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Das Geistliche Wort | 13.10.2024 | 08:40 Uhr
Wenn ich einmal reich wär
Guten Morgen!
Fast auf den Tag genau vor 60 Jahren war in New York Premiere für das Musical „The Fiddler on the Roof“, zu Deutsch: „Der Fiedler auf dem Dach“. Hierzulande aber wurde Jerry Bock’s Musical bekannt unter dem Namen „Anatevka“. Bis heute zählt es zu den bekanntesten Musicals überhaupt. Das Besondere: Nach den Erfahrungen der Shoa feierte dieses Musical das osteuropäische Judentum – natürlich nicht ungetrübt. Mich hat das Musical mit seinen vielen verschiedenen Schichten jedenfalls sofort angesprochen, als ich es etwa vor dreißig Jahren zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne erlebte Dabei beruht das Musical auf einer Romanvorlage, die die Schrecken des Holocaust noch nicht kannte. Wie auch immer: Eines der bekanntesten Stück aus „Anatevka“ singt der arme Milchmann Tewje, der schrullige Protagonist des Musicals. Tewje träumt davon, einmal reich zu sein. Und das hört sich dann so an:
Musik 1: Dalibor Brazda, Shmuel Rodensky: „Wenn ich einmal reich wär“, aus: Jerry Bock, Anatevka
Wenn ich einmal reich wär'
O je wi di wi di wi di wi di wi di wi di dum
Alle Tage wär' ich wi di bam
Wäre ich ein reicher Mann!
Bräuchte nicht zur Arbeit
O je wi di wi di wi di wi di wi di wi di dum
Wäre ich ein reicher wi di bum
Ei del dei del ei del dei del dann
So träumt Tewje, einmal reich zu sein. Nach Tewje ist auch der Roman benannt, der dem Musical zugrunde liegt: „Tewje, der Milchmann“ von Scholem Alejchem aus dem Jahre 1905. Scholem Alejchem, war einer der bedeutendsten jiddischsprachigen Schriftsteller und gilt als einer der Gründerväter der jiddischen Literatur. In seinem Roman „Tewje, der Milchmann“ verarbeitet er nicht nur Erlebnisse aus seinem Leben als osteuropäischer Jude der vorrevolutionären Zarenzeit Russlands, sondern auch biblische Themen, zum Beispiel wie Abraham in ein unbekanntes Land aufbrach. Denn Scholem Alejchem verließ seine russische Heimat nach den Erfahrungen von Pogromen gegen Juden und wanderte schließlich in die USA aus, wo er 1916 in New York starb.
Im Musical „Anatevka“ klingen diese Themen noch nach: die zum Teil bittere Armut der osteuropäischen Juden und die schon damals stattfindenden Pogrome. Und anders als im Roman möglich, klingt hier die jiddische Musik nach: „Anatevka“ feiert den Klezmer.
Musik 2: Giora Feidman und das Giora-Feidman-Trio: „If I were a rich man“
Das Musical „Anatevka“ mit unverwechselbarer Klezmer-Musik. Dabei geht es aber vor allem um eine inhaltliche Frage: Wie wichtig sind Traditionen, um die eigene Identität zu bewahren in Religion, Kultur und vor allem in der eigenen Familie? Was Bewahren in einer sich verändernden Welt? Hoch aktuelle Fragen – bis heute. Im Musical zeigt sich das so: Tewjes heiratsfähige Töchter lassen sich nicht verkuppeln, wie das üblich ist, sondern suchen sich selbst ihre Ehemänner aus – gegen den Willen des Vaters – und mit allen Konsequenzen. Und das bedeutet eben ein Bruch mit der Tradition.
Und mit diesem Thema traf das Musical einen Nerv, auch hierzulande. Denn zwanzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg zeichnete sich auch in Europa ein gesellschaftlicher Wandel ab. Es war am Vorabend der sogenannten Studentenunruhen: Veränderung lag in der Luft. Und die 68er-Bewegung stellte Traditionen in Frage und erklärte sie zum Teil für nichtig. Konventionen wurden gebrochen, allerdings nicht immer mit einem versöhnlichen Schluss, wie im Musical, sondern auch mit kämpferischen Auseinandersetzungen. Wahrscheinlich trug dieser gesellschaftliche Bezug mit dazu bei, dass „Anatevka“ hierzulande so erfolgreich war.
