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Das Geistliche Wort | 10.11.2024 | 08:40 Uhr
Mit den Augen der Liebe sehen wie der heilige Martin
„Rabimmel, Rabammel, Rabumm“: Diese drei Worte, stehen zwar nicht im Duden aber sie sind heute und morgen an vielen Orten hierzulande zu hören. Sie gelten dem heiligen Martin und werden von Kindern gesungen, die mit ihrer Laterne in der Hand einem Reiter folgen, der den heiligen Martin spielt. Morgen am 11. November wird er eigentlich gefeiert und Christinnen und Christen erinnern mit ihren Laternenumzügen an den Tag seiner Beisetzung im Jahr 397.
Und gern gebe ich zu: Auch ich bin seit meiner Kinderzeit eine Freundin von Martinsumzügen. Als Kind habe ich nämlich stolz meine selbst gebastelte Laterne in der Hand gehalten und fasziniert die Geschichte von Martin und dem Bettler angeschaut, als sie auf dem Sportplatz meines Heimatortes nachgespielt wurde.
Martin – ein Heiliger, nur für Kinder? Oder könnte der heilige Martin auch zu einem Impulsgeber für Erwachsene werden?
Diese Fragen stelle ich mir – zumal ich Professorin für Religionspädagogik bin.
Musik I: Traditionell (Theo Laß, Bearbeiter), Ich geh mit meiner Laterne (Rheydter Kinder- und Jugendchor)
Wer war der heilige Martin von Tours und welche Ereignisse in seinem Leben haben dazu geführt, dass er zu einem der bekanntesten Heiligen in Europa geworden ist? Ich habe einmal recherchiert und bin sowohl auf historische Tatsachen rund um seine Person gestoßen wie auch auf spätantike, prosaische Texte, die von einer eindrucksvollen Persönlichkeit erzählen. Und beim Lesen dieser alten Texte habe ich mehr und mehr entdeckt, dass der heilige Martin gerade auch für Erwachsene ein bedeutsamer, religiöser Impulsgeber sein könnte.
Über den heiligen Martin wissen wir von Sulpicius Severus[1]. Der stammte aus gallischem Adel, war erst Richter und wurde dann Mönch nach dem frühen Tod seiner Frau. Er hatte offenbar so viel Großartiges von Martin gehört, dass er eine Lebensgeschichte dieses hoch verehrten Mannes noch zu dessen Lebzeiten aufschreiben wollte. Und dazu ließ er sich von Martin selbst sogar autorisieren. So besuchte Sulpicius Severus in der Zeit um 394 Martin – also etwa drei Jahre vor Martins Tod – in dessen Kloster in Marmoutier in der Nähe von Tour. Und es ist ihm tatsächlich gelungen, die Lebensgeschichte von Martin noch zu Martins Lebzeiten zu veröffentlichen.
