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Das Geistliche Wort | 01.11.2024 | 08:40 Uhr
Allerheiligen - ein Fest der Anfänge(r)
Die katholische Kirche feiert heute das Fest „Allerheiligen“. Dabei denkt sie an all die Menschen, die in keinem Heiligenkalender mit Namen genannt werden. Sie sind eher Alltagsmenschen wie wir alle und nicht in einem abgesonderten Bereich zu finden. Normalerweise definiert sich das Heilige gerade durch seine Trennung vom Profanen: das Heilige als der Ort, der – in welcher Religion auch immer – mit Gott zu tun hat, und das Profane eben der alltägliche Rest des menschlichen Lebens. Und überall umgibt sich das Heilige mit einem eigenen Duft, mit besonderem Licht, mit Riten und Gesängen, mit Zeichen eben, die eine andere Welt in den Blick nehmen. Schon durch die Fremdheit weckt es ein Gefühl der Ehrfurcht. Für manche Menschen, die in ihrem Alltag kaum zum Aufatmen kommen, ist dieser ausgegrenzte heilige Bezirk oft ein Zufluchtsort – gerade weil er anders ist als ihr Lebensort, an dem sie sich so sehr plagen müssen. Wirklich aufatmen lässt mich dieser Zufluchtsort allerdings erst dann, wenn er in meinem eigenen Alltag vorkommt. Ich bin Sr. Ancilla Röttger aus dem Klarissenkonvent am Dom in Münster und ich möchte heute mit Ihnen darüber nachdenken, was das Heilige im Alltag ausmacht.
Musik: Parce mihi domine (Officium – Jan Garbarek und Hilliard Ensemble)
Wenn ich Biographien von Menschen lese, die die Kirche in den Heiligenkalender aufgenommen hat, finde ich sehr schnell, welche Risse und Brüche in deren Leben vorkommen. Es sind keine Menschen, die in irgendeiner Weise perfekt gewesen wären. Es sind Menschen, die den Mut hatten, immer wieder neu anzufangen und immer wieder neu eine Entscheidung für das Leben zu treffen. Das kann sehr unterschiedlich aussehen.
In seinem geistlichen Lesebuch zu den biblischen Lesungen, die in der Sonntagsliturgie der katholischen Kirche gehört werden, bringt der Münsteraner Religionsphilosoph Klaus Müller es genau auf den Punkt: „Was die Heiligen zu Heiligen macht, ist, dass sie ihre Stärken leben und ihre Schwächen ertragen.“[1] Das ist ein Anspruch an gelebtes Leben, der jedem möglich ist. Meine Stärken leben, die ich allerdings erstmal erkennen muss und die mir auf den ersten Blick gar nicht unbedingt bekannt sind. Das Gleiche gilt für meine Schwächen. Manchmal entwickelt sich aus dem, was ich für eine Schwäche halte, später eine Stärke.
Schon oft habe ich von dem jungen Mann erzählt, dessen Leben mich einfach tief beeindruckt. Es macht für mich etwas von den immer neuen Anfängen deutlich. Dieser Mann stammte aus gutsituiertem Elternhaus und seine berufliche Laufbahn war schon vorgegeben. Er versuchte es mit dem Studium und all dem, was dazu gehört. Doch dann begriff er, dass er so nicht leben kann, dass er in dieses System nicht passt und ständig zur Unehrlichkeit gezwungen wäre. Er stieg aus – aus seiner Karriere, aus seinem Lebensumfeld, aus seiner Beheimatung, die ihm fremd geworden war, und lebte auf der Straße. Das alles Schritt für Schritt, nicht mit einem großen Sprung. Es war für ihn eine Entscheidung für das Leben. Bei seinem Tod, der ihn recht früh traf, mischte sich eine seltene Trauergemeinde um ihn: Menschen aus der gutbürgerlichen Ebene, die zu seinem Ursprungsleben gehörten, und Menschen aus der Gemeinschaft der Obdachlosen, die mit ihm auf der Straße gelebt hatten. Dann stand einer seiner Freunde von der Straße auf und sagte über ihn: „Er hat nie über irgendjemanden schlecht geredet!“ Und alle bestätigten es unterschiedslos. Das hat für mich etwas mit Alltagsheiligkeit zu tun. Er hat nicht einfach aufgegeben und einen für ihn scheinbar leichteren Weg gewählt. Ob dieser wirklich leichter war, ist ja auch nicht klar. Er hat eine Entscheidung für das Leben getroffen und in ihr einen neuen Anfang gewagt.
Musik:
Neuanfang (Clueso)
Das erste Wort, das der Evangelist Markus von Jesus überliefert, ruft zum Neuanfang auf. Er sagt: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Es geht nicht darum, ständig etwas Neues anzufangen und auszuprobieren. Zuerst gibt Jesus die Perspektive vor: das Reich Gottes ist nahe. Vor dem neuen Anfang steht immer eine Erkenntnis. Das Ziel des Neuanfangs ist der offene Blick auf das Leben und nicht die Flucht vor meinem Alltag.
Das heutige Fest weckt in mir Erinnerungen an Menschen, denen ich in meinem ganz alltäglichen Leben begegnet bin und die für mich einen Hauch der Heiligkeit in sich tragen. Da denke ich an eine Frau, die nach langer schwerer Krankheit erst vor kurzem gestorben ist. Jede Krankheitsdiagnose, die über sie getroffen wurde, rief in ihr offensichtlich die Entscheidung für das Leben hervor. Und sie fing mit dem, was ihr blieb, immer wieder neu in ihrem Alltag an. Sie lebte ihre Stärke und trug ihre Schwäche. Noch einmal mit Klaus Müllers Worten gesagt: Die Stärke zu leben und die Schwäche zu tragen, das geht nur im Vertrauen darauf, dass Gott mich so angenommen hat, wie ich bin. „Das Gottvertrauen ist das ganze Geheimnis der Heiligkeit.“ [2] So stand über dem Leben dieser Frau bis zum letzten Atemzug der feste Glaube: mein Leben ist in Gottes Hand. Und dieser Glaube gab ihr Kraft, zu tun, was ihr möglich war. Ihr Name steht nicht im Heiligenkalender der Kirche, doch sie gehört für mich zum heutigen Festtag.
Musik: Wer nur den lieben Gott lässt walten (Sarah Kaiser auf dem Album „Geistesgegenwart“)
..und selbst wenn man nicht auf Sand baut: Es gibt Schläge im Leben, die dafür sorgen können, dass man zu fallen droht. Da erfahre ich Menschen in meiner Umgebung, die völlig am Abgrund stehen und sich vor Schreck auch nicht mehr rühren können. Ein Zitat von Hundertwasser, das kürzlich auf einem Kalenderblatt stand, zeigt die heilende Richtung: „Wenn man vor dem Abgrund steht, dann ist der Rückschritt ein Fortschritt.“ Doch es verlangt die Kraft der Entscheidung für das Leben, um den Schritt zurück zu wagen. Und wer sich darauf einlässt, hat Anteil an dieser Heiligkeit, die wir heute feiern.
Da begegne ich Menschen, die mit dem Unfalltod ihres 16jährigen Sohnes konfrontiert sind. Der Tod des eigenen Kindes ist ein Abgrund, der die Mutter und den Vater dazu verlockt, den Schritt nach vorn zu tun. Und doch gehen die Eltern weiter in aller Trauer und finden Halt im Glauben an den Gott, der das Leben in seinen Händen hält.
Manche Menschen trifft wirklich Schlag auf Schlag. Da führt jemand schon ein recht beschwerliches Leben und bekommt noch eine Last darauf gelegt. Da ist jemand schon arm, und das Wenige, das er hat, wird ihm auch noch genommen. Schlag auf Schlag. Sieht Gott das denn nicht? Ist Er wohlmöglich auch noch derjenige, der schlägt? Manche gequälten Menschen befürchten das – und verlieren in dieser Furcht alle Hoffnung. Ich glaube nicht, dass Gott schlägt!
Was sich wie ein Schlag anfühlt, könnte ja auch eine abrupte Konfrontation mit einer Grenze meines Lebens sein. Wenn ich im vollen Lauf vor eine Mauer renne, dann ist das schon ein herber Schlag. Und Krankheit, Armut, Not sind Grenzen meines Lebens, die sich plötzlich enger um mich schließen und meinen Weg im vollen Lauf stoppen. Und mich dann zu einer Entscheidung zwingen.
Eine Freundin von mir war in diesem Sinn wirklich hart geschlagen: immer wieder ein neuer schwerer Krankheitsschub, der ihr und ihrer Familie einiges abverlangte. Irgendwann schenkte mir ihr Mann eine wunderschöne eiserne Rose, die er mit seinem Sohn zusammen aus einem Stück Eisen geschmiedet hatte. Er sagte dazu: „Ich glaube, so ist das mit uns. Es trifft uns Schlag auf Schlag – und am Ende formt Gott aus all dem eine wunderschöne Rose.“
Einer seiner Arbeitskollegen hatte zu ihm gesagt: „Dass Ihr aber auch immer solches Unglück habt!“ „Unglück?“, hatte er geantwortet, „Glück! Wir haben doch unvorstellbares Glück!“ – in der Intensität des geschenkten Lebens in jedem Augenblick. Und ich glaube es ihm! Die immer neuen Entscheidungen unseres Lebens haben mit einem Blickwechsel zu tun.
Da gibt es die vielen kleinen Entscheidungen des Alltags, die mich mit Erkenntnissen konfrontieren und mich immer wieder zu neuen Anfängen herausfordern – um des Lebens willen.
Und dabei meine ich nicht unbedingt, dass bei diesen neuen Anfängen zwingend etwas getan werden muss. Es braucht nicht Aktionismus. Als Schwester im Orden der heiligen Klara stehe ich in der kontemplativen Tradition der Kirche. Anders als die sogenannten aktiven Orden zielt unsere Spiritualität hin auf Inwendigkeit. Und eine kontemplative Sicht heißt in diesem Fall: Neu anzufangen geschieht nicht nur in Taten, in einer Aktion, sondern dem geht immer zunächst eine innerer Anfang voraus. Eine neue Haltung. Eine neue Richtung des Herzens.
Als der verstorbene Papst Benedikt XVI. im Jahr 2011 Deutschland besuchte, erzählte mir danach eine Frau etwas erbittert von ihrer Reaktion auf den Papstbesuch in unserem Land. Papst Benedikt hatte damals aufgerufen, die Freude des Glaubens neu zu entdecken und die Schönheit des Glaubens zu feiern. Diese Worte schienen jene Frau getroffen zu haben, denn sie hörte sie im Abgleich mit ihrer Wirklichkeit: Eine deprimierende Familiensituation und dann die Eucharistiefeier in ihrer Pfarrkirche mit fünf älteren Frauen und einem eher schwierigen Pfarrer. Und ich fragte mich: Was macht denn die Schönheit des Glaubens aus? Ist damit nur eine schön gestaltete Liturgie gemeint? Es kostet schon etwas Kraft, angesichts der eigenen Wirklichkeit eine Entscheidung für das Schöne zu treffen.
Mir fiel die Karikatur ein, die kurz nach dem Papstbesuch in der Zeitung zu sehen war: der Papst ging voran und die Fußspuren, die er hinterließ, zeigten in die andere Richtung. Auf den ersten Blick scheint es vielen so zu ergehen: keine Freude, keine Schönheit, es geht nur rückwärts. Das sollte gewiss auch die Deutung des Karikaturisten sein. Wer aber noch einmal mit dem Blick der Inwendigkeit hinschaut, kann auch etwas ganz anderes wahrnehmen. Selten habe ich es so gut ausgedrückt gesehen, worum es in der christlichen Botschaft geht: Ich gehe nur dann voran, wenn ich zugleich zu Gott umkehre. Es geht nicht um ein ästhetisches Erlebnis, sondern es geht um die Schönheit des Lebens, die ja genau dann erfahrbar wird, wenn ich umkehre aus Selbstverliebtheit, Besserwisserei und Aktionismus.
Musik: Primo tempore (Officium – Jan Garbarek und Hilliard Ensemble)
Ich bin davon überzeugt: Eine Umkehr zu Gott bedeutet ein Vorwärtskommen im eigenen Leben. Darin kann ein echter Neuanfang liegen. Und dies meine ich nicht als ein Umsteuern in eine bestimmte Richtung, als ein Ausbrechen, sondern ich meine es als ein inneres Aufbrechen, in dem das Herz eine neue Richtung erfährt. Und das in einem ganz alltäglichen Rahmen.
Dazu muss ich mir aber ungeschminkt die Realität meines Lebens anschauen, um dann nach der Wahrnehmung der Gegenwart eine Entscheidung für die Zukunft zu treffen.
Auch in einem Kloster ist das Leben nicht immer einfach nur harmonisch. Da leben verschiedene Menschen mit unterschiedlicher Geschichte auf engem Raum Tag für Tag miteinander. Was sie verbindet, ist, dass sie sich zu diesem Leben von Gott gerufen wissen. Und das verlangt immer neu ein Anhalten im Alltag und eine Neuentscheidung zur Umkehr. Auch für mich gibt es zwischendurch Zeiten, in denen ich weder in der Liturgie noch im Gemeinschaftsleben wirkliche Freude erlebe. Es wird dann eher eine Pflichtübung. Da hilft tatsächlich nur, anhalten in der eigenen Lustlosigkeit und sich neu entscheiden für den, für den ich dieses Leben führe.
Das macht den neuen Anfang aus und damit sind wir nie am Ende. Es gibt keine vorgefertigte Bahn. Da ist nur der Weg, den unsere Füße selber bahnen und die anschließend wieder verwehen. Und immer wieder ist eine Korrektur der Richtung notwendig. Der heilige Franziskus von Assisi hat noch kurz vor seinem Tod seine Brüder aufgerufen: „Lasst uns endlich anfangen, denn bis jetzt haben wir noch nichts getan!“ So ist das oft: ich erkenne im Rückblick Abweichungen in meinem Lebensweg und denke unwillkürlich, warum habe ich das nicht schon längst gesehen. Dann ist es Zeit, eine neue Entscheidung zu treffen und neu anzufangen um des Lebens willen.
Wie schön, dass es dieses Fest Allerheiligen gibt! Es lohnt sich, die Heiligen zu suchen, die zu meiner eigenen Lebensgeschichte gehören, deren Gesicht ich kenne und deren Leben mit meinem verknüpft ist. An sie alle denke ich heute und danke Gott für sie.
Musik: „For all the saints who from their labors rest” (trad. Hymne, interpretiert von Fernando Ortega)
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Feiertag, Ihre Sr. Ancilla Röttger vom Klarissenkonvent am Dom in Münster.
[1] Klaus Müller, Gottes ABC, Gedanken und Texte zum Lesejahr B, Münster 2015, S. 335.
[2] Klaus Müller, Gottes ABC, S. 338.