Und Tewje, der arme Milchmann? Der steht genau in dem Spanungsfeld zwischen Bewahren und Verändern. Dabei hat er für sich eine mögliche Lösung entdeckt: Wenn er einmal reich wäre, dann gäbe es viele Probleme vermeintlich erst gar nicht. Und so hält er, als frommer Mann, Zwiesprache mit Gott:
Sprecher:
„Herr, du hast gegeben in die Welt viele arme Menschen.
Ich weiß, es ist keine Schande, arm zu sein,
Aber eine besondere Ehre ist es, weiß Gott, auch nicht!
Na, was wäre denn so Schreckliches dabei, wenn ich auch ein klitzekleines Vermögen hätte, hä?“
Musik 3: Dalibor Brazda, Shmuel Rodensky: „Wenn ich einmal reich wär“, aus: Jerry Bock, Anatevka
Wenn ich einmal reich wär'
O je wi di wi di wi di wi di wi di wi di dum
Alle Tage wär' ich wi di bam
Wäre ich ein reicher Mann!
Bräuchte nicht zur Arbeit
O je wi di wi di wi di wi di wi di wi di dum
Wäre ich ein reicher wi di bam
Ei del dei del ei del dei del dann
Ich bau' den Leuten dann ein Haus vor die Nase,
Hier in der Mitte unsrer Stadt,
Mit Fenstern hoch und Türen aus geschnitztem Holz!
Da führt 'ne lange breite Treppe hinauf
Und noch eine längere führt hinab!
Ja, so ein Haus, das wär' mein ganzer Stolz!
Mein Hof wär' voll von Hühnern, Gänsen und Enten
Und was da sonst noch kräht und schreit.
Alles quakt und schnattert, so laut es kann.
Das ist ein Quak und Quiek und Tüt, Kikeriki
Wär das ein Spektakel weit und breit
Und jeder Herr: Hier wohnt ein reicher Mann! Oh.
Wenn ich einmal reich wär'
O je wi di wi di wi di wi di wi di wi di dum
Alle Tage wär' ich wi di bam
Wäre ich ein reicher Mann!
Bräuchte nicht zur Arbeit
O je wi di wi di wi di wi di wi di wi di wum
Wäre ich ein reicher wi di bam
Ei del dei del ei del dei del Mann
Der arme Milchmann Tewje malt sich aus, was sich wohl viele Menschen ähnlich wie er wünschen würden, wenn sie einmal reich wären: man brauchte nicht zur Arbeit, man baute ein Haus, das der ganze Stolz wäre.
Dabei geht es Tewje nicht nur um Statussymbole, sondern auch um seinen Rang in der Gesellschaft, was bei ihm die religiöse Gemeinde bedeutet: als Reicher gälte er als klug, er hätte Zeit auch zum Beten und könnte im Gotteshaus die vornehmsten Plätze einnehmen.
Soweit die Träume des armen Tewje. Er hält an den Traditionen fest und verspricht sich für seine Treue irgendwie auch einen Vorteil von Gott. Aber seine Armut zeigt ihm das Gegenteil: Tewje fühlt sich schließlich als Opfer, fühlt sich angesichts der reichen Löwen wie ein armes Lamm. Und so fragt er Gott:
Sprecher:
Herr, du schufst den Löwen und das Lamm –
sag, warum ich zu den Lämmern kam.
Wär es wirklich gegen deinen Plan,
wenn ich wär ein reicher Mann?
Tewje hat natürlich Recht: Mit Geld kann man viele Probleme lösen – wenn auch nicht alle. Und Geld verschafft Respekt und Anerkennung. Aber steckt dahinter ein Plan Gottes? Warum werden die einen im Reichtum geboren und die anderen in Armut? Und noch weiter gefragt: Ist Reichtum ein Zeichen dafür, von Gott gesegnet zu sein und ist Armut eine Strafe Gottes? Sicherlich nicht. Denn was wäre das für ein Gottesbild…?
