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Das Geistliche Wort | 27.10.2024 | 08:40 Uhr
Wie liebenswert ist deine Wohnung (Ps. 84)
Wo geht es wohl hin mit der Kirche in unserem Land? Das frage ich mich seit vielen Jahren. Mein Name ist Markus Bosbach. Ich bin aktuell als Pfarrer in zwei Düsseldorfer Stadtteilen tätig mit insgesamt sechs großen Kirchen und darüber hinaus auch noch am Kölner Dom. Der Dom ist Weltkulturerbe. Da kommen jedes Jahr über sechs Millionen Menschen hin, um dieses Erbe zu sehen und vielleicht auch zu schätzen. Allerdings sieht das in der Pfarrei in Düsseldorf, wo ich tätig bin, ganz anders aus. Eine der großen Zukunftsherausforderungen vor Ort lautet: Was passiert mit den sechs großen Kirchen angesichts eines deutlichen Rückgangs der Zahl der Kirchenmitglieder und damit verbunden auch einer sinkenden Finanzkraft? Über die Kirchen als Gebäude, ihre Architektur, aber auch über ihre Bedeutung für die Gläubigen wie auch für eine säkularer werdende Gesellschaft möchte ich heute Morgen etwas nachdenken.
Musik 1: Joseph Rheinberger, Wie lieblich sind deine Wohnungen; Kammerchor Stuttgart unter Frieder Bernius
Was passiert wohl mit den vielen Kirchengebäuden in unserem Land? Um das zu beantworten hat mir der Blick in unser Nachbarland geholfen, die Niederlande. Von Köln aus ist es nicht weit bis nach Maastricht, kurz hinter Aachen. Maastricht ist eine sehenswerte Stadt, die mit ihren vielen Kirchen, mit ihren mittelalterlichen Stadttoren und vielen schönen Häusern ein Juwel von Tradition und Geschichte ist. Gleichzeitig ist es eine moderne und junge Stadt mit Universität und toller zeitgenössischer Architektur.
Wenn ich dort bin – und ich bin öfter mit Besuchern dort, denen ich die Stadt zeige, –dann führe ich sie gerne nicht nur in die beiden bedeutenden romanischen Basiliken St. Servatius und Liebfrauen, sondern immer auch in zwei andere Kirchen. Die eine befindet sich mitten in der Einkaufszone. Es ist die ehemalige Dominikanerkirche, ein weiter lichter gotischer Bau. Das hohe Kreuzrippengewölbe zieren spätmittelalterliche Malereien. Der Blick wird hinaufgerissen, denn die Malereien haben es in sich. Man muss aufpassen sich nicht den Hals zu verrenken. Die Bilder sind stille Zeugen einer großartigen Geschichte gelebter Religiosität. Allerdings: Der letzte Gottesdienst wurde hier vor über 200 Jahren gefeiert. Seitdem gab es die unterschiedlichsten Nutzungen, z. B. als Karnevals-Festsaal oder als Fahrradparkhaus. Seit 2006 ist die Kirche eine Buchhandlung. In den weiten hohen Raum sind mehrere Stockwerke als Emporen eingebaut für die Bücherregale. Im ehemaligen Altarraum gibt es ein Café-Restaurant, in dem auch Lesungen, Konzerte und Ausstellungen veranstaltet werden. Manche sagen, die Dominikanerkirche in Maastricht sei die schönste Buchhandlung der Welt.
Nicht weit entfernt befindet sich eine weitere spätgotische Kirche – auch hier wieder mittelalterliche Malereien. Wo bis 1796 Mönche lebten und beteten, befindet sich in dem ehemaligen Kreuzherrenkloster jetzt ein Luxushotel. Die Kirche dient heute u.a. als Lobby, Hotelbar und Restaurant – alles sehr stylisch. Zwei vom Baustil her sehr ähnliche Kirchen. Zwei sehr unterschiedliche Nutzungen, auch wenn man in beiden Kirchen essen und trinken kann.
