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„Grenzgebiet – ein sicherer Ort für Frauen!“

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Das Geistliche Wort | 08.12.2024 | 08:40 Uhr

„Grenzgebiet – ein sicherer Ort für Frauen!“

Guten Morgen!

Ich heiße Barbara Mikus-Boddenberg und bin als Lehrerin an einem Berufskolleg in Herne beschäftigt und seit vielen Jahren nebenberuflich bei der Caritas als Beraterin in der Ehe-Familien- und Lebensberatung tätig. Da sprechen Menschen über ihre Beziehungen, das Scheitern und oft über die Sehnsüchte nach gelingendem Leben. Das Thema Beziehungen und Sehnsüchte hat mich sensibel gemacht – auch und gerade für den Bereich, über den viele Menschen nicht gerne sprechen: ihre Sexualität. Es ist ein sensibles Thema, bei dem viele Menschen wenig Worte finden. Die Sexualität eines Menschen ist ein intimer Bereich. Ein Lebensbereich, der Befreiung, aber auch Verletzlichkeit eröffnet. Heute Morgen spreche ich über einen Bereich von Sexualität, der tabuisiert ist. Dem Straßenstrich in Essen.

Musik 1: Carlos Santana, Blues of Salvador

Jeden Tag auf meiner Hin- und Rückfahrt zur Arbeit nach Herne komme ich an einem Ort vorbei, an dem ich immer etwas verlegen hingucke. Registriere, ob da jemand raus oder rein fährt. Ein Ort, der unscheinbar an der B224 liegt. Der legale Straßenstrich in Essen. Ein Grenzgebiet des Lebens. Grenzgebiete sind häufig tabuisiert, gesprochen wird hinter vorgehaltener Hand: „Wer geht denn da hin?“ „Welche Männer haben das denn nötig?“ „Puh, welche Frauen müssen sich denn prostituieren.“ „Können die keiner anderen Arbeit nachgehen?“

Grundsätzlich sind Sexarbeiterinnen besonderen Gefährdungen ausgesetzt: gewalttätige Übergriffe von Kunden, Angst vor Bedrohung und Erpressung. Gewaltübergriffe hängen vielleicht auch damit zusammen, dass in den meisten Städten die Prostituiertenszene in bestimmte Gebiete verlagert. Da, wo sie unbeobachtet ist. Da werden keine Hilferufe gehört, da sind die Frauen der Willkür der Kunden hilflos ausgeliefert.

In Essen ist das anders. Der Straßenstrich ist ein besonderer Ort. Ein gut überschaubarer, gut beleuchteter Platz, um Sexarbeitenden Sicherheit und Schutz zu ermöglichen. Ein Ort der Begegnung von Sexarbeiterinnen und ihren Kunden. Es ist ein geschützter Ort für Frauen, deren Beruf die Sexarbeit ist. Geschützt ist er unter anderem, weil dort unter Federführung von Caritas und Sozialdienst katholischer Frauen, Sozialarbeiterinnen in einem Beratungscontainer direkt auf dem Platz ihre Begleitung und Hilfe anbieten. Es ist ein Leuchtturmprojekt! Frauen können dort ohne Angst arbeiten. Das Ordnungsamt und die Polizei drehen da täglich ihre Runden, arbeiten mit der Caritas eng zusammen.

Musik 2: Carlos Santana, Flor d‘Luna

Um über die Arbeit der Frauen zu berichten, muss ich ihnen begegnen. Muss da mal reinfahren. Ich muss zugeben: Ich habe mich nicht gleich getraut, da auf einmal aufzukreuzen, zu sagen „Hallo, hier bin ich. Wollt mal was aus eurem Leben hören“. Also habe ich Kontakt zur Caritas aufgenommen und einen Termin mit Sarah, der Sozialarbeiterin vor Ort gemacht. Sie findet es gut, dass ich über den Straßenstrich berichten will. Und sie nimmt mich mit zur Arbeit, an einem Nachmittag im November.

Ich bin noch etwas unsicher. Gucke verschämt über den großen Platz. Da stehen ein paar Frauen in kleineren Gruppen, unter einer Überdachung, fast so ‘ne Art Bushaltestelle. Unterhalten sich, präsentieren sich und warten auf die Kunden.

Andere stehen vor ihren Wohnwagen. Auf dem riesigen Platz ist ein Einbahnstraßensystem. Ich sehe Autos vorfahren, Autos aus allen Gehaltsklassen und aus ganz NRW, Männer aus allen gesellschaftlichen Gruppen. Sie fahren über den Platz, einige gucken, andere halten an, sprechen mit den Frauen den Preis der Dienstleistung ab. Jetzt am frühen Abend ist reger Feierabendverkehr, da haben die Frauen ganz schön viel zu tun. Sie steigen ins Auto, fahren in eine Art Carport, um ihre Arbeit zu tun. Sie brauchen dort keine Angst zu haben, da es so organisiert ist, dass sie bei Gefahr fliehen und einen Notruf absetzen können.

Ich bin jetzt mit Sarah der Sozialarbeiterin in dem Beratungscontainer „Strichpunkt“ der Caritas angekommen. Sarah beginnt sogleich mit der Vorbereitung. Alles zurechtlegen, was die Frauen brauchen: Kondome, Feuchttücher, frische Spritzensets für die Drogenabhängigen und natürlich kleine Snacks: Butterbrote, Kuchen, heißen Kaffee und Tee. Ist schon etwas schattig draußen. In den Pausen kommen einige Frauen schnell mal rein, der nächste Kunde steht schon bereit, bloß keine Zeit verlieren. Fix einen Kaffee, Bütterchen essen und weiter geht’s.

Musik 3: Carlos Santana, I love you much too much

Im Prostitutionsschutzgesetz von 2017 ist klar benannt: Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Prostituierten muss gestärkt, die Grundlagen für sichere Arbeitsbedingungen geschaffen werden und unbedingt die Kriminalität in der Prostitution wie Menschenhandel, Gewalt und Zuhälterei bekämpft werden. Wie immer über Prostitution gedacht wird. Stigmatisierungen helfen niemandem. Denn welche Frauen arbeiten in der Sexarbeit? Viele von ihnen haben sich freiwillig entschieden, diese Dienstleistung als Sexarbeiterinnen anzubieten. Dann gibt es drogenabhängige Frauen, die so ihren Drogenkonsum finanzieren. Auch sie entscheiden sich bewusst für ihre Tätigkeit. Eine weitere Gruppe, die freiwillig dieser Arbeit nachgeht, sind Frauen aus osteuropäischen Ländern. Sie arbeiten hier, um mit ihrem Verdienst ihre Familien in den Heimatländern zu unterstützen. Und dann gibt es Frauen, die zur Prostitution direkt gezwungen werden: Stichwort Menschenhandel. Das ist eine massive Menschenrechtsverletzung und gehört strafrechtlich verfolgt.

Dennoch ist klar: Viele sind freiwillig hier, haben bewusst eine Entscheidung für den diesen Beruf getroffen. Leben sie ansonsten ein unauffälliges gesellschaftliches Leben. Es können sogar Nachbarinnen und Freundinnen sein.

Ich treffe Violet. Ihren richtigen Namen weiß niemand. Sie kommt in den Container, braucht ‘nen Kaffee und ein bisschen was Süßes. Sie guckt mich an, sieht meine Unsicherheit, mein Papier und den Stift. „Na, was willste wissen? Bist du auch so eine, die meint, dass das hier kein guter Job ist?“ Bevor ich antworten kann legt sie los: „Da fragen mich doch Leute, warum ich Prostituierte bin. Warum muss ich mich eigentlich rechtfertigen? Bei keinem anderen Beruf würde mir eine solche Frage gestellt. Ich muss meine Berufswahl nicht verteidigen. Ich will meine Lebenszeit so verbringen, wie ich es für richtig halte. Haste das verstanden?“ Ein klares Statement. Ich nicke, weg ist sie. Weiter arbeiten.

Sexarbeit ist für manche zunächst ein naheliegender Weg, schnell mehr Geld zu verdienen. Bemerkenswert ist: Was viele Sexarbeiterinnen eint, ist häufig eine schwierige Kindheit: Bildungs- und Beziehungsarmut, Gewalt, und Perspektivlosigkeit. Groß ist die Sehnsucht nach Geborgenheit und Zärtlichkeit und dem Wunsch, geliebt zu werden. Später kommt der Druck hinzu, Geld verdienen zu müssen. Das lässt diese jungen Frauen nicht selten in Systeme gelangen, wo sie Opfer von Zuhältern werden.

Ein Beispiel: Marina. Sie will raus aus der Abhängigkeit, von dem Mann weg, der ihr eine gute Zukunft versprochen hat. „Der hat gesagt, ich bin sein Schatz, ich würd‘ ‘nen richtig geiles Leben haben. Drei Tage hat das gedauert, erst nur gemeckert, mich angebrüllt und jetzt knallt der durch, ich bin für ihn nur noch ‘ne Schlampe, der macht mit mir, was er will. Ich kann nicht mehr. Was soll ich nur machen?“ Es kostet schon Mut, sich einzugestehen, bei einem Zuhälter gelandet zu sein. Dieses Eingeständnis ist Marinas Chance auf ein selbstbestimmtes Leben ohne Angst und Zwang. Sarah und die anderen Sozialarbeiterinnen vom Strichpunkt helfen.

Musik 4: Carlos Santana, Aqua Marine

Hier im Beratungscontainer „Strichpunkt“ sind alle willkommen! Es ist ein niederschwelliges Angebot. Die Sozialarbeiterinnen arbeiten akzeptierend. Hier werden keine Ausweise und Arbeitserlaubnisse kontrolliert, in keine Lebensentwürfe korrigierend eingegriffen. Es ist ein Aufenthaltsort und ein Zuhörort. „Wie ein Schulhof hier, da ist Hilfe untereinander, Warnung vor Gefahren und natürlich auch mal Zoff“, das sagt Sarah. Wichtig ist Vertrauen zwischen den Sozialarbeiterinnen und den Sexarbeiterinnen. Als Jamila, eine andere Sexarbeiterin in den Beratungscontainer kommt, sagt sie: „Ich kann nicht mehr, pack ich nicht, der Typ hat mich rausgeschmissen, wo bleib ich jetzt. Scheiß, ich muss echt zum Arzt. Hab‘ keine Karte.“ Da wird dann geholfen. Da wird Kontakt zu den Hilfssystemen aufgebaut. Das ist nicht immer einfach, braucht einen langen Atem, aber die Sozialarbeiterinnen im Strichpunkt haben gelernt, hartnäckig zu bleiben. Oft geht es darum, die Frauen weiterzuvermitteln, die raus aus diesem Milieu wollen. Eine weitere Beratungsstelle der Caritas hilft. „Frei-Raum“ – der Name ist Programm. Hier können die Frauen mit Unterstützung lernen, sich eine neue „Freiheit“ zu erarbeiten, eine Existenzabsicherung außerhalb der Prostitution. Manche brauchen noch die Sicherheit der Sexarbeit, planen aber parallel ihren Ausstieg. Da gibt es viel zu regeln: vom Arbeitslosengeld, über Krankenkasse bis zum Kindergeld. Die Mitarbeiterinnen von „Frei-Raum“ stehen ein für die Rechte, die Kompetenzen und die Ressourcen der Sexarbeiterinnen. Die optimale Vernetzung der Sozialarbeiterinnen mit Behörden und anderen Beratungsstellen, ermöglicht den Frauen schließlich mehr gesellschaftliche Teilhabe.

Aktuell wird in Deutschland ein Verbot diskutiert, Sex zu kaufen. Das sogenannte Sexkaufverbot. Sexarbeit soll unter Strafe gestellt werden, für die Frauen und ihre Kunden. Das ist ‘ne ziemlich heikle Angelegenheit. Behaupten doch die Befürworter des Verbotes, Prostitution sei moderne Sklaverei, die abgeschafft gehört.

In Deutschland gibt es allerdings schon ein klares rechtliches Verbot von Zuhälterei, Zwangsprostitution und Menschenhandel. Die Täter werden strafrechtlich verfolgt. Allerdings oft nicht erfasst und von ihren Opfern gedeckt. Würde der Deutsche Bundestag ein Sexkaufverbot beschließen hieße das: die Sexarbeit wird in die Illegalität gedrängt.

Es bleibt ein Dilemma.

Ein Gesetz zum Verbot von Sexkauf wäre für die Sexarbeitenden ein fatales Signal. Der Container „Strich-Punkt“ und das Leuchtturmprojekt, der Straßenstrich an der B224, müssten schließen. Marina, Violet, Jamila und die anderen Sexarbeiterinnen müssten ihre Arbeit an abgelegenen Orten anbieten, wo sie schutz- und hilflos sind. Daher gibt es von Seiten der Caritas und des Sozialdienstes katholischer Frauen klare politische Forderungen.

Ein klares NEIN zum Sexkaufverbot. Ein Berufsverbot richtet sich gegen unsere freiheitliche demokratische Gesellschaft. Es geht um das freie Selbstbestimmungsrecht der Berufswahl. Es wird entschieden abgelehnt, alle Sexarbeitenden unter Generalverdacht zu stellen von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung betroffen zu sein.

Denn, wenn Gewalt und Zwang eine Rolle spielen, muss das klar benannt und geahndet werden. Es wäre also erstrebenswert, nicht über Sexarbeitende zu sprechen, sondern mit ihnen. Ihre Arbeit muss ans Licht geholt werden, raus aus der dunklen, schmutzigen Ecke. Die Frauen brauchen Respekt und die Stärkung ihrer Rechte.

Musik 5: Carlos Santana, Revelations

Die Arbeit der Sozialarbeiterinnen der Caritas beeindruckt mich. Sie stellen sich eindeutig an die Seite der Frauen und unterstützen diese in ihrer Entscheidung. Die Frauen, die ich auf dem Straßenstrich in Essen sehe, wollen kein Mitleid. Sie sind davon überzeugt: Ihre Arbeit ist gut! Das zeigt auch das Statement von Maya: „Sexualität zählt zu den wichtigsten Grundbedürfnissen des Menschen und begleitet uns vom Beginn, bis zum Ende unseres Lebens. Alle sehnen sich nach Zärtlichkeiten, Intimität und Erotik. Viele haben aber niemanden. Und dann komme ich ins Spiel.“ Maya ist sich sicher: „Viele Kunden gehen mit neuen Gedanken und angenehmen Empfindungen im Gepäck zurück nach Hause. Also mache ich die Welt ein bisschen besser.“

Als ich abends von der Beratungsstelle Strichpunkt nach Hause fahre, denke ich: Vorsicht bei der Kategorisierung und Bewertung von Lebensentwürfen. Diese Frauen haben auch ein Recht auf Selbstbestimmung. Und Akzeptanz eröffnet Räume des Verstehens und des Gesprächs. Und gerade die Frauen, die von Zuhälterei und Ausbeutung betroffen sind, benötigen noch mehr Schutz und Hilfe – über die Caritas hinaus.

Musik 6: Carlos Santana, Song of the wind

Ich finde es schon bemerkenswert: Ein katholischer Träger setzt sich für Sexarbeitende ein. Da werden gezielt die Menschen an den Rändern der Gesellschaft in den Blick genommen. Sie werden ins Licht gerückt. Sie sollen gesehen werden.

Es grüßt Sie herzlich aus Essen Barbara Mikus-Boddenberg

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