Musik 4: Giora Feidman und Gershwin-Quartett: Allegro from the Suite “In Chassidic Mood” von Gil Aldema
Der arme Milchmann Tewje will reich werden, weil Reichtum viel möglich macht. Doch Reichtum scheint auch hinderlich zu sein. Davon erzählt jedenfalls eine Episode aus dem Leben Jesu, die heute in den katholischen Gottesdiensten vorgetragen wird (Mk 10,17-30). Da geht es um folgendes: Ein Mann kommt zu Jesus und fragt ihn: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ Ganz im Sinne der jüdischen Tradition hat er strickt die Gebote gehalten von Jugend an: „Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen Vater und deine Mutter!“ Jesus ist davon beeindruckt. Aber dann gibt er dem Mann einen nahezu verstörenden Rat und sagt: „Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!“ Daraufhin geht der Mann allerdings betrübt weg, denn er ist sehr reich. Und Jesus stellt fest: „Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen!“ Und um das Ganze noch zu verschärfen, bringt Jesus einen schier unmöglichen Vergleich: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ Jesu Jünger bekommen diesen Satz ihres Rabbis mit und sie stellen zu Recht die ganz grundsätzliche Frage: „Wer kann dann noch gerettet werden?“
Offensichtlich gehen bei Jesus Reichtum und ewiges Leben nicht zusammen. Was aber bedeutet das dann für Tewje, den armen Milchmann. Setzt er nach den Vorstellungen Jesu auf das falsche Pferd, wenn er doch so gerne reich wäre? Und bleibt seine Frage an Gott nicht berechtigt: „Wär es wirklich gegen deinen Plan, wenn ich wär ein reicher Mann?“
Ein echtes Dilemma. Und ich frage mich: Schließen sich Reichtum und Reich Gottes wirklich gegenseitig aus, so wie es das Wort Jesu nahelegt, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt?
Musik 5: Giora Feidman und Gershwin-Quartett: „D’vekut/ Devotion“ von Ora Bat Chaim, arr. von Sergei Abir
Das Bild vom Kamel, das durch ein Nadelöhr geht, beschäftigt die Bibelwissenschaft schon lange. Woher kommt dieser bizarre Vergleich, denn es ist schier unmöglich für ein so großes Tier durch eine so kleine Öffnung zu gehen? Ein Versuch, dieses Bild zu entschärfen, besteht nun darin, hier einen Schreibfehler zu unterstellen: Das griechische Wort für Kamel ähnelt nämlich dem Wort für Tau oder Seil. Dann wäre es nur noch ein Tau, welches durch das Nadelöhr gelangen muss. Aber selbst bei allem wohlwollenden Verständnis: Auch das ist letztlich unmöglich. Ein weiterer Erklärungsversuch der Bibelwissenschaft bezieht sich auf ein kleines Stadttor in Jerusalem, das „Nadelöhr“ genannt wurde. Kamele einer Handelskarawane mussten ihre gesamte Ladung ablegen, um durch dieses Tor zu kommen. Das heißt, um eintreten zu können, mussten sie alle Handelsware ablegen, also ihren Reichtum.
So verständlich diese Erklärungsversuche auch sind: Sie lösen letztlich nicht den Gegensatz auf zwischen Reichtum und Reich Gottes – sprich ewigem Leben. Es bleibt offenbar das Dilemma: Entweder man verzichtet auf allen Reichtum und erlangt das ewige Leben, oder man verzichtet auf das ewige Leben und bleibt im Reichtum, wenn man ihn denn hat. Beides zusammen geht wohl nicht.
Dabei sagt das Bild vom Kamel und dem Nadelöhr noch etwas viel Grundsätzlicheres: Für den Menschen ist es letztlich unmöglich, aus eigenem Vermögen in das Reich Gottes zu gelangen – und das im doppelten Sinne des Wortes: weder aufgrund von materiellem Vermögen noch durch anderes Können oder andere Leistungen. Das eigene Tun hat Grenzen. Dieses letzte Ziel, das ewige Leben, das Reich Gottes, das kann der Mensch sich weder erarbeiten noch erkaufen. Wie aber dann? Letztlich kann der Mensch sich nur von Gott beschenken lassen. Die besagte Bibelstelle mit dem reichen Mann bestätigt das. Da fragen die Jünger Jesu ja angesichts des Bildes vom Kamel und dem Nadelöhr nach: „Wer kann dann noch gerettet werden?“ Und Jesus antwortet: „Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott!“ Es geht also zunächst um Gott, der handelt. Es geht um sein Geschenk. Und genau darin muss der Mensch einwilligen: sich von Gott beschenken zu lassen. Das wäre dann seine Herausforderung.
