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Das Geistliche Wort | 08.09.2024 | 08:40 Uhr

Abschied geht durch den Magen

Aus rechtlichen Gründen enthält das Audio der Internetfassung nicht die im Manuskript genannte Musik.


Autorin: «Das war gut,» sagt Rainer an der Kirchentür zu mir, «es ist mir verdammt nahegegangen, aber es hat mir gutgetan. Nur, jetzt einfach so nachhause gehen, in die leere Wohnung zurück, das ist jetzt ganz schön schwer.»

Rainer war gerade im Lichtblick-Gottesdienst. Der findet dreimal im Jahr statt, im Zentrum Lichtblicke an der Auferstehungskirche in Bad Salzuflen. In diesem Zentrum werden Menschen begleitet, die gerade eine Krise erleben. Oft ist da ein Abschied zu bewältigen, jemand ist gestorben, die Trauer ist da und das ganze Leben ist durcheinandergeraten. So ist es auch für Rainer, dessen Frau vor einem Jahr gestorben ist. Lange hatte er sie zuvor mit großer Fürsorge gepflegt. Und jetzt?

Im Zentrum Lichtblicke, einem Projekt der evangelisch-lutherischen Gemeinde Bad Salzuflen und der Lippischen Landeskirche, gibt es Beratung und Seelsorge, Gottesdienste und Gesprächsreihen, aber auch Konzerte und Ausstellungen, eben alles, was Menschen hilft, wieder ins Leben zurückzufinden. Und dazu gehört auch der Lichtblick-Gottesdienst. Er ist für alle da, die keine Gelegenheit hatten, an einer Trauerfeier teilzunehmen. Weil es z.B. gar keine gab. Oder weil sie nur im engsten Familienkreis stattfand. Weil man aus anderen Gründen nicht hingehen konnte. Oder weil alles so vorbeigerauscht ist bei der eigentlichen Beerdigung. Jetzt, einige Zeit später, ist der Wunsch da, noch einmal in Ruhe an den Menschen zu denken, der gestorben ist, der Trauer einen Ort zu geben und auch von der Hoffnung zu hören, die es gibt, wenn ein Abschied zu bewältigen ist.


Musik 1: Traumvogel

Komposition/Interpretin: Almuth Keller); private Aufnahme (rechtefrei)

1:42-1:11 = 0:31


Autorin: Ein besonderer Gottesdienst: Die Abendsonne durchflutet die Kirche, eine Flötistin improvisiert einfühlsam auf ihrem Instrument, es gibt viel Raum für die Stille, die eigenen Gedanken, dann Lesungen, die der Klage und schließlich der Hoffnung Worte leihen. Am Ende zünden alle Teilnehmenden eine kleine Osterkerze für den Menschen an, um den sie trauern und empfangen den Segen in einem großen Kreis.

Und dann? Nachhause? Rainer schaut mich an. „Was würde dir denn guttun jetzt?“ frage ich. „Noch ein bisschen zusammensitzen“, sagt er. „Was essen?“ „Wär nicht schlecht.“ So ist es gekommen, dass die Lichtblick-Gottesdienste inzwischen in ein gemeinsames Abendessen münden. Allen, die kommen, bedeutet das offenbar viel, sie bleiben gern. Und war das nicht schon immer so, dass zum Abschiednehmen, zum Trauergottesdienst auch das gemeinsame Essen danach gehört? Dass Abschiednehmen auch durch den Magen geht?


Musik 2: Irische Weise

Komposition/Interpretin: Almuth Keller; private Aufnahme (rechtefrei)

3:18-4:08


Autorin: Oft laden Angehörige nach der Trauerfeier noch zum Kaffeetrinken ein. Muss man dahin? Ist das bloß eine Konvention? Oder steckt mehr dahinter? Wozu kann das gut sein? Die Bibel erzählt eine Geschichte von König David, der sich in die schöne Batseba verliebt. Er will unbedingt mit ihr zusammenkommen, deshalb schickt er ihren Mann an die Front, wo er ums Leben kommt. Egal, was man davon hält, jetzt kommt der ergreifende Teil der Geschichte: Batseba ist schwanger von David und bringt einen Sohn zur Welt, den David sofort ins Herz schließt. Der Prophet Nathan aber sagt ihm, dass das Kind nach kurzer Zeit sterben wird. Daraufhin beginnt David zu fasten und mit Gott um seinen Sohn zu ringen, nächtelang liegt er auf der bloßen Erde, betet und will niemanden sehen. Nach sieben Tagen stirbt das Kind. Da heißt es:


Sprecher: „Da stand David von der Erde auf und wusch sich und salbte sich und zog andere Kleider an und ging in das Haus des Herrn und betete an. Und als er wieder heimkam, ließ er sich Speise auftragen und aß. Da sprachen seine Männer zu ihm: Was soll das, was tust du? Als das Kind lebte, hast du gefastet und geweint; nun es aber gestorben ist, stehst du auf und isst? Er sprach: Als das Kind noch lebte, fastete ich und weinte; denn ich dachte: Wer weiß, ob mir der Herr nicht gnädig wird und das Kind am Leben bleibt? Nun es aber tot ist, was soll ich fasten? Kann ich es wieder zurückholen? Ich werde wohl zu ihm fahren, es kommt aber nicht wieder zu mir zurück.“ (1)


Autorin: Essen, trinken, sich waschen, schlafen wohl auch – die einfachen Dinge des Lebens tun. David drückt damit aus, dass er annimmt, was geschehen ist und ins Leben zurückkehrt. Nicht gleichgültig, aber realistisch: Die Aufgabe ist jetzt, weiterzuleben, Verantwortung zu übernehmen, und mit den einfachen Dingen wie essen und trinken fängt das an. Hier liegt eine der Wurzeln der gemeinsamen Mahlzeit nach einem Trauerfall. Menschen kehren ins Leben zurück, zurück aus der Erstarrung und dem Schrecken. Und oft ist es ja so, dass da, wo jemand allein keinen Bissen herunterbekommt, die Gemeinschaft doch hilft, dass es wenigstens ein bisschen weitergeht.

Gemeinschaft, das ist etwas sehr Wichtiges bei der Mahlzeit nach dem Abschied. Trauer macht einsam. Gemeinsam trauern, gemeinsam erzählen, sich miteinander erinnern und dann auch vorsichtig miteinander lachen können: Bei den Gesprächen nach dem Trauergottesdienst ist Raum für Geschichten aus dem Leben des oder der Verstorbenen, für die in einer Predigt im Gottesdienst nicht der Ort ist. Die aber wichtig sind und dazu gehören.
„Weißt du noch…?“ Wie gut, wie befreiend kann das sein, wenn dann Erlebnisse, Gespräche, Erfahrungen noch einmal zu Wort kommen. Die berührenden. Die lustigen und die bitteren auch. Die Erinnerung an einen Menschen wird dadurch vollständiger, „runder“, viele können miterzählen. Im Erzählen beim gemeinsamen Essen ist der oder die Verstorbene noch einmal gegenwärtig.

Das ist ein weiteres Motiv der gemeinsamen Mahlzeit. Schon frühchristliche Grabstätten lassen manchmal erkennen, dass die Familie direkt an den Gräbern gegessen und getrunken hat. Ein steinerner Tisch ist vorhanden, Reliefs von den Speisen sind auf Grabplatten zu erkennen, etwa Brot, Eier, Kuchen und Fisch. Bis heute gibt es das Totengedenken mit einer Mahlzeit auf den Friedhöfen in vielen christlichen Traditionen, z.B. in Südamerika. Die Funktion ist oft eine doppelte: Sie bedeutet Gemeinschaft mit den Verstorbenen, sie gehören zum Familienverband dazu, und man achtet sie. Aber ihre Gegenwart ist auch begrenzt. Sie sind auf dem Friedhof und nicht am Küchentisch. Sie werden geehrt, die Trauer hat ihren Raum, aber sie sollen nicht die Zukunft der Lebenden beherrschen. Die, die weiterleben, müssen sich neu orientieren, ohne die Toten, und das ist moralisch nicht verwerflich. Es gehört zum Leben.