Sulpicius Severus schreibt, dass Martin aus der römischen Stadt Sabaria stammte; diese liegt im heutigen Ungarn. Martin wuchs jedoch in der italienischen Stadt Pavia auf, südlich von Mailand, wo er vermutlich erstmals mit dem Christentum in Kontakt kam. Seine Eltern waren Heiden und zählten damals zur gesellschaftlichen Oberschicht. Martins Vater hatte beruflich eine Karriere beim Militär gemacht und gehörte zum Offiziersstand. Und so war auch für Martin ein ähnlicher beruflicher Weg beim Militär vorgezeichnet, zumal ein kaiserlicher Erlass anordnete, dass die Söhne der ehemaligen Soldaten zum Kriegsdienst verpflichtet seien. Martin jedoch, so Sulpicius Severus, versteckte sich schon als Kind gegen den Willen seiner Eltern in einer Kirche und bat darum, dort als Taufbewerber aufgenommen zu werden. Dem Vater Martins missfielen die Ambitionen seines Sohnes und so bewirkte er, dass Martin als 15-jähriger in Ketten gefesselt, in eine Kaserne gebracht wurde, um dort den Fahneneid aufs Militär zu leisten. Also schlug Martin nun doch eine berufliche Laufbahn beim Militär ein und zählte schließlich zu den Gardereitern des römischen Kaisers Julian Apostata. Allerdings strebte Martin bereits als ungetaufter Soldat, nach den christlichen Tugenden. Dementsprechend war er sehr bescheiden. Er begnügte sich zum Beispiel als Offizier beim Militär mit nur einem Burschen und kehrte das Verhältnis von Herr und Diener einfach um: Martin – so heißt es – zog seinem Burschen die Stiefel aus und reinigte sie. Eigentlich hätte es ja umgekehrt sein müssen, der Bursche dient dem Offizier. Ebenso kochte Martin für den Burschen und verschenkte Teile seines Besitzes an Bedürftige. Die wohl bekannteste Geschichte als Beispiel für Martins christliche Nächstenliebe erzählt folgendes: Einmal begegnet Martin einem nackten Bettler an einem kalten Wintertag in Amiens. Da diesem keiner hilft, nimmt Martin seinen Mantel ab, zerteilt ihn mit seinem Schwert und schenkt die eine Hälfte dem bedürftigen Mann. Bemerkenswert daran ist: Martin tut dies noch bevor er getauft wurde und damit noch kein Christ ist.
Musik II: Beth Nielsen Chapman, There’s a light (Emmylou Harris)
Die Geschichte von der Mantelteilung des Heiligen Martin, die Sulpicius Severus überliefert, hat eine Schlüsselbedeutung für Martins weiteres Leben. Mit ihr – so mein Eindruck – findet Martin einen tieferen Sinn in seinem Leben. Denn in der darauffolgenden Nacht, so erzählt Sulpicius Severus, hat Martin einen Traum, in welchem ihm Jesus erscheint, bekleidet mit dem halben Mantel, den er dem Bettler gegeben hatte. Jesus also war der Bettler und das entspricht einer der bewegendsten Aussagen Jesu im Neuen Testament, wo es heißt (Mt 25,40): „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Und kurz zuvor im Neuen Testament heißt es dann bereits (Mt 25,36): „Ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben“. Martin hat also ganz im Sinne Jesu gehandelt. Schaut man einmal auf den weiteren Zusammenhang dieser Zitate aus dem Neuen Testament, dann wird man feststellen: Diese Worte sind Teil der sogenannten Endzeitrede Jesu. Und die betont, dass Nächstenliebe eine notwendige Bedingung ist, um Jesus nachzufolgen. Mehr noch: Jesus bezeichnet hier diejenigen als Gesegnete, die die Werke der Nächstenliebe tun: sie stehen nicht nur unter dem Schutz Gottes, sondern ihnen ist ein Platz im Himmelreich versprochen.
Martin muss das erkannt haben, als er im Traum Jesus sieht: Nächstenliebe und Nachfolge Jesu gehören zusammen.
Musik III: Traditionell, Sankt Martin (Peter Schindler & Band)
Das Ereignis der Mantelteilung vor dem Stadttor von Amiens, verbunden mit dem sich hieran anschließenden Traum, hat in Martins Leben einen Wandel bewirkt. Etwa um 354 beendete Martin seinen Militärdienst unter dem römischen Kaiser Julian Apostata. Dieser Kaiser hatte es sich zum Ziel gesetzt, christliche Privilegien zurückzudrängen, die seit der Zeit Kaiser Konstantins galten. Das hatte es Martin zudem schwer gemacht, diesem Kaiser weiter zu dienen, wollte er doch als Christ leben.