Musik 6: Giora Feidman: „Somewhere von Leonard Bernstein
Sich von Gott beschenken zu lassen, das hört sich gut an. Aber wie realistisch ist das eigentlich, wenn es um Dinge geht wie das Reich Gottes oder das ewige Leben? Ich frage mich: Ist der Wunsch nach dem ewigen Leben heute überhaupt noch aktuell und relevant? Ist es nicht naheliegender, sich wie Tewje im Musical „Anatevka“ zu wünschen, einmal reich zu sein? Um es noch einmal mit Tewjes Worten zu sagen: „Wär es wirklich gegen Gottes Plan, wenn ich wär ein reicher Mann?“
Schaut man einmal auf Umfragen der letzten Jahre in Deutschland, dann ist es sehr bemerkenswert, was die Deutschen glauben. Da wurde unter anderem gefragt: „Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?“ Das ist ja nicht irgendeine Frage. Das ist die Kernfrage des Christentums nach dem ewigen Leben, die ja auch den jungen Mann bewegt Jesus gegenüber. Das Ergebnis einer Umfrage aus dem Jahr 2022[1] sagt: Nur etwa jeder dritte Deutsche glaubt an ein Leben nach dem Tod. Das Ergebnis in einer ähnlichen Umfrage fünf Jahre zuvor, 2019, war kaum anders.[2] Zeigen diese Ergebnisse damit aber nicht, dass der Gegensatz zwischen Reichtum und Reich Gottes, sprich ewigem Leben, nur ein selbstgemachtes Problem der gläubigen Christen ist? Und heißt das nicht, dass die anderen es dann doch wirklich viel einfacher haben!
Ich schaue noch einmal auf den armen Milchmann Tewje. Der möchte doch reich sein, um letztlich unabhängiger und wohl auch freier und anerkannter zu sein. Danach sehnt er sich. Was aber, wenn sein Wunsch nach Reichtum ihn so fesselt, dass er dadurch gerade abhängig wird und damit unfrei. Immer nur nach dem Geld zu schauen, was habe ich, damit ich was bin: mein Haus, mein Auto, mein Urlaub, genau das engt ein. Natürlich braucht jeder Mensch das Nötigste zum Leben. Aber: Sich auf ein „Immer-Mehr“ zu fixieren, das macht unfrei. Und genau hier scheint mir der eigentliche Clou der Geschichte sowohl von dem armen Milchmann Tewje als auch von dem reichen Mann bei Jesus zu sein: Reichtum an sich ist nicht schlecht, aber sich selbst und die eigene Anerkennung darüber zu definieren, dass ich reich bin, das wäre genau das Gegenteil vom Plan Gottes mit dem Menschen. Für Gott soll der Mensch frei sein – und nicht reich. Und so gesehen soll der Mensch eine größere Freiheit erlangen, indem er sich nicht an den Reichtum bindet und darüber definiert. Und diese Freiheit, die ist vielleicht schon so etwas wie der Anfang vom Reich Gottes. Und wer weiß, vielleicht muss auch die Sehnsucht danach erst von Gott den Menschen geschenkt werden, damit das Reich Gottes eine neue Relevanz gewinnt.
Musik 7: Giora Feidman und das Giora-Feidman-Trio: „If I were a rich man“
Im Vertrauen auf die Macht der Sehnsucht nach Freiheit grüßt sie aus Duisburg Pater Philipp Reichling
[1] Vgl.: https://www.sonntagsblatt.de/artikel/glaube/umfrage-wie-viele-deutsche-glauben-ein-leben-nach-dem-tod .
[2] Vgl.: file:///D:/to%20do/Christen%20an%20Ostern_%20Immer%20weniger%20Deutsche%20glauben%20an%20Gott%20-%20DER%20SPIEGEL.html .