Die Besucher beider Kirchen – vor allem wenn sie stärker christlich geprägt sind – reagieren auf diese neue Nutzungen ganz unterschiedlich: In der Hotelkirche eher ratlos verhalten bis ablehnend, obwohl Kirche ja auch mit Abendmahl zu tun hat, in der Buchhandlung begeistert. Vielleicht liegt das ja daran, dass die Welt der Bücher eher akzeptiert wird als die Vorstellung von einer Hotelbar.
Was aber bleibt: Beide Gebäude haben ihren kirchlichen Charakter behalten. Auch nach über 200 Jahren spricht ihre Architektur eine eindeutige Sprache.
Musik 2: Johannes Brahms, Wie lieblich sind deine Wohnungen, Ein deutsches Requiem, op 45; Ambrosian Singers, Royal Philharmonic Orchestra unter André Previn
Zurück nach Deutschland: Hier gibt es über 40.000 Kirchen und Kapellen. Die meisten von ihnen sind aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes sofort als Kirchen zu erkennen, nicht zuletzt durch die hoch aufragenden Kirchtürme. Sie sind vielerorts wie Wegmarken und Orientierungspunkte in der Landschaft, denn sie sind weithin sichtbar. Fast jede Zeit hat an den Kirchbauten ihre Spuren hinterlassen. Ich denke an die romanischen Kirchen, die wie eine feste Burg für ein geschlossenes Glaubensbild stehen; die Gotik, die gen Himmel strebt und Transparenz und Leichtigkeit vermittelt. Dann ist da die Barockzeit mit ihrer bildlichen Überfülle und Sinnenfreude: Kaum eine Fläche, die nicht gestaltet ist. Vielen Zeitgenossen heute ist der Barock zu üppig. Dann entstanden im 19. Jahrhundert große Stadtteil-Kirchen wegen der Industrialisierung. Die Städte wuchsen und damit auch die kirchlichen Gemeinden, die eben entsprechend Gottesdiensträume benötigten. Schließlich brachte das 20. Jahrhundert dann eine neue, zeitgenössische Kirchenarchitektur hervor, die sich von den historischen Baustilen löste. Die neue Architektur wurde sowohl von der damals aktuellen Theologie als auch durch die Art der Gottesdienstfeier entwickelt. Da wurde bereits vor dem Zweiten Weltkrieg sehr vorausschauend gedacht: Die Gemeinde sollte sich um den Altar in der Kirche versammeln und nicht vor dem Altar. Die große Chance, diese Vorstellungen auch vermehrt in neue Bauformen umzusetzen, ergab sich nach dem zweiten Weltkrieg: In den kriegszerstörten Städten mussten für die gläubigen Christen neue Gotteshäuser errichtet werden.
Zu den Ikonen des Nachkriegskirchenbaus gehört die Kirche St. Rochus in der nördlichen Düsseldorfer Innenstadt, für die ich unter anderem zuständig bin. St. Rochus verdankt ihren liebevollen Spitznamen: „das Ei“ ihrer spektakulären Betonkuppel, die tatsächlich an ein Ei erinnert. Sie zählt zu den berühmtesten Bauwerken des renommierten Architekten Paul Schneider-Esleben: markant und theologisch durchdacht, prägt sie das Stadtbild. Ihr Inneres ist ausgestattet mit bedeutenden Werken des bekannten Künstlers Ewald Mataré. Eigentlich ein kunsthistorisches und kulturelles Highlight. Aber die Kirche wird für ihre eigentlichen Zwecke kaum noch genutzt. Sonntagsabend versammeln sich 20-30 Gläubige zum Gottesdienst. Und perspektivisch werden es auch immer weniger Menschen, die bereit sind, sich ehrenamtlich um ein solch bedeutendes Baudenkmal zu kümmern.
Musik 3: Heinrich Schütz, Wie lieblich sind deine Wohnungen
Um die Bedeutung der Kirchengebäude zu verstehen – auch als kulturelles Objekt – bedarf es eines kurzen Blicks in die Geschichte. Kirchengebäude gab es nämlich nicht von Anfang an. Die ersten Christen gingen zunächst in die Synagoge und nahmen weiter am jüdischen Gottesdienst teil. Dann trafen sie sich zusätzlich am Sonntag in ihren privaten Häusern, um im gemeinsamen Mahl den Tod und die Auferstehung Jesu zu feiern. Je mehr Menschen zu der jungen Christengemeinschaft hinzukamen, umso größer wurde die Entfremdung von der Synagogengemeinde. Das lag auch daran, dass schon bald nichtjüdische Gläubige zu Christen wurden und mit der Synagoge als Gottesdienstort nicht viel anfangen konnten. Hinzu kam noch: In den ersten drei Jahrhunderten konnten sich die Christen oft nur im Geheimen treffen wegen der blutigen Verfolgungen durch die Römer. Das änderte sich allerdings unter dem römischen Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert, der das Christentum aus der Verbotsecke befreite. Später wurde es sogar Staatsreligion im römischen Reich, so dass immer mehr Menschen sich zum Christentum bekannten und die Frage aufkam nach entsprechend großen Versammlungsräumen. So wurden unter Konstantin in Rom und dann auch andernorts große Kirchen gebaut. Die Bauform war die einer langgestreckten römischen Markt- und Gerichtshalle, Basilika genannt. Es entstanden aber auch Zentralbauten, etwa als Taufkirchen oder im 6. Jahrhundert die spektakuläre Kuppel der Hagia Sophia in der Hauptstadt Konstantinopel, dem heutigen Istanbul.
Diese beiden Bauformen, die langgestreckte Basilika und der runde oder vieleckige Zentralbau, bestimmen, zum Teil kombiniert, die Geschichte des Kirchenbaus bis in die Gegenwart. Aber wie auch immer Kirchen baulich gestaltet waren, sie waren und sind eigentlich immer mehr als reine Zweckbauten. Wenn ich zum Beispiel in einer Kirche stehe, dann denke ich oft: Wie viel verschwendeter Raum, wieviel Höhe, wieviel Weite! Ich deute das dann so: Die Weite ist doch ein Hinweis auf die verschwenderische Liebe Gottes, die nicht zu fassen ist. Überhaupt will vieles am sichtbaren Bau einer Kirche auf Gott hinweisen, der letztlich unfassbar ist. Ich denke da an das Licht im Kölner Dom, das durch die bunten künstlerisch gestalteten Glasfenster den Raum erleuchtet und in eine geheimnisvolles Atmosphäre verwandelt. Die Türme, die zum Himmel zeigen und schon von Ferne das horizontale Stadtbild durchbrechen. Solcher Kirchbau ist für mich ein Sinnbild, dass christlicher Glaube niemals ortlos und niemals sinnlos ist. Will sagen: Der Glaube braucht Orte und er spricht Sinne an. Im sichtbaren Bau der Kirche kommt beides zusammen.
Architektur und Ausgestaltung der Kirchen zeigen immer auch etwas von dem Glauben einer Zeit und der Weise, wie Gottesdienst gefeiert wurde und wird. Da ist der mittelalterliche mystische Raum, der vom Geheimnis Gottes kündet, da ist der barocke Festsaal, der den Menschen in den Himmel hineinzieht, da ist das Gotteshaus, in dem Gläubige und Priester klar voneinander getrennt werden, da ist der Kirchenraum, in dem sich alle um den einen Altar versammeln und sich als Gemeinschaft erfahren.
Musik 4: Otto Nicolai, Wie lieblich sind deine Wohnungen aus Ps. 84; Kammerchor Consono unter Harald Jers
Ich komme zurück zu meiner Eingangsfrage: Wo geht es wohl hin mit der Kirche in unserem Land? Es mag ja auch den einen oder die andere Zeitgenossin geben, die froh wären, wenn Kirchen aus dem Bild unserer Städte und Landschaften verschwänden. Weg mit den steinernen Symbolen einer Institution, die Missbrauch und Gewalt über die Menschen gebracht hat!
