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Kirche in WDR 5 | 18.11.2024 | 06:55 Uhr
Das Sakrament der Keksdose
Es gibt Personen und Begegnungen im Leben, die prägen, ohne dass etwas Sensationelles geschieht. Dies gilt auch für die eigene Glaubensgeschichte. Für meine Glaubensgeschichte zählen dazu meine Großmütter. Die Erinnerung an sie ist in mir sehr lebendig und verbindet sich nicht nur mit Bildern, sondern auch mit einem Gefühl tiefer Geborgenheit.
Von einer will ich Ihnen erzählen. Ich erinnere mich, wie ich bei ihr gesessen habe und sie mir vorlas. Und sehr präsent ist mir das Bild, wie sie im Herbst mit meiner Mutter in der Küche sitzt und Äpfel, Birnen und Pflaumen schält, zerteilt und einkocht. Diese Arbeit ging über Tage und es war so schön, einfach dabeizusitzen – denn eine wirkliche Hilfe beim Schälen war ich nicht - und den Frauen zuzuhören, wie sie sich Geschichten von früher erzählen. Das waren Räume, in denen ich ganz selbstverständlich sein und mich beheimaten konnte.
Eine andere sehr lebendige Erinnerung an diese Großmutter
verbindet sich mit einem Gegenstand: Eine Keksdose. Der Befreiungstheologe
Leonardo Boff würde diese Keksdose
als
„Sakrament des Alltags“ bezeichnen. Jedes Mal, wenn wir sie zuhause besuchten,
hat sich das gleiche Ritual vollzogen. Sie ging unter unseren erwartungsvollen
Blicken zum dunkelbraunen Wohnzimmerschrank, öffnete die Tür und holte eine
bunte Keksdose heraus – gefüllt mit leckeren, teils in farbiger Folie
verpackten Plätzchen.
Und dann wurde das Wohnzimmer zum Ort, wo wir erzählen konnten von dem, was uns gerade bewegt und durch den Kopf ging. Etwas habe ich von meiner Oma dabei nie gehört – dass sie schlecht oder abfällig über andere Menschen gesprochen hat. Ihre Hauptrolle bestand darin, uns zuzuhören. – Und noch mehr zugleich darin, uns in diesem ruhigen Zuhören einen ganz besonderen Raum zu schaffen - einen Raum, in dem wir uns ganz fraglos angenommen fühlten. Als Kind, das manche Herausforderungen dadurch zu bestehen hatte, dass ich unter motorischen Störungen litt und dass auch deshalb manche schwierige Erfahrung machte, war dies besonders heilsam. Und so wurde die Keksdose zu einem Sakrament – nämlich zu etwas, was genau das bewirkt und erfahren lässt, was es ausdrückt: Du bist angenommen und geliebt – ganz fraglos und ohne jede Vorbedingung.
Diese Botschaft halte ich für das Herzstück unseres christlichen Glaubens. Dieser Raum, in dem Menschen sich fraglos und ohne Vorbedingungen angenommen wissen ist etwas, was wir als Christinnen und Christen einbringen können in unser Gemeinwesen. Dass das möglich und nicht nur ein lebensfernes Ideal ist, habe ich im Laufe meines Lebens immer wieder erleben dürfen. Ich habe es erlebt bei den Ordensschwestern im Krankenhaus, bei denen ich die Messe gedient habe und die mich nach der Messe mit Kakao und Kuchen umsorgten, bei Eltern, die ganz bewusst aus ihrem Glauben heraus Pflegekinder aufgenommen haben und den oft sehr schwierigen Weg an ihrer Seite gegangen sind, Ich habe es bei einem Salesianerpater erlebt, der Lebensorientierungstage für jugendliche Strafgefangene organisierte und der sich auch dadurch nicht abschrecken ließ, dass er regelmäßig bestohlen wurde. Überall dort spürte ich das, was ich bei meiner Großmutter im Wohnzimmer erlebt habe: Heilsame Orte, an denen Menschen wirklich ankommen, zu sich selbst kommen und wachsen durften. Und in mir wuchs die Ahnung, dass diese Hoffnung, die Jesus uns in der Begegnung mit den Menschen und in seinen Predigten sichtbar gemacht hat, Wirklichkeit werden kann. Deshalb ist für mich Seelsorge und Glaubensvermittlung vor allem dies: Diese Räume schaffen durch meine Bereitschaft zuzuhören und durch die helfende Zuwendung, die ich darin zu schenken versuche.
Es wird so häufig gehadert damit, dass der Glaube keine Zukunft in einer säkularisierten Gesellschaft hat. Ich bin mir dagegen sicher: Diese Form des Glaubens und der Glaubensweitergabe hat eine Zukunft – vielleicht mehr denn je. Die Räume der bedingungslosen Annahme werden doch rar. Solche Räume zu öffnen wäre eine sehr zeitgemäße Sendung der Kirche. Dazu müsste sich die Kirche aber von der unguten Neigung verabschieden, sich zum Richter über andere zu machen, obwohl doch Gott allein der Richter ist – und zwar ein gnädiger!
Aber am besten fange ich damit bei mir an! Wäre es nicht etwas Wunderbares, mit dem Wunsch in diesen neuen Tag zu gehen, dass jeder von uns wenigstens einem Menschen diesen heiligen und heilende Raum der Annahme und Zuwendung öffnet?
Das wäre ein Tag, an dem die Welt ein wenig besser ist und das Reich Gottes sichtbarer!
In diesem Sinne grüßt Sie herzlich und hoffnungsvoll Jochen Reidegeld aus Münster.