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Kirche in WDR 5 | 06.12.2024 | 06:55 Uhr
Mein Adventsritual
Die Nikolausstiefel heute, der Adventskalender, das Friedenslicht aus Bethlehem: Diese und viele andere Traditionen machen die Zeit vor Weihnachten für mich zur schönstens des ganzen Jahres – und das seit meiner Kindheit. Erst seit ein paar Jahren ist noch ein anderes Ritual dazugekommen. Inzwischen ist es mir sehr wichtig geworden: Ich lese einen Text, der so ganz anders klingt als meine sonstige Advents- Grundstimmung. Er beginnt so:
Sprecher:
„Es fehlt vielleicht uns modernen Menschen nichts so sehr als die echte Erschütterung: wirklich da, wo das Leben fest ist, eine Festigkeit zu spüren, und da, wo es labil ist und unsicher ist und haltlos ist und grundlos ist, das auch zu wissen und das auch auszuhalten.“[1]
Dazu passen die Umstände, in denen der Text geschrieben wurde: Denn der Autor Alfred Delp saß nicht bei lieblich duftendem Zimt-Tee und süßen Plätzchen in seiner Schreibstube, sondern in einer Kerkerzelle. Der Text heißt: „Die erschütternde Wirklichkeit des Advent“
Alfred Delp war Jesuit, also katholischer Ordenspriester und er wartet auf seine Todesstrafe, als er diesen Text schreibt. Als kritischer Prediger und Widerstandskämpfer hat Delp sich das Nazi-Regime zum Feind gemacht. Immerhin kann er aber seine Gedanken aufschreiben und sie aus dem Gefängnis schmuggeln lassen. Wie schaut aber nun ein zum Tode Verurteilter in seiner scheinbar ausweglosen Situation auf den Advent?
Mich fasziniert vor allem der schonungslose Realismus. Da wird nichts verdrängt, beschönigt, spiritualisiert. Ohnmacht, Größenwahn und Bedrängnis prägen das menschliche Leben. Was bleibt also? Klage, Verzweiflung und Ausweglosigkeit? Delp geht diesen Weg nicht. Für ihn sind die Erfahrung der Heimatlosigkeit eine Tür zu Gott, ebenso die vielen bohrenden Fragen, die unerklärliche Sehnsucht. Ohne Gott geht es nicht!
Ich lese aus dem Text ein zentrales Wort heraus, um den Sinn des Advents zu beschreiben: Verheißung! Das ist ein noch schöneres Wort als Hoffnung, auch wenn es dasselbe meint. Delp findet für diese Hoffnung interessante Sprach-Bilder: Er spricht von goldenen Fäden zwischen Himmel und Erde, von leisen Engeln und von schweigender Ewigkeit.
Mir helfen diese Gedanken und Bilder sehr. Denn oft frage ich mich, warum Gott diese Welt so sehr im Stich lässt. So vieles lässt mich zweifeln, wenn ich mich in seiner Schöpfung umschaue. Die Hoffnungsbilder von Delp empfinde ich umso kraftvoller, wenn ich daran denke, dass er sie im Wissen um seine bevorstehende Ermordung geschrieben hat. Aber mich faszinieren sie darüber hinaus ungemein durch ihre tastende Vorsicht und gleichzeitige Klarheit. Die existenziellen Erschütterungen bewahren vor Triumphgeheul und rhetorischem Gehabe.
Ich lese Alfred Delps Text über die „erschütternde Wirklichkeit des Advents“ tatsächlich immer im Dezember. Aber im Grunde passt er in jeden Monat, an 365 Tage im Jahr. Denn mein Leben bleibt bruchstückhaft, voller Fragen und Erschütterungen. Vielleicht bin ich gerade deshalb immer wieder auf der Suche nach Hoffnungsgestalten wie der von Alfred Delp.
Einen guten Nikolaustag wünscht Ihnen Pastor Simon Schwamborn aus Dortmund
[1] https://www.plough.com/de/themen/kultur/feiertage/weihnachten/die-erschutternde-wirklichkeit-des-advent