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Kirche in WDR 5 | 13.12.2024 | 06:55 Uhr
Der Musiker
Guten Morgen.
In einer Unterkunft für wohnungslose Menschen lerne ich ihn kennen. Wir leben dort ein paar Wochen zusammen, ich als Mitarbeiterin mit einem eigenen Zimmer, er in einem Mehrbettzimmer als Gast.
Als erstes fallen mir seine zarten Hände auf. Ich finde, sie passen zu seinem Wesen. Er ist leise, aufmerksam und überaus höflich. Er spricht nicht viel, aber einige Male haben wir schon freundlich geplaudert. Nichts Tiefergehendes. Die Traurigkeit, die an ihm haftet, bleibt trotzdem niemandem verborgen.
Es ist Dezember. Je näher Weihnachten kommt, umso stiller werden unsere Gäste. Auch er. Bis wir eines Tages auf dem Dachboden des Hauses eine alte Gitarre finden, ihr neue Saiten verpassen und sie in eine Ecke des gemeinsamen Wohnzimmers stellen. Als unser Gast denkt, dass ihn keiner sieht, nimmt er sich die Gitarre – und spielt. So kunstvoll, dass wir unsere Köpfe aus der Küchentür strecken und lauschen und staunen.
Natürlich spreche ich ihn an diesem Tag auf seine Gitarrenkunst an. Er bleibt einsilbig: „Ja, ich habe mal was mit Musik gemacht.“
Wir haben eine Regel im Haus, nach der niemand nach seinem Leben ausgefragt wird; wir sind nicht die Polizei, wir bieten lediglich unsere Gastfreundschaft an. Aber eines Tages im Wohnzimmer, während ziemlich laut der Fernseher läuft, sitzen wir nebeneinander, und er erzählt: „Es war im Suff“, sagt er, „nach einem Auftritt. Wir sind aneinandergeraten. Ich war außer mir. Und dann lag er tot da. Ich habe ihn umgebracht.“
Nach der Verhandlung hat er viele Jahre im Gefängnis verbracht. Unser Gast beschwert sich nicht darüber. „Ich habe nicht nur das Leben eines Menschen zerstört. Ich habe auch das Leben seiner und meiner Familie zerstört. Das werde ich mir nie verzeihen.“ Er sieht mich an. „Das hättest du nicht gedacht, dass du mal neben einem Mörder sitzt, ne?“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll: „Du sieht nicht wie ein Mörder aus“? Dummes Zeug - als ob jemand, der mordet, ein bestimmtes Aussehen hat. „Das kann jedem passieren“? Nein, ich denke, das passiert mir nicht. Jedenfalls nicht so. Ich hasse Alkohol. Obwohl neulich, als ich gerade noch in letzter Sekunde den Radfahrer gesehen habe… Das ist was anderes. Ja, und Nein… Mist! Er war mir so sympathisch. War? Ist er das nicht mehr? Schließlich sage ich: „Sorry, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Er nickt. „Verstehe ich, das geht den meisten so.“ Er erzählt, dass er zu seiner Familie noch ein bisschen Kontakt hat. „Da habe ich Glück“, sagt er.
Wir verbringen den Advent und das Weihnachtsfest zusammen mit einer Reihe anderer Gäste. Wir bemühen uns alle um gute Stimmung. Es gibt lecker Truthahn und jede Menge „Happy birthday, Jesus“-Torten. Die Weihnachtslieder will unser Gast nicht begleiten. Nach dem Jahreswechsel reist er ab. „Danke, dass ihr mich ausgehalten habt“, sagt er zum Abschied.
Verzeihen. Vergeben. Das ist mitunter unheimlich schwer, und das mit Recht! Aber ich sehe an unserem Gast: Es kann genauso schwer sein, dass einem nicht vergeben wird oder man selbst sich nicht vergeben kann. Ich weiß nicht, wie es mit unserem Gast von damals weitergegangen ist. Aber ich will glauben, dass Gott und ein paar andere ihn aushalten.
Es grüßt Sie, Pfarrerin Christel Weber aus Bielefeld.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze