Beiträge auf: wdr5
Kirche in WDR 5 | 12.10.2024 | 07:55 Uhr
Schubladendenken
Das Bedürfnis des Menschen, Gegenstände geordnet transportieren zu können, brachte in der Antike die Truhe hervor, eine Holzkiste mit Deckel. Dann wurde die Truhe sesshaft und sie veränderte sich zur Kommode, aus der einzelne Fächer herausgezogen werden konnten. Diese Fächer sind die Vorfahren unserer modernen Schubladen.
Schubladen ermöglichen ein übersichtliches Ordnungssystem. Gerade in Küchen und Büros sind sie unverzichtbar zur Sortierung von Schreibmaterial oder Kochutensilien.
Schubladen im Haus sind
einfach praktisch, auch um Dinge verschwinden zu lassen, eben weil nicht jede
Schublade aufgeräumt sein muss.
Aber auch Personen können im übertragenen Sinn in Schubladen gesteckt werden.
Das Schubladendenken ordnet Menschen in Schubladen, oft mit einfachen Beschriftungen wie: Freund - Feind, gut - böse, brauchbar - unbrauchbar, oder fleißig und faul.
So setzen viele Menschen aus übersichtlichen Schubladen ihr Weltbild zusammen, das sehr oft korrespondiert mit dem Weltbild der Nachbarschaft, der Kolleginnen und Kollegen, oder der Mitglieder aus dem eigenen Verein.
Schubladendenken ordnet das Zueinander vieler Menschen in einer heute unübersichtlichen und diverser werdenden Gesellschaft. Aber Menschen, die einmal in eine Schublade gesteckt worden sind, kommen aus ihr oft ein Leben lang nicht wieder raus.
Diese schmerzliche Erfahrung macht auch Jesus in seiner Heimatstadt Nazareth. Der Evangelist Markus (Mk 6,1-5) berichtet im Neuen Testament von dem Erlebnis, wie Jesus von seiner lieben Nachbarschaft, einmal in eine Schublade gepackt, aus dieser nicht mehr herauskommen sollte.
Jesus, zu Besuch in seiner Heimatstadt Nazareth, lehrt am Sabbat in der Synagoge. Vielen Menschen, die ihm zuhören, staunen nicht schlecht und fragen: Wieso redet der so anders, von welcher Weisheit spricht er die ihm gegeben sei, und was sind das für Machttaten, die durch ihn geschehen?
Und ruck zuck zog die liebe Nachbarschaft die Schublade heraus, in die Jesus zu passen hatten: Der ist doch Zimmermann, der Kleine von Maria, der mit uns aufgewachsen ist. Und sie waren wütend über Jesus, lehnten ihn ab, weil er nicht mehr in die für ihn vorgesehene Schublade passte.
Solch ein Schubladendenken ist schlimm genug, aber besonders nachgegangen ist mir die Konsequenz, die diese Engstirnigkeit für Jesus zur Folge hatte. Der Evangelist Markus berichtet: Jesus konnte dort keine Machttaten tun. (Mk 6,5)
Durch das Schubladendenken seiner Nachbarn konnte Jesus sein Talent, seine dem Menschen dienenden Kräfte nicht entfalten. Die Schublade, in die die Nachbarschaft ihn gesteckt hatte, wurde zum Grab seiner Kraft.
Genau diese Gefahr besteht, wenn Menschen in Schubladen eingesperrt werden: Veränderung wird nicht anerkannt, Entwicklung ignoriert, Förderung verunmöglicht.
Denen, die andere in Schubladen packen, mag es eine Entlastung sein. Denen aber, für die Schubladen zum Gefängnis werden, ist Entfaltung, ist Lebenskraft genommen.
Da hilft nur eines, weggehen und Schublade, Schublade sein lassen, so wie Jesus, der weiterzog, um woanders Heimat zu finden.
Kommen Sie gut in dieses Wochenende, Ihr Pfarrer Christoph Stender aus Aachen.