Aber die allermeisten Menschen möchten – unabhängig von ihrer persönlichen Religiosität –, dass die Kirchengebäude erhalten bleiben – zumindest als Kulturgut. Und dann sind da immer noch viele, die vielleicht mit ihrer Kirche vor Ort doch wichtige Stationen ihres Lebens verbinden: Taufe von Kindern, die Erstkommunion, Konfirmation oder Firmung, die Hochzeit, den Abschied von lieben Verstorbenen. Und aus vielen Gesprächen weiß ich: Vielen Menschen ist es nicht egal, was aus „ihrer“ Kirche, „ihrem“ Kirchengebäude wird, wenn die jeweilige christliche Gemeinde sie nicht mehr tragen können.
Interessant ist doch: Es gibt inzwischen Menschen, die engagieren sich, um Kirchen zu erhalten, die nicht mehr durch Kirchensteuer finanziert werden können. Wie viele Dorfkirchen in den östlichen Bundesländern zum Beispiel konnten durch ehrenamtliches Engagement von Kirchenmitgliedern und Nicht-Mitgliedern gerettet werden! Ganz einfach: Weil man die Kirche im Dorf lassen will – und sei es nur als ein kulturgeschichtlicher Ort.
Bei den großen Kirchen in unseren Städten wird das nicht so einfach sein. Es gibt zu viele, und bei großen Gebäuden sind Erhaltungskosten sehr, sehr hoch, geschweige denn, wenn es um notwendige Restaurierungen geht. Das geht schnell in die Millionen. Umso wichtiger finde ich eine Initiative von Architekten, Denkmalpflegern und Kunsthistorikern, die den Erhalt von Kirchengebäuden anregt und zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe machen will. Ich bin überzeugt, dass wir möglichst viele Kirchen erhalten sollten, nicht nur als wesentliche Gebäude unseres kulturellen Erbes. Sie können auch für Menschen unserer Zeit unverzweckte Orte des kurzen Ausstiegs aus dem Alltag sein. In den lauten Großstädten sind geöffnete Kirchen oftmals Oasen der Ruhe: Und wer weiß, ob solche Orte nicht helfen können, zu sich oder gar zu Gott zu finden.
Als gläubiger Mensch bin ich überzeugt, dass auch eine nicht mehr genutzte Kirche eine missionarische Ausstrahlung hat. Sie ist eine steinerne Predigt ohne große Worte. Sie hält die Erinnerung wach an Orientierung und Hilfe, die Menschen in guten und schweren Zeiten im Glauben an Gott hier gefunden haben. Ich möchte nicht ausschließen, dass Menschen in Zukunft wieder nach solcher Orientierung und Hilfe suchen. Hoffentlich finden Sie dann noch solche Orte – ja und auch Menschen, die die steinerne Predigt dieser Gebäude in lebendiges Zeugnis übersetzen.
Musik 5: Esaias Hickmann, Wie lieblich sind deine Wohnungen; Bläser-Collegium Leipzig, Alte Musik Dresden unter Ludger Rémy
Wo geht es wohl hin mit der Kirche in unserem Land? Kirchen waren und sind auch immer verstanden worden als ein „Haus Gottes“. Und so betet jemand schon im Alten Testament, wahrscheinlich im Blick auf den Tempel Gottes von Jerusalem: „Wie liebenswert ist deine Wohnung, du HERR der Heerscharen! Meine Seele verzehrt sich in Sehnsucht nach den Höfen des HERRN. (…) Selig, die wohnen in deinem Haus, die dich allezeit loben. Selig die Menschen, die Kraft finden in dir (…)“ (Ps 84,2-3a.5-6a).
Dahinter steckt doch eine tiefe Sehnsucht nach Gott, der gesucht wird und den man finden kann. Und ich würde sagen: Gott ist überall und kann gefunden werden. Und Kirchen? Die wollen Orte sein, an denen die Gegenwart Gottes verdichtet erfahren werden kann.
Musik 6: Philipp Heinrich Erlebach, Wie lieblich sind deine Wohnungen; Ensemble Tama unter Mihoko Kimura
Ich wünsche uns allen Sehnsucht nach solchen Orten und viele geöffnete Kirchen. Ihr Pfarrer Markus Bosbach aus Köln.