Beiträge auf: wdr5
Das Geistliche Wort | 01.12.2024 | 08:40 Uhr
DIESER BEITRAG ENTHÄLT MUSIK, DAHER FINDEN SIE HIER AUS RECHTLICHEN GRÜNDEN KEIN AUDIO.
Zeit
Autor: Das ist schon eine merkwürdige Sache mit der Zeit. [Ticken ein wenig frei]. Mal habe ich viel zu wenig und die Zeit scheint zu rennen. [Ticken ein wenig frei]. Ein anderes Mal zieht sie sich und will einfach nicht verstreichen. [Ticken ein wenig frei und auslaufen lassen].
Heute beginnt eine besondere Zeit. Die Adventszeit. Die Zeit, in der ich mich auf Weihnachten vorbereite. Aber auch die Zeit, die mich auf Weihnachten vorbereitet. Und auch hier merkte ich, wie unterschiedlich ich diese Zeit wahrnehme.
Bis Weihnachten habe ich noch viel zu erledigen. Ich muss im Keller die Dekoration suchen. Ich muss planen, wann und wie ich die Familie besuche. Als Pfarrer muss ich die Gottesdienste vorbereiten: Krippenspiel und Predigten schreiben, Absprachen mit dem Chor treffen. Und natürlich muss ich Geschenke besorgen. So viel zu tun und so wenig Zeit. Viel zu schnell sind da die wenigen Wochen vorbei.
Als Kind war das ganz anders. Ewig hat es damals immer bis Weihnachten gedauert. Ich erinnere mich genau. Eine unendlich lange Wartezeit, bis es endlich die Geschenke gibt.
Aber war die Adventszeit früher wirklich länger? Selbstverständlich nicht.
Musik: Oh No, It's Christmas Again
Titel: Oh No, It's Christmas Again; Komposition: Johan Norberg und Nils Landgren; Interpreten: Johan Norberg und Nils Landgren; Album: Christmas With My Friends VI; Label: ACT Music; LC: 07644;
1:03-1:43 = 0:40
Autor: Vor rund 200 Jahren läuft ein Junge durch das abendliche Hamburg. Nennen wir ihn Georg. Georg ist neun Jahre alt. Ein zu Hause hat er nicht. Er schläft auf der Straße. Jede Nacht hat er Angst; vor der Kälte, vor den Betrunkenen, die aus den Kneipen kommen und vor den anderen Kindern, die ihm schon oft das wenige weggenommen haben, was er an Essen hat. Georg ist verzweifelt. Um zu überleben, muss auch er stehlen. Einmal wird er erwischt und fast totgeschlagen. Georg hat gehört, dass es seit kurzem einen Ort gibt, an dem er Hilfe bekommt. Man nennt es das „Rauhe Haus“. Ein Mann hat es gegründet. Er hießt Johann Hinrich Wichern. Georg macht sich auf den Weg und wird aufgenommen. Zum ersten Mal seit Jahren schläft er auf einer Matratze und hat eine eigene Decke. Wie in einer Familie lebt er hier mit den anderen Jungen und mit Herrn Wichern zusammen. Vertrauen und Gemeinschaft sind die Grundsätze der Gruppe. Georg und die anderen fühlen sich gesehen und verstanden. Immer mehr Jungen kommen dazu, bald auch Mädchen.
Als es dann Ende November ist, freut sich Georg auf Weinachten. Wann ist es endlich soweit? Wie lange müssen wir noch waren? Dann ist endlich der 1. Dezember. Genau wie heute, ist es der erste Advent. Georg sitzt mit den Anderen am Tisch. Als Wichern zu ihnen kommt hat er ein schweres Wagenrad dabei. Er legt es auf den Tisch. Ohne etwas zu sagen, stellt er vier große, weiße Kerzen auf das Rad. Zwischen die großen Kerzen stellt er kleinere, rote Kerzen. Eine für jeden Tag der Woche. „Heute ist der erste Advent.“ sagt er. „Heute zünden wir die erste große Kerze an.“ Jeden Abend versammeln sich die Kinder um das große Rad und zünden eine weitere Kerze an. Jeden Tag eine Kerze mehr. Jeden Tag ein wenig mehr Licht an den dunklen Wintertagen, bis an Weihnachten das ganze Rad leuchtet.