Martin blieb nach der Beendigung seines Militärdienstes in Gallien, und wurde Schüler von Bischof Hilarius in der Stadt Poitier, die ca. 350 Kilometer südwestlich von Paris liegt. Da Bischof Hilarius Martin bereits als Soldat getauft hatte, verbindet beide – so stelle ich es mir vor – eine besondere Schüler-Lehrer-Beziehung. Beide werden sich sicherlich viel unterhalten haben über den christlichen Glauben und das Verhältnis von Staat und Religion. Zumal die Gegend um Poitier zur damaligen Zeit von einer Vielfalt religiöser Überzeugungen geprägt war: Neben dem Christentum gab es andere Kulte und Religionen, was nicht nur zu theologischen Streitgesprächen führte, sondern auch zu Konflikten. Und bemerkenswert: theologische Streifragen wurden durch staatliche Gewalt gelöst. So wurde beispielsweise Bischof Hilarius vom Kaiser verbannt, weil er sich ausdrücklich gegen bestimmte Häresien wandte. Martin hingegen warb bei verschiedenen Auseinandersetzungen für theologische Toleranz – wenn auch vergeblich.
Diese tolerante und vermittelnde Haltung von Martin beeindruckt mich wie auch sein einfacher Lebensstil. Dem bleibt er treu sogar nach seiner Priesterweihe um das Jahr 360 durch Bischof Hilarius, der ihn zu höheren Ämtern in der Kirche berufen will. Martin zieht es zum asketisch-klösterlichen Leben und so gründet er um 361 ganz in der Nähe der Bischofsstadt Poitier das Kloster Ligugé. Es ist übrigens das erste abendländische Kloster. Für mich zeigt sich in diesem einfachen und zugleich gläubigen Lebensstil Martins erneut, dass er ähnlich wie Jesus leben wollte: Mit Gott und den Menschen in Liebe verbunden.
Musik IV: Unnar Gísli Sigurmundsson, Aint gonna let you drown (Júníus Meyvant)
Als Martin dann etwa 10 Jahre später aufgrund seiner Beliebtheit und auf Wunsch der Menschen zum Bischof von Tour gewählt wurde, weigert er sich, sein Kloster zu verlassen. Nur mit einem Trick – so erzählt Sulpicius Severus – gelang es, Martin aus dem Kloster zu locken. Offenbar wussten die Menschen, welchen „Knopf“ sie bei Martin drücken mussten: „Eine schwerkranke Frau brauche seine Hilfe…“, so die Notlüge eines Mannes aus Tours. So verließ Martin sein Kloster und kam in die Stadt, wo eine große Menschenmenge auf ihn wartete und ihn sogleich als Bischof ausrief. Vielleicht kam man die Notlüge ja auch so verstehen: Die kranke Frau war ein Bild für die kranke Kirche in Tours. Und der sollte Martin beistehen. Wer weiß? Martin jedenfalls wurde als Bischof sehr geschätzt – nicht zuletzt, weil er seinem einfachen Lebensstil treu blieb und der damit verbundenen theologischen Überzeugung, wie nämlich die Nachfolge Jesu glaubwürdig zu leben ist. In unmittelbarer Nähe von Tours gründete er dann das Kloster Marmoutier. Hier verbachte er mit anderen Mönchen die Zeit, in der er frei war von bischöflichen Verpflichtungen. Martin starb im Jahr 397 auf einer bischöflichen Visitationsreise und wurde am 11. November 397 unter großer Anteilnahme der Menschen in Tours beigesetzt.
Die von Sulpicius Severus verfasste Lebensgeschichte des heiligen Martin wurde übrigens ein richtiger Bestseller. Und die Lebensgeschichte von Martin hatte sogar einen solchen Erfolg, dass die Menschen nach Martins Tod Sulpicius Severus darum baten, mehr über Martin zu schreiben. Und das hat er dann auch gern getan: In drei Dialogen mit Freunden schilderte er weitere Details über Martins Wirken. Später veröffentlichte Sulpicius Severus in drei Briefen an Zeitgenossen zusätzliche Informationen über Martin. All dies zeigt, wie hoch Martin aufgrund seiner vielgelesenen Lebensgeschichte im gesamten Mittelmeerraum derart wertgeschätzt wurde. Immerhin galt er bereits zu Lebzeiten als Heiliger.
Es kommt nicht auf eine formale Heiligsprechung an, sondern es geht darum, dass letztlich alle Menschen dieser Erde zur Heiligkeit berufen sind; das heißt zur Lebensgemeinschaft mit Gott. Und wie genau diese individuelle Heiligkeit gelebt und entfaltet werden kann, ist die Aufgabe eines jeden Menschen. Martin kann hierzu sicherlich Impulse geben und zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Hat er sich doch für eine Lebensführung entschlossen, die die Augen nicht vor der Not der anderen verschließt.
Musik V:
Mit großem Interesse habe ich die Lebensgeschichte von Martin studiert. Interessant, dass seine Geschichte etwa zweihundert Jahre später, also in der Zeit um 574 ein weiteres Mal verfasst wurde nämlich von dem Dichter Venantius Fortunatus, der auch Bischof von Poitiers war. Offenbar übte schon damals der heilige Martin eine bleibende Faszination aus, die bis heute anhält. Denn immer noch gibt es die Martinsspiele und die Umzüge; der größte findet übrigens am Niederrhein statt in Kempen.
Hier steht das „Rabimmel, Rabammel, Rabumm“ für eine ganz lebendige Tradition. Und vielleicht regt die ja an zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem heiligen Martin – ich fände das jedenfalls sehr erfreulich, denn es geht mehr als um ein Laternenfest für Sonne, Mond und Sternen, wie es vielerorts inzwischen bezeichnet wird. Es geht letztlich darum, die Liebe in dieser Welt sichtbar zu machen, wenn einer für den anderen eintritt und hilft. Und wie das konkret aussieht hat ein bekannter Niederrheiner formuliert in einem Text mit dem Titel „Gebet“[2]. Es ist der 2005 verstorbene Schriftsteller und Kabarettist Hanns Dieter Hüsch. Seinen Text verstehe ich als eine Übersetzung der Taten des heiligen Martin ins heute. Und der Text geht so:
Sprecher:
Lachen und Weinen
Halten den Menschen am Leben
Und halten ihn auch
Nicht aufzugeben
Nicht bitter zu werden
Erfinderisch zu sein
Andere verstehen zu lernen
Einen Platz anzubieten
Vielleicht auch eine Suppe und ein Brot
Wärme zu verschenken
Es könne Christus selbst sein
Der um Aufnahme bittet
Und wer dies
Sich vorstellen kann
Hat alle Gewalt besiegt
Erlebt den Triumph des Glaubens
Und heilt den Frieden
Auf dass Gottes Erde
Heimat werde
Für alle Welt.
Der heilige Martin hat durch seine Begegnung mit Jesus Christus diesen „Triumph des Glaubens“ erlebt; Martin hat die Welt und die Menschen mit den Augen der Liebe gesehen und war deshalb erfinderisch, er hat verstanden, hat seinen Mantel geteilt und so Wärme verschenkt und Gewalt besiegt. Martin hat mit dazu beigetragen, dass Frieden beginnt, damit „Gottes Erde Heimat werde für alle Welt“.
Einen frohen Martinstag wünscht Ihnen
Ihre Bergit Peters aus Paderborn.
Musik VI: Maureen Anne McDonald, Cover me in Sunshine (Pink, Hart, Willow Sage)
[1] Vgl. hierzu die Einführung und Übersetzung von Wolfgang Fels, in: Venatius Fortunatus, Vita Sancti Martini. Das Leben des Heiligen Martin. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und kommentiert von Wolfgang Fels, Stuttgart 2020.
[2] Hanns Dieter Hüsch, Gebet, in: Christian Leitschuh (Hg.), Das große Werkbuch Meditation, Freiburg 2009, 89.