So ein Essen nach dem Abschied hat auch etwas mit Selbstvergewisserung zu tun: Wir leben schließlich noch! Wir essen und trinken und leben, trotz aller Schrecken, die der Tod mit sich bringt. Wundert es, dass solche Mähler bisweilen auch exzesshafte Züge bekommen? Dass am Ende gefressen und gesoffen wird? Da mischen sich zutiefst menschliche Gefühlslagen wie Angst vor der Vergänglichkeit und Dankbarkeit für das eigene Leben, Trauer und Lebensgenuss. Und möglicherweise ist das eine Gemeinschaftserfahrung, die jenseits aller Worte eine Verbundenheit schafft, die tragfähiger ist als manche wohlformulierte Beileidsbekundung auf schön gedruckter Karte. Zusammen essen, erzählen, weinen und lachen und auch über die Stränge schlagen, das heißt gemeinsam tragen, dass der Tote nicht zurückkommt, man aber eines Tages selbst zu ihm fahren wird.


Musik 3: Winter Wisdom
Komposition: Magnus Lindgren & Björn Yttling; Interpret: Magnus Lindgren; Album: Stockholm Underground; Label: ACT Music+Vision GmbH+Co.KG; LC: 07644

9:26-10:20 = 0:54


Autorin: Und was gibt es nun zu essen? Von schlicht bis opulent war und ist alles möglich. Eine aus dem 17. Jahrhundert überlieferte Speisenfolge für einen zweitägigen Leichenschmaus bei Adligen hört sich so an:


Sprecher: „Erstere Tracht: 1. Suppen. 2. Rindfleisch. 3. Alte Hüner gesotten. 4. Reißbrey, 5. Piphan. 6. Karpfen blau gesotten. 7. Pasteten. 8. Mandeltorten. 9. Forellen. 10. Lammsbraten. 11. Hasen. 12. Süßgemüs. 13. Gebackenes Zwie- oder Spritzgebackenes.


Autorin: Da kann einem schon schwindelig werden, wenn man das hört. Eine zweite Tracht führt weitere 13 Gerichte auf und dazu kommt noch Konfekt. Mancher wird sich zu früheren Zeiten finanziell geradezu ruiniert haben mit der Ausrichtung eines solchen Essens. Es diente eben auch der Selbstdarstellung der Familie. Man wollte sich nicht lumpen lassen, wenn Gäste von weither kamen. Der Kirchenvater Augustin hat diese Protzerei und Schwelgerei schon früh mit Sorge gesehen und geraten, gerade angesichts solcher Abschiedsmähler die Armen nicht zu vergessen. Das wiederum berührt sich mit der Tradition, dass Nachbarn und Freunde die Angehörigen in der Zeit der Trauer mit Nahrung versorgen. Sie sollen trauern dürfen, Totenwache halten und sich nicht um Essen und Trinken und den Alltag kümmern müssen. Die Gemeinschaft, der Zusammenhalt angesichts des Todes geht hier ganz schlicht durch den Magen. Geblieben ist davon in Süddeutschland zum Beispiel der Tränenkuchen. Der wird von den Nachbarn gebacken und ins Trauerhaus gebracht. Es ist ein Käsekuchen mit Baiserhaube. Über Nacht kühlgestellt, erscheinen am Morgen kleine Zuckerperlchen, die Tränen, auf der Oberfläche.

Neben der Selbstdarstellung der Familie und dem Renommee, der Wahl eines gehobenen Restaurants beispielsweise, ist heute die andere Funktion der Speisenauswahl sehr viel stärker verbreitet: Essen soll miteinander verbinden und soziale Unterschiede relativieren. Deshalb: Schlichtes Essen, etwas, was alle kennen und sich auch alle leisten können. In Franken Kraut und Wurst, in Rheinland und Westfalen Schnittchen und der Beerdigungskuchen, ein Hefekuchen vom Blech mit reichlich Butter und mit Zucker bestreut. Manchmal wird er auch Freud- und Leidkuchen genannt. Beispiele gibt es noch viele für den Leichenschmaus. Leichenschmaus, das ist kein schönes Wort, missverständlich, aber es steckt immerhin das alte Wort „schmausen“ darin. Es soll schmecken, es darf geschmaust werden, gerade wenn der Tod ins Leben hineinregiert hat. Zu früheren Zeiten, lange vor Post, Telefon und Digitalisierung, ging in den Dörfern jemand von Haus zu Haus, um zur Beerdigung und zum Leichenschmaus zu bitten. Das war der Leichenbitter. Inzwischen ist diese Tätigkeit längst selbst ausgestorben. Geblieben ist in unserer Sprache das Wort „Leichenbittermiene“, „Was machst du denn für eine Leichenbittermiene?“ – Es ist ein Ausdruck für das Gesicht, das jemand macht, wenn er etwas Unangenehmes mitteilen muss.


