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Das Geistliche Wort | 01.09.2024 | 08:40 Uhr
Von Orten des Trostes und der Zuversicht
„Es ist doch so, dass jeder Mensch irgendwo hingehen können muss. Es gibt solche Augenblicke, da muss man irgendwo hingehen können!“
Diese Worte begleiten mich,
seit ich den Roman „Schuld und Sühne“ von F.M. Dostojewski gelesen habe. Er ist
dort einem Mann namens Marmeladow in den Mund gelegt. Seine Lebenssituation ist
äußerst schwierig. Er weiß nicht mehr weiter. In einem Gasthaus erzählt er
einem zufälligen Gast, den er gar nicht kennt, von seinem Leben, seinen
Schwierigkeiten, seiner Not. Und eben von seiner Sehnsucht. „Es ist doch so,
dass jeder Mensch irgendwo hingehen können muss. Es gibt solche Augenblicke, da
muss man irgendwo hingehen können!“ Im Zusammenhang des Romans wird sein
gegenüber – Raskolnikow - für ihn - ein solcher Ort, wo er sich zumindest
einmal aussprechen kann.
Später im Roman
wird Raskolnikow selber merken, wie sehr er eines solchen Ortes bedarf.
Ohne näher auf den Roman
einzugehen möchte ich heute Morgen gern bei diesem Wort bleiben und von
Menschen erzählen, die in ihrem Leben einen solchen Ort gefunden haben, wo sie
hingehen können. Mir sind sie eine Ermutigung.
Ich bin Matthäus Niesmann und Spiritual im Bistum Münster.
Musik 1 (Ravel, Miroirs: III. Une barque sur l’ocean)
„Es ist doch so, dass jeder Mensch irgendwo hingehen können muss. Es gibt solche Augenblicke, da muss man irgendwo hingehen können!“
Meine Großeltern
väterlicherseits hatten einen kleinen Hof in Rinkerode bei Münster. Mein
Großvater war zusätzlich noch Schreiner. Die weiteste und längste Reise ihres
Lebens führte sie 1933 nach Trier zur Heilig Rock Wallfahrt. Da waren sie 12
Jahre verheiratet. Der heilige Rock in Trier wird verehrt als das Gewand, das
Jesus vor seiner Kreuzigung ausgezogen und dann beim Würfelspiel verlost wurde.
Zwei Nächte haben meine Großeltern in
Trier übernachtet. Ein kleines Holzkreuz haben sie von dort als Erinnerung
mitgebracht. Das Besondere an diesem Kreuz ist, dass sie damit das heilige
Gewand berühren durften. Ich habe immer noch die Worte meiner Oma im Ohr, die stets,
wenn sie davon erzählte, ganz innerlich bewegt war. Das Kreuz war so etwas wie ein
kleines Heiligtum für Oma und Opa. Es war verbunden mit der Wallfahrt und zugleich
und vor allem eine Vergewisserung der Nähe Jesu, dem die beiden tief vertrauten.
Als Kind habe ich häufig erlebt, dass in guten und schwierigen Situationen des
Lebens dieses Kreuz mit einigen dabeistehenden Heiligenfiguren der persönliche
Ort des Gebets war. Als heute vor 85 Jahren der 2. Weltkrieg begann, waren
meine Großeltern voller Sorge und Angst. „Das ist erst der Anfang. Das wird
alles ganz schlimm enden.“, haben sie gesagt und sich betend an das Kreuz
gewandt, an den Ort, zu dem sie gehen konnten – mit dem Rosenkranz in der Hand.
Mein Vater war damals fast sieben Jahre alt und hat alles noch sehr lebendig
vor Augen. Immer wieder haben sie ihre Sorgen vor das Kreuz gebracht und auch die
Sorgen der Menschen, um die sie wussten. Als in den letzten Kriegstagen noch
einer ihrer Söhne mit 17 Jahren in der Nähe von Magdeburg fiel, war das Kreuz
ihr Ort. Immer wieder sind sie dorthin gegangen. Kurz vor ihrem Tod hat Oma mir
noch einmal die Geschichte dieses Kreuzes aus Trier erzählt und was es ihr
bedeutet. Dann hat sie es mir geschenkt. Wenn ich am Schreibtisch sitze, erinnert
es mich an meine Großeltern und zeigt den Ort, zu dem ich gehen kann.
Musik 2 (Palestrina, O Crux Ave)
„Es ist doch so, dass jeder Mensch irgendwo hingehen können muss. Es gibt solche Augenblicke, da muss man irgendwo hingehen können!“
Dieses Wort verbinde ich auch mit einer Reise 1985 in die damalige DDR. Kurz nach dem Tod meiner Oma war es der Wunsch meines Opas, dass wir uns aufmachen, das Grab meines Onkels zu besuchen, der mit 17 Jahren in den letzten Kriegstagen gefallen war, in Altenklitsche in der Nähe von Magdeburg. Wir nahmen zunächst Kontakt auf zum evangelischen Ortspfarrer. Auf seine Einladung hin, konnten wir einreisen und waren eine Woche in seinem Haus zu Gast. Mit ihm besuchten wir das Grab meines Onkels und einige Zeitzeugen, die meinen Großeltern kurz nach dem Krieg geschrieben hatten. Diese Tage waren geprägt von tiefen und ermutigenden Glaubensgesprächen. Ich erinnere den Pfarrer als einen Mann voller Mut und Zuversicht, auch wenn seine Situation mit der Gemeinde oft schwierig war und in seinen Sonntagsgottesdienst oft nicht mehr als vier oder fünf Leute kamen. Aber er lebte aus der tiefen Überzeugung mit Jesus unterwegs zu sein und Gott dort einen Ort zu sichern – in der Umgebung, in der er sich befand, mit den Menschen, mit denen er unterwegs war,. An unserem letzten Abend, wollte er uns aus seiner Erfahrung etwas mitgeben als Zeichen des Mutes, der Stärkung und der Zuversicht. Es schenkte uns ein Kupferbild etwas größer als ein DIN A 4 Blatt. Aus der Kupferplatte herausgearbeitet ist die Darstellung einer Mutter mit einem Kind auf dem Arm. Beide tragen eine Krone. Mit einem christlichen Hintergrund fällt es nicht schwer das Bild zu deuten. Es ist die Gottesmutter Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm in der Art, wie man sie häufig auf den Ikonen der Ostkirche findet.
Musik 2a (Brahms, Stücke für Klavier, Op. 118: II. Intermezzo in A Major)
Dieses Bild nun hat eine ganz eigene Geschichte, die uns der Pfarrer dann erzählte:
Anfang der 80er Jahre in einer Sommer-Nacht klopfte es an seiner Tür. Das nächtliche Klopfen machte ihm zunächst Angst, aber er öffnete trotzdem. Vor ihm stand ein hochrangiger russischer Offizier aus der in der Nähe stationierten Einheit. Er befand sich in einer tiefen Lebenskrise und suchte das Gespräch. Atheistisch war er erzogen worden und hatte Karriere gemacht in der Armee. Deswegen der Besuch bei Nacht. Denn: Keiner durfte wissen , dass er den Pfarrer aufsuchte. Bei diesem ersten Gespräch erzählte ihm der Offizier von einem inneren Bild in seiner Seele, von dem ein tiefer Trost und ein Friede ausging. Aber er konnte das Bild nicht deuten. Er sah auf diesem Bild seine Großmutter. Zu diesem Zeitpunkt schon lange im fernen Russland verstorben. Vor einer farblich gefassten Darstellung einer Mutter mit einem Kind auf dem Arm entzündete sie immer dann eine Kerze, wenn es in der Familie Sorgen und Nöte gab. Dieses innere Bild gab ihm Trost und irgendwie Hoffnung und er suchte es zu deuten und zu erklären. Deswegen der Besuch bei dem Pfarrer. Aus diesem ersten Nachtgespräch wurde eine Reihe von Nachgesprächen. Parallel gestaltete der Offizier dieses Bild. Das konnte er. Da war er handwerklich sehr geschickt. Er hat es in eine Kupferplatte eingetrieben/hineingeschlagen. Und so arbeitete er aus der Erinnerung das Bild, vor dem seine Großmutter so oft eine Kerze entzündet hatte, in diese Kupferplatte. Am Ende dieser nächtlichen Gespräche bat der Offizier um die Taufe und ließ sich taufen. Kurze Zeit später ging es für ihn und seine Einheit zurück nach Russland. Das Bild durfte bei ihm nicht gefunden werden. Das kostbare Material Kupfer so zu verarbeiten und dann als religiöses Bild bei sich zu tragen, war ihm streng verboten. So ließ er das Bild zurück und schenkte es dem Pfarrer. Und der gab es uns mit. Es war für ihn ein Zeichen der Hoffnung und der Ermutigung, dass Jesus Christus mit uns unterwegs ist und den Ort zeigt, zu dem wir gehen können – manchmal auf ganz unerwartete und tiefe Weise. Die Großmutter des Offiziers hat es nicht mehr erlebt, dass ihr schlichtes von einem tiefen Glauben geprägtes Tun für ihren Enkel in der Erinnerung zu einem konkreten Bild und so zu einem Ort wurde, wo er hingehen konnte, zu einem Ort, der ihn in Kontakt brachte mit dem Pfarrer und letztlich in eine Vertrautheit mit Jesus Christus.
Der evangelische Pfarrer, der mir dieses Kupferbild schenkte, ist mittlerweile verstorben. Wir hatten noch lange Kontakt. Das Kupferbild hängt bei meinen Eltern und zeigt auf seine Weise auf den Ort, zu dem wir gehen können.
Musik 3 (Karl Jenkins, Requiem: Pie Jesu)
„Es ist doch so, dass jeder Mensch irgendwo hingehen können muss. Es gibt solche Augenblicke, da muss man irgendwo hingehen können!“
Von einem Orten möchte ich
heute Morgen noch erzählen, zu dem es mich immer wieder zieht. Und das ist
Münsters
Zentralfriedhof, in der Nähe
vom Aasee. Schon als Kind bin ich mit meiner Familie dorthin gegangen. Wenn wir
aus Enniger zum Einkaufen nach Münster fuhren, ging es auch gerne auf den
Zentralfriedhof. Denn da ist das Grab von Schwester Maria Euthymia. Den
Menschen hier im Münsterland ist sie meist gut vertraut. 1914 in Halverde
geboren trat sie in jungen Jahren in die Ordensgemeinschaft der
Clemenschwestern ein. In den Jahren des zweiten Weltkrieges arbeitete sie in
Dinslaken in der Krankenpflege. In den Jahren 1943 bis 1945 sorgte sie sich in
der St. Barbara Baracke vor allem um Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter mit
schweren ansteckenden Krankheiten. Mit großer Sorgfalt und liebender Hingabe
kümmerte sie sich um jeden Einzelnen. Die Kranken nannten sie den „Engel von
St. Barbara“. Nach dem Krieg übernahm sie die Leitung der Wäscherei zunächst im
Krankenhaus in Dinslaken, später im Mutterhaus und in der Raphaelsklinik in
Münster. Als sie am 9. September 1955 starb, riss die Schlange der Menschen,
die von ihr Abschied nehmen wollten, nicht ab. Ihr Leben war einfach. Aber ihre
tiefe
Christusbeziehung strahlte auf die
Menschen aus. Nach ihrem Tod wurde ihr Grab für viele ein Ort, zu dem sie mit
ihren Bitten und Anliegen kommen können. Viele erlebten durch ihre Fürsprache
den Beistand und das Mitgehen Gottes in ihrem Leben, auch heute noch erfahren
Menschen dort Zuspruch und Hilfe. Auch für meine Mutter war Sr. Euthymia gerade
in der der Zeit, als sie mit meinem ältesten Bruder schwanger war, ein
wichtiger und hilfreicher Ort der Fürsprache und des Beistands. So hängt im
Haus meiner Eltern und auch bei mir in der Wohnung ihr Bild.
Häufig führt mich mein Weg zu ihrem Grab auf
dem Zentralfriedhof in Münster – meist treffe ich dort auch andere, die mit
ihren Sorgen kommen.
Musik 4 (Northern Lights)
„Es ist doch so, dass jeder Mensch irgendwo hingehen können muss. Es gibt solche Augenblicke, da muss man irgendwo hingehen können!“
Von Orten wollte ich heute Morgen erzählen, zu denen man gehen kann in seinen Sorgen und Fragen und Zweifeln. Natürlich auch mit den Freuden und Hoffnungen. Das Kreuz aus Trier von meinen Großeltern, die Erfahrung des Offiziers und der evangelische Pfarrer in der ehemaligen DDR, das Grab von Schwester Euthymia - die Orte von denen ich gesprochen habe verbinden sich für mich mit der Einladung Jesu im Matthäus Evangelium: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich will euch erquicken.“ Das letzte Wort „erquicken“ ist vielleicht etwas altertümlich und nicht so gebräuchlich. Für mich klingt es nach Lebendigkeit, Ermutigung und Frische, die Gott mir in Jesus Christus schenkt, damit ich nicht mutlos werde, sondern aus der Gewissheit lebe, von ihm begleitet zu sein.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen – gerade in unserer von der Sorge um den Frieden geprägten Zeit – Orte, zu denen sie gehen können, und das Vertrauen eines alten Gebets „Gott, du bist uns nahe, noch bevor wir zu dir kommen. Du bist bei uns, noch bevor wir uns aufmachen zu dir.“
Herzlich grüße ich Sie aus Münster!
Spiritual Matthäus Niesmann.