Musik: O Tannenbaum
Titel: O Tannenbaum; Komposition: traditionell; Interpret: Nils Landgren, u.a.; Album: Christmas With My Friends VIII; Label: ACT Music; LC: 07644;
3:39-4:19 = 0:40
Autor: Johann Hinrich Wichern hat vor rund 200 Jahren den Adventskranz erfunden. Und gleichzeitig har er den Adventskaleder erfunden. Haben Sie heute morgen ein Türchen geöffnet? Zwei Drittel der Deutschen haben einen eigenen Adventskalender. Die meisten haben ihn, so wie ich, geschenkt bekommen. Aber immerhin ein Viertel der Deutschen kaufen ihren Adventkalender selbst. Am beliebtesten bleibt der süße Inhalt aus Schokolade. Aber der Markt ist schier grenzenlos. Tee, Gewürze, Spielzeug, Sinnsprüche, Gutscheine, Bier und vieles mehr finden sich in den Kalendern. Aber eines haben alle Adventskalender gemeinsam. Sie verschönen mir jeden Tag der Zeit bis Weihnachten. Und sie beantworten die Frage: „Wie lange dauert es noch?“ Das kleine Ritual am Morgen, wenn ich das nächste Türchen öffne. Ich genieße das. Auch, wenn jedes offene Türchen mir vor Augen führt, wie schnell die Zeit vergeht.
Musik: Go Tell It on the Mountain
Titel: Go Tell It on the Mountain; Komposition: Eva Kruse, Ida Sand, Jeanette Köhn, Jessica Pilnäs, Johan Norberg, Jonas Knutsson, Nils Landgren, Sharon Dyall, Traditional; Interpreten: Eva Kruse, Ida Sand, Jeanette Köhn, Jessica Pilnäs, Johan Norberg, Jonas Knutsson, Nils Landgren, Sharon Dyall; Album: Christmas With My Friends V; Label: ACT Music; LC: 07644;
5:02-5:38 = 0:36
Autor: Das ist schon eine merkwürdige Sache mit der Zeit. Sie ist eine feste physikalische Größe; messbar bis aufs Hundertstel und Tausendstel. Unbestechlich und gnadenlos. Etwa, wenn beim olympischen Wettlauf lasergestützte Zeiterfassungssysteme über Sieg und Niederlage entscheiden. Tick, Tack, Tick, Tack. Sekunde für Sekunde läuft sie voran und gliedert meinen Alltag und mein Leben. Die digitale Zeitverfassung hat die Stechuhr ersetzt. Aber genauso exakt wird meine Arbeitszeit erfasst. Wenn ich hier im Sender am Mikrofon sitze haben die Technikerin, die Aufnahmeleiterin und ich immer die große Digitaluhr im Blick. Große rot leuchtende Ziffern, die Sekunde für Sekunde für Sekunde weiterlaufen. Den Ablauf und den Sendeplan strukturierten. Damit die Nachrichten pünktliche beginnen, die Verkehrsinformation planmäßig ausgestrahlt werden. Und Sie alle nicht zuletzt diese Sendung rechtzeitig hören können.
Die exakte Messung der Zeit ist aber nicht nur für meinen Tagesablauf wichtig. Ohne die genaue Messung der Uhrzeit wäre kein Bus- und Bahnfahrplan möglich. Auch wenn ich mit immer wieder denke, dass bei Bus und Bahn Zeit sehr relativ ist. Auch Navigationssysteme im Auto oder im Flugzeug würden ohne Zeit nicht funktionieren. Erst die genaue Uhrzeit macht eine exakte Ortsbestimmung auf der Erde möglich.
Musik: Hosianna
Titel: Hosianna; Komposition: Georg Joseph Vogler, Jonas Knutsson; Interpreten: Eva Kruse, Ida Sand, Jeanette Köhn, Jessica Pilnäs, Johan Norberg, Jonas Knutsson, Nils Landgren, Sharon Dyall; Album: Christmas With My Friends V; Label: ACT Music; LC: 07644;
6:56-7:44 = 0:48
Autor: Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie abhängig wir von der Zeit sind. Dabei ist die genaue Messung der Zeit gar nicht so einfach.
Bevor es erste Uhren gibt, verlassen sich Menschen auf den Unterschied von Tag und Nacht und ihre „innere Uhr“. Eine grobe Einschätzung der Tageszeit ist so möglich. Aber die unterschiedliche Länge der Tage in Sommer und Winter macht die Messung schwierig. Seit der Antike helfen Sonnenuhren bei der Messung der Zeit. Diese funktionieren allerdings nur am Tag. In der Nacht helfen Wasser- oder Sanduhren. In Klöstern wird Zeit mit Hilfe von Kerzen gemessen, die gleichmäßig abbrennen. Ab dem Mittelalter werden mechanische Uhren gebaut, die immer weiter verbessert werden. Heute werden die Schwingungen von Quarzkristallen im Inneren von Uhren für die exakte Zeitmessung genutzt; in Atomuhren sogar die Schwingungen einzelner Atome. Ich gestehe, dass ich mir das nur sehr schwer vorstellen kann.
Die Länge einer Sekunde, einer Minute oder eines Tages ist immer gleich und unbestechlich. Das Messen der Zeit ist heute kein Problem mehr. Aber wann beginnt die Zeit? Wie ist sie strukturiert? Ein Tag erhält durch die Sonne seine Struktur. Um 12 Uhr mittags steht sie am höchsten. Auch das Jahr ist durch die Sonne bestimmt. Die Sonnenwenden im Sommer und im Winter gliedern die Jahreszeiten. Der Mond ist Namensgeber für die Monate und sein Zyklus teilt das Jahr in zwölf Teile. Unser Kalender richtet sich nach den astronomischen Rhythmen. Aber wo starten wir mit der Zählung? In der Antike werden die Regierungsjahre der Kaiser gezählt. Man befindet sich zum Beispiel im zweiten Jahr des Augustus. Auf meinem Kalender steht eine große 2024. Ganz selbstverständlich nutzen jede und jeder diese Zählung. Wir haben das Jahr 2024 nach Christus. Das Jahr Null, der Nullpunkt, der Beginn der Zeitrechnung ist die Geburt Jesu Christi. Mit Jesus wird ein Mann geboren, den wir Christen als Sohn Gottes verehren. Gott selbst wird Mensch. Er wird einer von uns. Einer wie ich. Einer wie Sie. Er lebt mit uns Menschen. Er stellt Konventionen und Regeln seiner Zeit in Frage. Er wendet sich den Armen und Ausgestoßenen zu. Er spricht mit Männern, Frauen und Kindern gleichberechtigt. Für seine Botschaft von der Liebe macht er sich das höchste jüdische Gebot zu eigen: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ An diesen einen Gott zu glauben und diese Liebe zu leben, wird zu einer Option für alle Menschen. Eine wahre Zeitenwende. Mit der Geburt Jesu Christi fängt eine neue Zeit an. Und genau das feiere ich an Weihnachten. Darauf warte ich. Darauf bereitete ich mich in der Adventszeit vor, die heute beginnt.
Musik: White Christmas
Titel: White Christmas; Komposition: Irving Berlin; Interpret: Nils Landgren; Album: Christmas With My Friends; Label: ACT Music; LC: 07644;
10:32-11:19 = 0:47
Autor: Wenn die Zeit exakt messbar ist, unbestechlich, wie kann es dann sein, dass sie so unterschiedlich schnell zu vergehen scheint? Warum vergehen die schönen Stunden mit meinen Freunden so schnell? Und warum fühlt sich eine halbe Stunde mit meiner Steuererklärung an wie eine Ewigkeit?
Ich nehme Zeit immer wieder unterschiedlich war. So geht es allen von uns. Wenn ich älter werde scheint die Zeit schneller zu vergehen. Das liegt vor allem daran, dass ich Information langsamer verarbeite. Als Kind war alles neu für mich. Ich muss viele Eindrücke und Erfahrungen erfassen und abspeichern. Diese Vielzahl neuer Erlebnisse lässt die Zeit relativ langsam vergehen. Auch Emotionen beeinflussen mein Zeitempfinden. Wenn ich als Kind alleine im Dunklen war und Angst hatte, dann kam es mir ewig vor. Das ausgeschüttete Adrenalin lässt die Zeit scheinbar langsamer vergehen. Umgekehrt sorgt Entspannung dafür, dass ich die Zeit schneller wahrnehme. Kaum habe ich mich mit einer Tasse Kaffee aufs Sofa gelegt und schöne Musk angemacht, ist die erste halbe Stunde schon vorbei. Und wenn ich mich intensiv auf etwas konzentrier, zum Beispiel beim Sport, in einem Computerspiel oder beim Lesen, vergesse ich oft sie Zeit. Dabei kann es passieren, dass ich in einen Flow-Zustand komme. Mein Gehirn verarbeitet die fokussierten Dinge so stark, dass das Bewusstsein der Zeit völlig in den Hintergrund gerät. Das ist schon eine merkwürdige Sache ist das mit der Zeit.
Musik: Icicles
Titel: Icicles; Komposition: Nils Landgren; Interpret: Nils Landgren; Album: Christmas With My Friends IV; Label: ACT Music; LC: 07644
12:38-13:27 = 0:49
Autor: Auch in der Bibel lese
ich von unterschiedlicher Zeit. Die Sprache der Bibel kennt sogar
unterschiedliche Begriffe. „Kairos“
und
„Chronos“ – zwei griechische
Worte, die in meiner deutschen Bibel beide mit „Zeit“ übersetzt sind. Um den
Unterschied zu verstehen hilft mir ein konkretes Beispiel.
Ich sitze abends zu Hause. Der Arbeitstag war lang und anstrengend. Ich bin müde. Wenn ich auf den Tag zurückblicke, habe ich vieles einfach nur „abgespult“, wie an so vielen Tagen zuvor. Da ist sie wieder: die Routine, der immer gleiche Ablauf, das was die Bibel „Chronos“ nennt, die messbare Zeit, die allzu oft monotone Zeit. Tage und Wochen gehen ins Land, ohne, dass ich etwas Besonderes spüre; ohne, dass ich wirklich wach bin für das, was um mich herum passiert.
Dann an einem dieser Abende passiert es. Ich sitze wieder da und das Telefon klingelt. Eine Freundin ruft an. Ich habe schon lange nichts mehr von ihr gehört. Sie erzählt mir von den Schwierigkeiten, die sie gerade hat. Ich spüre, dieses Gespräch ist anders. Dieser Moment verlangt Aufmerksamkeit. Ich brauche ein offenes Herz.
Oder an einem anderen Abend. Ich gehe gerade ins Bett. Meine Gedanken sind schon beim nächsten Tag. Und plötzlich denke ich an einen Freund, mit dem ich lange schon keinen Kontakt mehr habe. Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit und eines kam zum anderen. Eigentlich würde ich den Gedanken gerne zur Seite scheiben. Es einfach auf sich beruhen lassen. Aber an diesem Abend, in diesem Moment, bleibt der Gedanke an meinen Freund.
Diese Momente sind vielleicht „Kairos“-Momente, bedeutungsvolle Augenblicke. Gott selbst sagt mir hier vielleicht: „Warte mal. Hier ist eine Gelegenheit. Nimm sie wahr.“ Es sind Momente, die Gott mir schenkt. Gelegenheiten zur Umkehr, zum Neuanfang, zur Versöhnung. Solche Augenblicke sind nicht zufällig. Besondere Zeitpunkte, in denen Gott mich direkt anspricht. In der Bibel lese ich: „Macht das Beste aus eurer Zeit.“ (Epheser 5,16 Basisbibel). Ich verstehe da so, dass ich die Momente nicht verpassen darf. Es bedeutet für mich, heute noch das das Handy in die Hand zu nehmen und eine Nachricht zu schreiben. Es bedeutet für mich, einen alten Streit zu beenden. Es bedeutet für mich, den ersten Schritt zu gehen. Auch wenn es schwerfällt. „Kairos“ bedeutet. „Jetzt ist der Moment“. Verpasse ihn nicht.
Musik: Hymn No III
Titel: Hymn No III; Komposition: Johan Norberg und Nils Landgren; Interpreten: Johan Norberg und Nils Landgren; Album: Christmas With My Friends VI; Label: ACT Music; LC: 07644
15:59-16:42 = 0:43
Autor: Das ist schon eine merkwürdige Sache ist das mit der Zeit. Heute ist der Erste Advent. Die Vorbereitungszeit auf Weihnachten beginnt. Ist sie für mich nur „Chronos“? Nur eine Zeit, die Minute für Minute, Stunde für Stunde, Tag für Tag, abläuft? Oder ist sie „Kairos“? Eine Zeit voller Momente, voller Gelegenheiten, voller Bedeutung? Die Adventszeit lädt mich ein auf das Wesentliche zu schauen. Dazu gehören das Warten und das Hoffen. Dazu gehören aber auch Lebkuchen und Geschenke einkaufen. Am Ende steht dann das große Fest, Weihnachten. Darauf kommt es an. Aber, so wird mir klar, auch das Warten selbst ist wertvoll. Es schafft die Möglichkeit für „Kairos“-Momente, für erfüllte Zeit. Und das ist ein vorweihnachtliches Geschenk. Zeit, die mir geschenkt ist. Jede Minute, die ich mit meinen modernen Uhren messen kann, ist kostbar. Denn die Zeit ist begrenzt. Ich kann sich nicht aufheben oder ansparen. Ich muss sie nutzen, hier und jetzt, in diesem Augenblick.
Das erste Türchen am Adventskalender ist offen. Die erste Kerze auf dem Adventskranz brennt. Ich freue mich auf die Tage und Wochen. Auf die weitern Türchen und die Kerzen, die noch entzündet werden. Und so wünsche ich mir, dass neben dem Stress und der Hektik dieser Zeit Raum ist für „Kairos“-Momente.
Einen schönen Sonntag und eine gesegnete Adventszeit wünschen Ihnen Pfarrer Oliver Mahn aus Köln.
Musik: I Have a Dream
Titel: I Have a Dream; Komposition: Benny Andersson und Björn Ulvaeus; Interpreten: Johan Norberg und Nils Landgren; Album: Christmas With My Friends VI; Label: ACT Music; LC: 07644;
18:16-20:00 = 1:44
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth