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Kirche in WDR 5 | 23.11.2024 | 06:55 Uhr
Die Antwort der einfachen Frau
Ich gebe zu: Anfangs kräuselten sich bei mir die Fußnägel, als ich diesen kitschigen Jesus sah, der da im billigen Goldrahmen auf mich schaute. Damals war das, in meiner Kaplanszeit und das war im Wohnzimmer einer älteren Frau, die einige Monate zuvor mit ihrer Tochter aus Kasachstan nach Deutschland übergesiedelt war. Im Münsterland hatte sie eine neue Heimat gefunden. Ich kam, um ihr die Krankenkommunion zu spenden und mein Blick fiel schnell auf dieses Bild und innerlich habe ich die Stirn gerunzelt, ob solch naiver Kunst. Und wenn ich ganz ehrlich mit mir bin, hatte ich ein gewisses intellektuelles Überlegenheitsgefühl gegenüber diesen angeblich „einfachen“ Leuten.
Dieses Gefühl aber wich von Besuch zu Besuch. In mir wuchs
tiefe Ehrfurcht, als ich vom Lebensweg dieser
Frau erfahren habe. In der Zeit des 2. Weltkrieges wurde sie wie viele
russische Bürger mit deutschen Wurzeln nach Sibirien verbannt. Sie musste
schwerste Arbeit in den Minen leisten, auch dann, als sie schwanger wurde und
einer Tochter das Leben schenkte. Andere wären an diesen Entbehrungen
zerbrochen. Sie
kämpfte sich
tapfer und mutig durch und sorgte für ihr
Kind.
Es wäre zutiefst verständlich gewesen, wenn diese Frau angesichts
dieser Erfahrung den Glauben an einen guten Gott verloren hätte. Die
Theodizee-Frage, also die Frage danach, wie Gott all das Leid zulassen kann,
war für sie keine theologisch akademische Frage, sondern eine, die ihr das
Leben über viele Jahrzehnte gestellt hat.
Diese Frage, die den Theologe Romano Guardini sagen ließ: „Wenn ich
einmal vor Gott stehen werde, dann hat er nicht nur viele Fragen an mich,
sondern ich auch an ihn.“
Die beeindruckende Antwort der alten Dame stärkt noch heute meinen persönlichen Glauben und ist mir Vorbild ist in düsteren Zeiten. Sie, lautete: Ich vertraue dennoch darauf, dass Gott mich behütet und leitet als der gute Hirt. Und dies kam auf wunderbare Weise in dem Bild zum Ausdruck, dass über ihrem Sofa hing.
Ein solchen Glauben meint Jesus, wenn er davon spricht, dass wir werden sollen wie die Kinder – vielleicht besser übersetzt als: Wenn ihr nicht werdet wie die Kleinen. Das sind Menschen, deren Leben vielleicht nach weltlichen Maßstäben klein und unbedeutend erscheint, die aber in den Augen Jesu Größe besitzen, weil sie das begriffen haben, was der Romanautor John Düffel in einen Buchtitel fasst: das Wenige und das Wesentliche. Das durfte ich von dieser Christin lernen: dieser Frau, der so viel vom Leben genommen wurde, wurde einsichtig, was wirklich zählt und trägt: Das Vertrauen, dass wir von Gottes guter Macht umgeben sind. Was von der Kanzel gepredigt manches Mal leicht daher gesagt klingt, hat im Glaubenszeugnis dieser Frau aus Kasachstan eine ganz andere Glaubwürdigkeit, ein ganz anderes Gewicht – und bleibt so auch für mich ein bleibender Schatz und Trost.
Und diese Erfahrung wünsche ich auch Ihnen! Dass Sie in allen Herausforderungen und Nötenum dieses Vertrauen ringen und es bewahren können. Und dass Sie vielleicht auf Menschen stoßen, die Sie mit ihrem Zeugnis darin bestärken, das wünscht Ihnen Pfarrer Jochen Reidegeld aus Münster.