Musik 4: Taste of Honey

Komponist: Bobby Scott; Interpret: Ulf Wakenius; Album: Taste of Honey (with Lars Danielsson & Magnus Öström); Label: ACT Music+Vision GmbH+Co.KG; LC: 07644

13:43-14:49 = 1:06


Autorin: In Siebenbürgen in Rumänien isst man im Trauerhaus „Tränenbrot“. Das ist frischgebackenes Brot, und dazu gehört Wein. Da ist die Nähe zum Abendmahl deutlich. In den Ostergeschichten der Bibel spielt das Essen mit dem auferstandenen Christus eine wichtige Rolle. Die beiden Jünger, die nach der Kreuzigung Jesu traurig in ihr Heimatdorf Emmaus zurückgehen, laden den Fremden, der sich zu ihnen gesellt, zum Essen ein, eigentlich zum Leichenschmaus. Als er das Brot dann mit ihnen teilt, erkennen sie, dass es der lebendige Christus ist. Sie haben Gemeinschaft mit dem Auferstandenen, der Tod trennt sie nicht mehr.

Bei unseren Abendmahlsfeiern im Gottesdienst steht der Gemeinschaftsaspekt oft im Mittelpunkt: Abendmahl, das bedeutet Gemeinschaft mit Gott und auch untereinander. Die Emmaus-Geschichte sagt mir, dass das Abendmahl noch weiter reicht. Ich bin auch mit denen verbunden, die schon nicht mehr in diesem Leben sind. Der Tod trennt uns an dieser Stelle nicht. Und wenn es so ist, dass ein geliebter Mensch durch den Tod unerreichbar wird, so hört doch meine Liebe zu ihm nicht einfach auf. Der Verlust und die Trauer werden Teil meines Lebens werden, und gerade beim Abendmahl finde ich einen Ort, einen Moment, in dem ich den Menschen, die zu mir gehören, nahe sein kann, ob sie nun in diesem Leben sind oder schon vorausgegangen, bei Gott in der Ewigkeit. Brot und Wein, der lebendige Christus lädt uns ein, wir gehören zusammen.


Musik 4: Taste of Honey

16:21-17:06 = 0:45

Autorin: Im Zentrum Lichtblicke, in dem Menschen in Krisen Begleitung finden, sitzt eine große Runde miteinander am Tisch. Sie waren im Lichtblick-Gottesdienst. Sie haben an die Menschen gedacht, die nicht mehr bei ihnen sind. Tränen waren da, aber auch Dank, Gespür dafür, dass die Trauer Teil des eigenen Lebens sein darf. Zaghafte Hoffnung auch: Unsere Toten sind geborgen bei Gott. Wir können essen und trinken, weiterleben -

und unsere Liebe zu ihnen in uns tragen. Die kleinen Osterkerzen flackern auf dem Tisch, zwischen Fladenbrot, Oliven, Käse und Wein. Die Gesichter wenden sich einander zu, vorsichtig beginnen Gespräche, Gemeinschaft wächst. Abschied geht durch den Magen.


Einen gesegneten Sonntag, der Leib und Seele stärkt, wünscht Ihnen Pfarrerin Steffie Langenau aus Bad Salzuflen.



Musik 5: Penny Blue
Komposition/Interpret: Magnus Lindgren; Album: Stockholm Underground; Label: ACT Music+Vision GmbH+Co.KG; LC: 07644

17:50-20:00 = 2:10

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Quellen

1. Lutherbibel, Deutsche Bibelgesellschaft, 2027, S. 322 ( 2 Sam 12, 20-23)

2. Zitiert nach Alexander Deeg, Leichenschmaus und Abendmahl, in: Leibhaftigkeit, Von Genuss. Vergänglichkeit und Vitalität, R. Daniel, J. Haberer, C. Neuen, Hg., Patmos 2022, S. 168f

3. www.almuth-keller.de (Musik 1 und2)


Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth


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