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Das Geistliche Wort | 26.01.2025 | 08:40 Uhr
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Das Rotkehlchen - ein kecker Samariter
O-Ton: Rotkehlchengesang (WDR Archiv)
Autor: Da - ein Rotkehlchen singt! Ich mag diesen kleinen Vogel... Nun ja, wer tut das nicht? Gerade jetzt im Winter fällt das Gernhaben leicht. Rotkehlchen gibt es bei uns das ganze Jahr, also eben auch jetzt. Und fast nur dieser Vogel ist so freundlich, seinen Gesang im Winter nicht einzustellen! Dazu kommt seine besondere Zutraulichkeit zu uns großen Menschenwesen, gepaart mit kecker Furchtlosigkeit. „Geringe Fluchtdistanz“ nennt man das in der Vogelkunde. Es hat wohl in erster Linie mit der Erwartung zu tun, dass es bei uns leicht Futter zu holen gibt. Wenn wir in den hellen Monaten etwa den Garten umgraben und Insekten ans Licht holen - oder jetzt im Graukalten sogar Extra-Nahrung streuen. Es ist leicht, dies Wesen aus der Nähe zu sehen. Was für eine zauberhafte Gestalt: dieser runde Körper mit dem leuchtenden Orangerot! Zwischen den dunklen Zweigen im Garten, im Wald und auf dem Friedhof: wie eine bewegliche Christbaumkugel der besonders leuchtenden Art. Kein Wunder, dass das Rotkehlchen aus all den Gründen oft als „Weihnachtsvogel“ in Erscheinung tritt. In England etwa ist die Zuneigung zu diesem Vogel noch viel intensiver als bei uns - und dort ist die Weihnachtspost oder die Festdekoration um den Christbaum herum überhaupt nicht denkbar ohne das Rotkehlchen.
Musik 1: „Eintritt“ aus den „Waldszenen“ op. 82 von Robert Schumann
Interpretin: Clara Haskil; Album: PIANO CONCERTOS & SONATAS, Label: Profil Medien GmbH; Edition Hänssler; LC 13287
Eigentlich klar, dass es in England eine alte Legende gibt, in der neben Ochs und Esel eben auch ein Rotkehlchen nah an der Krippe war. Freilich: im Augenblick der Geburt von Jesus war dieser Vogel noch von braungrauer Unscheinbarkeit. Hier ist meine Version der Geschichte:
Stunden nachdem Maria ihr Kind zur Welt gebracht hat, Stunden nachdem die Hirten aufgeregt erstaunliche Engelsbotschaften erzählt haben und Weise aus dem Morgenland ihre Gaben losgeworden sind, Stunden später ist endlich Ruhe im Stall eingekehrt. Die ganze Zeit ist ein kleiner graubrauner Vogel nahe dabei gewesen, was wegen seiner „geringen Fluchtdistanz“ keinen Stress für ihn bedeutet hat. Und nun endlich Ruhe. Maria ist schnell eingeschlafen, Josef bald danach auch, obwohl er wach zu bleiben versprochen hat. Sogar Ochs und Esel sind in den Dös-Modus übergegangen. Nur dieser kleine Vogel ist noch hellwach und besieht von einem Balken aus die Szene. Er sieht in das Gesicht des Kindes. Es schläft auch. Aber sein Gesicht ist nicht entspannt. Und der Vogel entdeckt den Grund. Ein ordentliches Feuerchen hat zuvor im Stall die ganze Zeit für eine angemessene Nestwärme gesorgt - aber nun sind die Flammen immer kleiner geworden, nur Glut ist übriggeblieben - und rasch ist es kühler geworden und schließlich kalt. Gift für ein Neugeborenes. Der Vogel kann aus seine Kehle schrille Wecktöne hervorbringen, das weiß er. Aber er lässt die Eltern schlafen, weil er in sich eine merkwürdige Energie spürt. Die treibt ihn nah an die Glut. Ein Adler kann mit ein paar Schwüngen aus der Distanz so eine Glut wieder in Flammen verwandeln. Aber dieser Winzling muss fast kolibrischnell die Flügel schlagen aus nächster Nähe. Und aus der Glut wird so tatsächlich wieder ein wärmendes Feuer. Nur dass der Vogel dabei von dichtem Funkenflug erwischt wird: Brust, Kehle, das halbe Gesicht werden getroffen. Aber die Funken verbrennen nichts, der Vogel wird nicht zu einem angekokelten Kehlchen geworden sondern zum Rotkehlchen. Es hat sich bei dem kleinen Tier das Wunder wiederholt, das Mose bei dem brennenden Dornbusch gesehen hatte. Leuchtendes Feuer - und der Dornbusch verkohlte nicht: Zeichen für Gottes Gegenwart. Und nun bei diesem kleinen Tier die orangerote Glut von der Brust bis in´s Gesicht! Zu dem unermesslich großen Wunder der Weihnacht gehört dieses klitzekleine Wunder dazu. Gott wird Mensch, sein Gesicht leuchtet aus der Krippe - und ein graubrauner Vogel wird zum strahlenden Rotkehlchen.
Musik 1
Autor: Vor über 4 Wochen war Heiligabend - bei den Allermeisten ist die Fest-Deko längst schon wieder in Kisten verschwunden, inklusive Rotkehlchen-Zier. Ich bin aber noch im grünen Bereich. Denn eigentlich endet die Weihnachtszeit erst genau in einer Woche, am 2. Februar. Da feiern wir „Lichtmess“: 6 Wochen nach der Geburt bringen Maria und Joseph als gute jüdische Eltern ihr Kind in den Tempel, um es dankbar vor Gott zu bringen. