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Das Geistliche Wort | 06.10.2024 | 08:40 Uhr
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Frieden stiften
Musik 1: Prayer of the mothers
Interpretin: Yael Deckelbaum (feat. Lubna Salame, Danile Rubin, Miriam Tukan & Rana Choir), Single: Prayer of the mothers, Label: 2017 Yael Deckelbaum, LC: unbekannt;Autorin: Wir sitzen beim Frühstück, als uns die Nachrichten erreichen. Terrorangriff in Israel.
Es ist unser erster Urlaubstag. Wir könnten auf das ruhige silbrig glitzernde Blau der Cote Azur sehen, und sehen doch die nächsten Stunden nur auf unsere Smartphones.
Um uns herum so viel Schönheit aus Gelb und Blau: Die Sonne strahlt mit spätsommerlicher Wärme, das Meer glitzert friedlich in vielen Tönen von Blau bis Grün. Und trotzdem starren wir rauf unsere Smartphones und in uns wächst das Grauen.
Können Sie sich erinnern an den Morgen des 7. Oktober? Morgen ist es ein Jahr her.
Die meisten von uns haben Erinnerungen an diesen Tag. Bilder im Kopf.
Und die mischen sich mittlerweile mit vielen anderen Bildern: Aus dem Terror der Hamas am 7. Oktober ist ein Krieg geworden mit Tausenden von Toten und Hundertausenden von Vertriebenen – auf beiden Seiten. Unendliches Leid – bei Männern, Frauen, Kindern in Israel und Palästina. Verlorenes Vertrauen. Verlorene Hoffnung. Kann es überhaupt noch einen Weg in eine friedliche Zukunft geben? Wie soll das gehen -miteinander?
Autorin: Am Abend des 7. Oktober 2023 tritt Yael Deckelbaum im Rahmen der Achava Festspiele in Erfurt auf. Drei Tage vor ihrem Konzert hatte die Musikerin sich noch mit israelischen und palästinensischen Frauen am Toten Meer getroffen, um gemeinsam über den Frieden zu sprechen und zu singen. »Prayer of the Mothers«, das Gebet der Mütter für den Frieden, ist seit Jahren ihre Hymne. An diesem 7. Oktober singt und betet sie gemeinsam mit dem Publikum: Vom Norden zum Su?den; vom Westen zum Osten - hör das Gebet der Mütter. Bring ihnen Frieden. Bring ihnen Frieden…
Autorin: Es gibt sie: die Menschen, die – trotz allem - darum ringen; die unermüdlich ihre Stimme erheben für Frieden und Verständigung: Kommt, wir reden miteinander! Lasst uns versuchen den anderen zu verstehen, empathisch zu bleiben. Lasst uns den Sinn für das Menschliche bewahren inmitten von wachsendem Hass und Gewalt.
Eine dieser Stimmen gehört Sarah Bernstein. Sie leitet seit vielen Jahren das Rossing Center for Education and Dialogue, ein Zentrum für Bildung und Dialog in Jerusalem:
O-Ton: “I was born and brought up in England, I'm Jewish and when I finished university in England I moved to Israel, so I've been living in Israel for nearly 40 years. For the last almost 25 years I have been working in the field of interreligious peacebuilding in Israel and Palestine."
Sprecherin (overvoice): „Ich wurde in England geboren und bin dort aufgewachsen. Ich bin Jüdin, und nachdem ich mein Studium in England abgeschlossen hatte, bin ich nach Israel gezogen. Ich lebe also nun seit fast 40 Jahren in Israel. In den letzten fast 25 Jahren arbeite ich im Bereich der interreligiösen Friedensarbeit in Israel und Palästina."
Autorin: Das Rossing Center for Education and Dialogue in Jerusalem setzt sich seit vielen Jahren für ein friedliches Miteinander und den Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen ein.
Nach dem 7. Oktober hat das Rossing Center seine Arbeit intensiviert, um Vorurteile abzubauen und Empathie zwischen den Gemeinschaften zu fördern. Doch die Herausforderungen sind größer als jemals zuvor:
O-Ton: "The 7th of October was a terrible, appalling day. Israelis and Palestinians are all traumatised, they are consumed by fear, there has been a sharp rise in hatred, and in these circumstances, it is very difficult for each side to look beyond their own pain and suffering to the pain of the other side."
Sprecherin (overvoice): "Der 7. Oktober war ein schrecklicher, entsetzlicher Tag. Die Israelis und Palästinenser sind alle traumatisiert, sie sind in ihrer Angst gefangen. Der Hass hat auf beiden Seiten stark zugenommen, und unter diesen Umständen ist es sehr schwierig für jede Seite, über das eigene Leid und den eigenen Schmerz hinwegzusehen und das Leid der anderen wahrzunehmen."
Autorin: Inmitten dieser schwierigen Lage ist das Rossing Center aktiv. Es arbeitet weiterhin mit israelischen Schulen, Universitäten, Erwachsenen und Kindern, um sie dabei zu unterstützen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und einen Dialog zu eröffnen.
Und auch, wenn das Reden miteinander fast unmöglich ist in dieser Zeit, kann es schon ein erster wichtiger Schritt sein, dem anderen nur zuzuhören, ohne sofort „Ja, aber …“ zu sagen und die Mauern hochzuziehen. Jede und jeder leidet, jeder und jede kennt jemanden, der Angehörige verloren hat, verletzt oder vertrieben worden ist. Alle haben Angst um geliebte Menschen, Angst um sich selbst, Angst vor dem Verlust von Heimat und sicherer Zukunft.
Alle haben schon genug mit sich selbst zu tun. Aber Frieden, Versöhnung. Zukunft – das gibt es nur, wenn es Schritte aufeinander zu gibt.
O-Ton: "We are working with many different groups, helping them process their pain and trauma, and helping them reach a place where they can listen to each other, understand the experiences of the other side as well as their own. Trust is very difficult these days, but at least they can begin to listen."
Sprecherin (overvoice): "Wir arbeiten mit vielen verschiedenen Gruppen; helfen ihnen, ihren Schmerz und ihr Trauma zu verarbeiten, und unterstützen sie dabei, dahinzukommen, dass sie einander zuhören und die Erfahrungen der anderen Seite ebenso wie ihre eigenen verstehen können. Vertrauen ist in diesen Tagen sehr schwierig, aber es ist schon viel erreicht, wenn sie beginnen, einander zuzuhören."
Autorin: So wie sich die Angst bei Israelis und Palästinensern breit macht, werden die Menschen auf beiden Seiten des Konfliktes auch zunehmend von Hass bestimmt. In kleinen Gruppen und in einem geschützten Rahmen lernen Israels und Palästinenser in Workshops des Rossing Center, einander von ihrer Angst und ihrem Hass zu erzählen. Teilnehmende dieser Workshops sind meist Multiplikatorinnen wie Lehrerinnen und Jugendmitarbeiter. Allein zu reden und einander in Ruhe zuhören zu können, ist schon ein kleiner, aber wichtiger Teil der Versöhnungsarbeit.
Für Sarah Bernstein und alle, die im Rossing Center mitarbeiten, ist klar, dass es im Grunde keine Alternative gibt zu dieser Arbeit in kleinen Gruppen und geschützten Workshops. Wenn Juden, Muslime und Christen; Menschen aus Israel und Palästina nicht im Gespräch bleiben und Verständnis füreinander entwickeln, kann keine Seite in Frieden leben.
O-Ton: "There are something like 7 million Jews and 7 million Palestinians living between the river and the sea. There is no other option than learning to live together. If we don't learn to live together, we're going to die together, and we choose life."
Sprecherin (overvoice): "Es leben ungefähr 7 Millionen Juden und 7 Millionen Palästinenser zwischen dem Fluss und dem Meer. Es gibt keine andere Option, als zu lernen, zusammen zu leben. Wenn wir nicht lernen, zusammen zu leben, dann werden wir zusammen sterben. Und wir wählen das Leben."
Autorin: Und wenn du heute Abend von der Arbeit nach Hause kommst, dann denk doch auch an die Menschen, die in Not sind. Denk an die, die in Flüchtlingslagern leben und sich nach Zuhause sehnen.
Und wenn du deine Kriege führst, dann denk auch an die, die immer noch an Frieden und Liebe glauben. Versuch doch für einen Moment von dir abzusehen und die Not des anderen in den Blick zu nehmen. So besingt es der Song „Think of others“ – „Denk an andere“.
Auch in Deutschland haben der 7. Oktober und seine Folgen die politische Landschaft verändert und den interreligiösen Dialog sehr viel schwieriger gemacht. Wo sich über Jahre und Jahrzehnte Formen der Verständigung und des Dialogs zwischen den Religionen entwickelt hatten, ist jetzt oft Stillstand in den Gesprächen zu beobachten.
Der neu sichtbar - und spürbar gewordene Antisemitismus in Deutschland macht vieles kaputt, was an Beziehungen gewachsen ist, und zerstört gerade aufgebautes Vertrauen.
Alle Seiten haben Sinn für die jeweils eigene Not, aber die Not des anderen wahrzunehmen, wird als Zumutung empfunden.
Wolfgang Hüllstrung, Beauftragter der Evangelischen Kirche im Rheinland für den christlich-jüdischen Dialog sieht in den jüngsten Entwicklungen eine große Herausforderung.
Mit Blick auf die Geschichte der christlich-jüdischen Verständigung in Deutschland, betont er die Bedeutung des Staates Israel für jüdische Communities weltweit und fordert Verständnis für die Gefühle der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland:
O-Ton: "Es ist sehr wichtig zu verstehen, wie sich die jüdische Community in Deutschland fühlt. Viele verstehen nicht, warum sich die jüdische Community so bedrängt fühlt, oder warum sich ein Stück weit Resignation ausgebreitet hat. Israel ist heute für alle jüdischen Communities ein ganz wichtiger Heimatort und Quellort jüdischer Religiosität und Kultur, auch säkularer jüdischer Kultur. Da gibt es ganz enge Verbindungen, nicht nur über Familienmitglieder, sondern auch kulturell und religiös." (…)
Autorin: Viele, die sich auf jüdischer Seite über Jahre im christlich-jüdischen Dialog engagiert haben, machen sich große Sorgen, berichtet Wolfgang Hüllstrung.
O-Ton: "Sie stellen mir inzwischen die Frage: Wir haben doch so viel gemacht an Dialog. Wir haben so eine lange Geschichte, gerade auch hier im Rheinland, aber auch in anderen Regionen Deutschlands und Europas. Und jetzt sehen wir, es hat uns doch in keinster Weise weitergebracht. Wie kann jetzt eine solche Antisemitismuswelle wieder entstehen, noch heftiger als schon in früheren Konfliktsituationen? Was hat der Dialog dann eigentlich für uns Juden und Jüdinnen gebracht?"
Autorin: Über den plötzlich wieder so sichtbaren Antisemitismus und die zunehmenden antisemitischen Gewaltdelikte waren viele überrascht. Waren wir nicht schon weiter? Gelernt aus der Geschichte? Wir rufen laut: Nie wieder ist jetzt? Und alle stehen auf gegen Antisemitismus? – Ist leider nicht passiert. Und die Gespräche verstummen, bloß nicht den Konflikt suchen. Lieber übers Wetter reden. Der 7. Oktober hat auch Europa verändert.
Aber bloß mal kein Lied davon singen, man könnte sich ja angreifbar machen.
Autorin: Mit einem Rap Song macht sich die Antilopen Gang vor einigen Monaten angreifbar. In einer aufgeheizten Situation, in der sich viele aus Angst und Frustration in Schweigen zurückgezogen haben, beschreibt der Song traurig, aber nicht resigniert, das toxische Klima in unserer Gesellschaft. Oktober in Europa.
Heute ist der 6. Oktober 2024. Und was jetzt? Wie kann es weiter gehen? In
Israel und Palästina? Hier bei uns? Und: Was können wir tun, damit die Gräben
nicht noch tiefer werden, damit Verständnis für die andere, den andere wachsen
kann?
Sarah Bernstein und Wolfgang Hüllstrung setzen nach wie vor auf den interreligiösen Dialog als einen möglichen Schlüssel zur Konfliktlösung. Denn nur, wenn wir im Gespräch bleiben, gibt es eine Chance für ein friedliches Leben für alle.
Und, egal ob Christin, Jude, Moslem, in unserem Glauben an Gott kann auch die Chance für ein gegenseitiges Verständnis liegen. Der Wunsch nach Frieden und Wohlergehen – Salaam und Schalom – für alle Lebewesen verbindet uns. Genauso die Idee, dass es unsere Aufgabe als gottgläubige Menschen ist, dem Frieden zu dienen.
Frieden fällt nicht von Himmel, er muss gelernt und geübt und gebaut werden.
Von uns. Von mir und von dir.
In Deutschland spielt der christlich-jüdische Dialog, auch aufgrund unserer Geschichte, eine zentrale Rolle, um Vorurteile abzubauen und ein friedliches Miteinander zu fördern. Das Miteinander der Religionen in unserem Land kann aktuell die Vermittlung durch die christlichen Kirchen gut gebrauchen, damit das interreligiöse Gespräch nicht abbricht. Damit wir lernen, einander zu verstehen. Damit wir suchen und finden, was uns verbindet, statt zu betonen, was uns trennt.
O-Ton: „Und da können die Jüdinnen und Juden auch in unserem Land nicht von sich aus drauf zugehen, sondern da bitten sie eigentlich uns, die Brückenbauer zu sein,
könnt ihr nicht mit den muslimischen Communities in Deutschland irgendwie da in einen Dialog eintreten oder uns zumindest zusammenbringen, vielleicht eben auch im Sinne dieses Prinzipes erstmal zuhören, gegenseitiges Zuhören ermöglichen.“ (Hüllstrung)
Autorin: So Wolfgang Hüllstrung. Was können wir tun, damit die Gräben nicht noch tiefer werden, damit Verständnis für die andere, den anderen wachsen kann? Damit Menschen jüdischen, muslimischen und christlichen Glaubens gut zusammenleben können?
In Bonn hat sich nach den Terrorangriffen der Hamas vom 7. Oktober und den folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten die Bonner Initiative für Respekt und Zusammenhalt (BIRZ) gegründet. Menschen unterschiedlichen Glaubens teilen ihre Erfahrungen und Meinungen miteinander, üben Toleranz und treten miteinander für Frieden und Versöhnung ein. Kleine Initiativen wie diese gibt es deutschlandweit: Es gibt Abrahamische Frauengruppen, Jüdisch-Muslimische Tacheles-Duos, interreligiöse Kooperationen und Friedensgebete. Es gibt gegenseitige Besuche in Kirchen, Moscheen und Synagogen, Workshops in Schulen.
Ein Schritt zum Miteinander kann es sein, sich in solchen Initiativen und Gruppen zu engagieren, hier bei uns. - Und was die Friedensarbeit in Israel und Palästina betrifft:
O-Ton: „You can of course look up the Rossing Centre, you can make a donation, you can help support, you can sign up for our newsletter, you can get involved.
But you can also learn to talk to each other here and even more importantly learn to listen
to each other.” (Bernstein)
Sprecherin (overvoice): „Sie können natürlich das Rossing Centre recherchieren und mit einer Spende machen, sich für unseren Newsletter anmelden oder sich engagieren. Aber Sie können auch einfach lernen, miteinander zu reden und, noch wichtiger, einander zuzuhören.“
Autorin: So Sarah Bernstein. Wir wären arm dran, wenn es Initiativen wie das Rossing Center in Jerusalem oder die kleinen und großen interreligiösen Initiativen bei uns nicht gäbe.
Wir alle sehnen uns nach Frieden, Respekt, Zusammenhalt.
Es ist an der Zeit dafür etwas zu tun.
In der Bergpredigt Jesu heißt es: Glücklich zu preisen sind die, die Frieden stiften, denn sie werden Töchter und Söhne Gottes genannt werden. (Mt 5,9)
Ich möchte mich gerne als Tochter Gottes in diesen Tag eintragen. Und in den Tag morgen, den 7. Oktober. Ich werde grüßen: „Friede sei mit Dir! Salam. Schalom. Ich werde für den Frieden beten. Ich werde mich am Gelb der Sonne freuen und am Blau des Himmels. Denn die Liebe ist stärker als der Tod. Davon bin ich fest überzeugt.
Und der Gruß „Friede sei mit dir! Geht raus an alle Töchter und Söhne Gottes und alle, die es werden wollen.
Autorin (overvoice): Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Pfarrerin
Anne Kathrin Quaas aus Bonn.
Freistehend
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth