Mann meditiert die Bilder seines Freundes. Immer und immer wieder. Dabei verändert sich etwas in ihm. Seine festen Gewissheiten lösen sich auf. Es entsteht der Raum für etwas Neues. Für eine Erkenntnis. Er sieht endlich wieder das wahre Wesen des Freundes. Er sieht eine Liebe, die er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Weil seine Schuldgefühle stärker gewesen sind und alles überlagert haben. Erst die immer neue, stundenlange Betrachtung hat etwas verändert.


Musik 4: Fragile (freistehend)


Autor: Die Erzählung ist voller religiöser Symbole. Die drei Tage in der Schlafwelt des Todes. Wie bei Jesus, der nach seiner Hinrichtung drei Tage lang tot war. Die vierzig Jahre in der Wüste. Von Mose wird in der Bibel erzählt, wie er vierzig Jahre lang durch die Wüste des Sinai zieht. Zusammen mit seinem ganzen Volk. So lange kann es brauchen, bis ein einschneidendes Ereignis verarbeitet ist. Und das Gefühl von Schuld, das sich vielleicht damit verbindet.

Auch vor dem Wüstenzug der Israeliten gibt es eine schreckliche Flutwelle. Nach dem biblischen Bericht fällt ihr eine ganze Armee zum Opfer. Für die flüchtenden Israeliten ist das eine Rettung. Ihre Verfolger werden vernichtet. Aber wie schrecklich ist dieses Ereignis für die verfolgenden Ägypter! Können die Flüchtenden nicht auch denken, dass ihre Rettung teuer erkauft worden ist? – Auch Sturm und Schiffbruch, Träume und Angst begegnen immer wieder in der Bibel. Und der lange Weg zur Heilung.

Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami ist vertraut mit westlichen Traditionen. Bestimmt ist das einer der Gründe für seinen Erfolg in der westlichen Welt. Immer wieder verwendet er jüdische und christliche Symbole. Genauso wie Motive der japanischen Kultur.

Am tiefsten berührt mich in dieser Erzählung die Bedeutung der Bilder. Tagelang betrachtet der Überlebende die Zeichnungen des toten Freundes. Vierzig Jahre nach den traumatisierenden Erlebnissen. Stundenlang sitzt er manchmal vor einem Bild. Meditiert es. Verhärtete Überzeugungen wandeln sich dabei. Versteinertes gerät in Bewegung. Und am Ende wird seine Seele geheilt.

Mich erinnert das daran, was in der Meditation geschieht. Dabei nehme ich mir ebenfalls viel Zeit. Ich lese einen Text. Käue ihn wieder und wieder. Nehme seine Bilder in mich auf. So versuche ich, mich der Person Jesu zu nähern. Dem toten Freund. Die alten Texte sagen, dass er auch durch meine Schuld gestorben ist. Und ich frage mich, wie das sein kann.

Die Rede von Schuld und Strafe, ja sogar von Gottes Zorn, kann mein Bild von Gott verdunkeln. Besonders, wenn sich das Gefühl einer Schuld tief in mir verankert hat. Weil ich es vielleicht schon lange in mir trage. So wie der Mann aus Murakamis Erzählung. Oder wie ein Kind, dessen Verhältnis zu seinen Eltern voller Konflikte ist. Dem lange vermittelt worden ist: Es ist deine Schuld, wenn wir streiten. Weil du dich unseren Regeln widersetzt. Weil du uns nicht respektierst.

Vergiftet werden diese Schuldgefühle, wenn sie religiös überhöht werden. Wenn ein Kind auf seiner Meinung beharrt und damit nicht nur die Eltern provoziert. Sondern angeblich auch noch gegen das Gebot verstößt, Vater und Mutter zu ehren. Oder wenn ein jugendlicher Mensch in sich eine sexuelle Orientierung entdeckt, die scheinbar dem überlieferten Willen Gottes widerspricht. Das Kind ist nicht Schuld am Streit der Eltern. Und der junge Mensch darf sein, wie er oder sie ist. Mit Schuld hat das gar nichts zu tun. Aber es wird Menschen eingeredet.


Immer wieder flüchten manche deshalb vor Gott. Sozusagen in die Berge, wie der Mann aus Murakamis Erzählung. Aber die Flucht heilt keine Wunden. Ich muss mich auseinandersetzen. Ich kann mich in die Bilder von Jesus versenken. Kann dabei seine arglose, unschuldige Seele entdecken. Und erkennen, dass mich nichts von Gottes Liebe trennen kann. So erlebe ich es, wenn ich die alten biblischen Texte lese und meditiere.


Vielleicht finden auch Sie einen solchen Weg, der Sie verbindet mit Gott und der alte Wunden heilt. Einen besinnlichen Sonntag wünscht Ihnen Pfarrer Sven Keppler von der Evangelischen Kirche in Versmold.


Musik 4: Fragile


Quellen:

Haruki Murakami, Der siebte Mann [1996], in: ders., Blinde Weide, schlafende Frau. Erzählungen, Köln 2006, S. 195-210.


Joseph Conrad, Herz der Finsternis [1899], in: ders., Jugend. Herz der Finsternis. Das Ende vom Lied. Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurt a. M. 1968, S. 59-191



Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

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