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Das Geistliche Wort | 04.08.2024 | 08:40 Uhr

Der Märtyrer, der überlebte

Das ist er also. Manchen gilt er als Held, gar als Märtyrer. Dabei hat er nichts Charismatisches an sich, als er den Raum betritt. Keine mystische Aura, kein gewinnendes Lächeln. Über seinem schwarzen Hemd mit Priesterkragen trägt er eine dunkelblaue Trainingsjacke. Pater Tom Uzhunnalil trinkt seinen Kaffee schwarz, die Kekse auf dem Tisch vor sich rührt er nicht an. Wir sitzen in meinem Büro in der Diözesanstelle für Berufungspastoral in Köln. Am Abend wird Pater Tom einen Vortrag vor jungen Menschen halten, die darüber nachdenken, für die katholische Kirche zu arbeiten. Häufig wenden sie sich dann an mich oder die Kolleginnen und Kollegen aus der Berufungspastoral. Pater Tom ist in Köln, um ihnen Mut machen, diesen Schritt zu gehen und ihren Glauben zum Beruf zu machen. Auch mit den Konsequenzen, die das mich sich bringen kann. Pater Tom hat sie am eigenen Leib erfahren.

Das ist er also. Der Mann, von dem viele dachten, er sei tot. 557 Tage war er in den Händen von islamistischen Terroristen - im Jemen entführt und gefangen gehalten. Mit dem Tod hatte er sich damals schon abgefunden. Jetzt, drei Jahre nach seiner Freilassung spricht Pater Tom über seine Gefangenschaft, über seine Verzweiflung, über sein Gebet und über Gottes Gnade. Das ist seine Geschichte: die des Märtyrers, der überlebt hat. Mich hat seine Geschichte begeistert, weil sie zeigt:

Der Glaube an Gott und das Gebet können Leid und Hoffnungslosigkeit auf scheinbar wunderbare Weise in Kraft und Zuversicht verwandeln.

Musik 1: Kroke Ensemble (Tomasz Kurkuba), Air

Es ist mitten am Tag, als die Schüsse Pater Tom aufschrecken. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet er im Altenheim der Mutter-Teresa-Schwestern im Jemen. Das Land ist vom Krieg gezeichnet. Seit Jahren kämpfen hier Rebellen gegen das Militär, das Militär gegen Islamisten und Islamisten gegen Islamisten. Mitten in diesem Chaos kümmern sich Pater Tom und fünf Mutter-Teresa-Schwestern in der ehemaligen Hauptstadt Aden um rund 80 alte und pflegebedürftige Menschen.

An einem Freitag im März 2016 verschaffen sich bewaffnete Männer Zugang zum Altenheim und gelangen in den Innenhof. Gerade noch war Mohammed, der Gärtner des Hauses, damit beschäftigt, die Blumen zu gießen. Sekunden später liegt er auf der nassen Erde. Kugeln haben ihn in den Rücken getroffen.

Auch vor den Schwestern in ihren weißen Ordensgewändern, den Saris mit blauen Streifen machen die Terroristen keinen Halt. Sie treiben die Schwestern zusammen und richten sie hin. Zwei von ihnen direkt vor den Augen von Pater Tom. In den nächsten Minuten finden weitere zehn Menschen den Tod durch die Kugeln der Terroristen.

Ob er Muslim sei, fragen sie Pater Tom. Nein, er sei Christ. Wie die meisten der Schwestern kommt er auch aus Indien. Das Urteil der Terroristen scheint gesprochen. Sein Tod besiegelt. Doch es kommt anders. Statt ihn an Ort und Stelle zu erschießen, zwingen die Männer ihn in den Kofferraum ihres Autos. Ihr Ziel und ihre Mission sind ungewiss.

Drei Wochen lang gibt es keine Nachricht von Pater Tom. Wer die Islamisten waren, die ihn entführt haben: unklar. Wohin sie ihn gebracht haben? Unbekannt. Ob er noch lebt? Fraglich.

Dann, einige Tage später inmitten der Vorbereitungen auf das Osterfest, machen bedrückende Gerüchte die Runde: Die Islamisten planen die Hinrichtung von Pater Tom, schreiben die Zeitungen. Einige berichten, Pater Tom sei schonam Karfreitag von den Terroristen gekreuzigt worden. So wie sein Gott und die ersten christlichen Märtyrer 2000 Jahre zuvor.

Nicht nur in der indischen Heimat von Pater Tom beten die Menschen für den Priester. Im Wiener Stephansdom würdigt Christoph Kardinal Schönborn ihn in seiner Osterpredigt. Und Papst Franziskus wendet sich beim sonntäglichen Gebet vom Fenster des Apostolischen Palastes an die Menschen auf dem Petersplatz und fordert die Freilassung von Pater Tom.

Von all dem bekommt der Pater in seiner Gefangenschaft nichts mit. Nach dem Überfall haben ihn die Islamisten in den Kofferraum ihres Wagens gesperrt und an einen unbekannten Ort gebracht. Seine Hände sind gefesselt, seine Augen verbunden. Tag oder Nacht kann er kaum noch voneinander unterscheiden.

Musik 2: Michael Gielen, The unanswered question

Mehrere Male bringen die Terroristen Pater Tom an andere Orte. Einmal wird er sogar in einem Rettungswagen aus der Stadt transportiert. Ein anderes Mal ziehen die Entführer ihm eine Burka über, damit er bei Polizeikontrollen nicht auffallen wird.

Drei Monate nach seiner Entführung, dann endlich: Das erste Lebenszeichen. Indische Medien veröffentlichen ein Foto von Pater Tom: Es stammt von seinem Facebook-Account. Wer es hochgeladen hat, bleibt unklar. Auf dem Bild steht er aufrecht, kreuzt die Hände flach vor seiner Brust und schaut müde in die Kamera. Er ist sichtlich gezeichnet von den letzten Tagen und Wochen in Gefangenschaft. Sein Bart und seine Haare sind lang geworden. Hinweise auf seinen Aufenthaltsort gibt es jedoch nicht. Aber immerhin: Pater Tom lebt.

Wie lange wird er durchhalten? Und wie lange werden ihn die Terroristen am Leben lassen? Eine weitere Gefahr für Pater Tom ist seine Gesundheit. Er hat Diabetes, ist also zuckerkrank. Eigentlich müsste er sich jeden Morgen und jeden Abend eine Insulin-Spritze setzen. Das Insulin können seine Entführer nicht auftreiben – oder aber versuchen es erst gar nicht. Nur einmal sei ein Arzt in sein Zimmer gekommen. Er habe ihn untersucht und festgestellt: der Blutzucker war viermal so hoch wie bei gesunden Menschen.

Wenn Pater Tom heute von seinen Entführern spricht, dann liegt kein Hass in seiner Stimme. Im Gegenteil: Er sei dankbar, dass Gott ihm gerade diese Entführer geschickt habe. Nie hätten sie die Hand gegen ihn erhoben. Nie mit dem Tod gedroht. Wenn er kleine Bitten an sie gestellt habe – nach einer wärmeren Decke, nach einer Nagelschere – hätten sie ihm alles gegeben.

Für mich ist es unvorstellbar, wie Pater Tom so ruhig von dem sprechen kann, was er durchgemacht hat. Die Bilder der ermordeten Schwestern, die Angst, die Hilflosigkeit. Das muss doch an ihm nagen. Nein, sagt er. Weder körperlich habe er Schäden davon getragen, noch geistig. Keine Flashbacks suchen ihn heim, keine posttraumatische Belastungsstörungen.

Ich frage mich und dann Pater Tom: Was hat ihn in dieser Zeit am Leben gehalten? Was hat ihn nicht verzweifeln lassen? Für einige Sekunden starrt er etwas versunken. Das Gebet, sagt er. Übermäßig fromm sei er nie gewesen. In seiner indischen Heimat habe er als angehender Priester natürlich regelmäßig gebetet. Aber es sei mehr ein Gebet nach Vorschrift gewesen, weniger mit großer Inbrunst. Dann, in seiner Gefangenschaft war das anders. Er habe für Papst Franziskus gebetet, für seine Oberen und alle Menschen, die sich um ihn sorgten. Und noch etwas gab ihm Kraft: Als Priester hat er seit seiner Weihe jeden Tag die heilige Messe gefeiert, die Wandlungsworte über Brot und Wein gesprochen. Jetzt, in der Gefangenschaft, gab es keinen Wein. Und auch kein geeignetes Brot. Aber die Gebete der Heiligen Messe kannte Pater Tom auswendig. Also feierte er Tag für Tag die Eucharistie zumindest in seinen Gedanken. Und obwohl es ihm im Rückblick unmöglich scheint: Er spürte die Anwesenheit Gottes so, wie in all den Jahren davor am Altar des Altenheims mit den Schwestern. Das hat ihm Kraft gegeben. Zuversicht. Ruhe auch im Angesicht des möglichen Todes.

Musik 3: Judy Bailey, Let Love Have the Last Word

Es ist der 12. September 2017, 557 Tage nach seiner Entführung. Pater Tom wird am Morgen von den Terroristen geweckt. Er solle sich anziehen, es gehe nach Hause. Sie setzen den Ordensmann in ein Auto, verbinden ihm die Augen und fahren los. Die erste Gefangenenübergabe scheitert. Bis heute ist nicht bekannt, warum. Für Pater Tom geht es für eine weitere Nacht zurück in die Zelle. Am nächsten Tag setzen die Entführer den Pater wieder ins Auto. Und jetzt geht es gut. Ein Mann gleicht sein Gesicht mit einem Foto ab und dann geht es ins Nachbarland Oman und weiter mit dem Flugzeug nach Rom. Dort empfängt ihn der Papst. Und dann, dann geht es – endlich in die Heimat nach Indien.

Inzwischen hat Pater Tom eine neue Mission. Er spricht über seine Gefangenschaft, über seine Verzweiflung, über das Gebet und über Gottes Gnade.

Mich hat das Treffen mit Pater Tom verändert. Seine Geschichte lässt mich seitdem nicht mehr los. Mehr noch als das schreckliche Schicksal, als die Entführung selbst, beeindruckt mich, wie dieser stille, zurückhaltende Mann in der blauen Trainingsjacke damit umgeht. 18 Monate lang hat er seinem Tod ins Auge gesehen. 18 Monate lang konnte er morgens nie wissen, ob er den Abend noch erleben wird. Und jetzt reist er von Land zu Land, erzählt jede Woche, jeden Tag von seiner Gefangenschaft, seinem Martyrium. Was für eine Stärke. Was für eine Resilienz.

Aber warum haben ihn seine Entführer am Leben gelassen? Das hat er sich oft gefragt. Und die Antwort darauf sei ihm erst nach seiner Freilassung bewusst geworden: Gott hat ihn gerettet, damit er berichten kann, welches Wunder der Herr an ihm vollbracht hat.

Musik 4: Mumford & Sons, Hold on to what you believe

Wunder sind für mich als Theologe eine schwierige Kategorie. Ich bin vorsichtig, wenn von Wundern die Rede ist. Denn, dann stellt sich ganz schnell die Frage: Warum gibt es hier ein Wunder und da nicht? Warum lässt Gott das eine zu und das andere nicht? Ich bin davon überzeugt, dass Gott allen Menschen – seien ihre Absichten gut oder schlecht – einen freien Willen lässt. Auch den Terroristen.

Erstaunlich nur: Die Bibel berichtet an vielen Stellen vom direkten Eingreifen Gottes. Im Markusevangelium zum Beispiel. Da geht es um ein Naturwunder (vgl.: Mk 4,35-41): Jesus fährt mit seinen Jüngern in einem Boot über den See Genezareth und ein Sturm zieht auf. Die Wellen schlagen hoch, Wasser schwappt über die Reling und die Jünger haben Angst, unterzugehen. Derweil schläft Jesus hinten im Boot auf einem Kissen. Die Jünger wecken ihn. Und Jesus steht auf und befiehlt dem See, zur Ruhe zu kommen. Der Wind legt sich, die Wellen ebben ab. Und die Jünger fragen sich: Wer ist dieser Mensch, dem selbst die Natur gehorcht? Ich verstehe das so: Das Wunder ist kein Selbstzweck zur Rettung vor dem Untergehen. Das Wunder ist keine Show, kein einfacher Gefallen für die verängstigten Jünger. Es ist ein Zeichen für die Kraft und die Autorität Jesu als Sohn Gottes. Mehr noch als die Naturgewalten zu beruhigen, bewirkt es, dass die Jünger sich Gedanken darüber machen, wer dieser Jesus ist, dem selbst die Stürme und das Meer gehorchen.

Und so geht es mir auch bei der Einordnung der Freilassung von Pater Tom: Ich weiß nicht, ob Gott mit der Freilassung von Pater Tom ein Zeichen setzen wollte. Ich weiß nicht, ob Gott direkt in das Leben und in das Schicksal von Pater Tom eingreifen hat, um ein Zeichen seiner Kraft und Autorität zu setzen. Aber ausschließen kann ich es nicht.

Ein Zeichen aber setzt Pater Tom selbst: Indem er von dem erzählt, was er erlebt und gefühlt hat – und von seiner persönlichen Gewissheit, dass Gott ihn mit seiner Kraft und Autorität gerettet hat. Und das macht mich nachdenklich für mein Leben – und verändert es damit.

Der bekannte Theologe Karl Rahner hat zum Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils vor fast 60 Jahren gesagt: „Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Und genau das lässt sich doch von Pater Tom sagen: Er hat etwas erfahren. Und er spricht darüber. Er hält Vorträge, gibt Interviews, hat ein Buch geschrieben – um von dem Wunder zu erzählen, das er ganz persönlich empfunden hat. Von seiner Entführung, von seiner Gefangenschaft, von seinem Martyrium und von der Kraft, die ihm sein Glaube in all dem gegeben hat.

Ich bin kein Psychologe und kein Psychiater. Ich kann nur aus meiner Erfahrung als Seelsorger sprechen – und aus meinem eigenen Leben. Mein Glaube an Gott und die Gewissheit, dass er es gut mit mir meint, hat mich schon manches Mal gestärkt und mir Zuversicht geschenkt. Und so bekenne ich: Mein Glaube hilft mir dabei, dass Leiden, das ich empfinde, in etwas Sinnvolles zu verwandeln, auch wenn es nicht immer leicht nachvollziehbar ist für andere.

Pater Tom ist darin für mich ein Vorbild, wie man Leid und Schmerz, Entbehrung und Angst verwandeln kann. Ihm ist das gelungen. Mit seiner Geschichte hat er nicht nur mich, sondern auch viele andere Menschen zum Nachdenken gebracht, ob es auf dieser oft hoffnungslosen Welt nicht doch noch Hoffnung gibt. Und wer weiß, vielleicht ja sogar echte Wunder.

Musik 5: Florian Künstler, Wunder

Ich wünsche Ihnen einen hoffnungsvollen und gesegneten Sonntag. Ihr Gerald Mayer aus Köln.

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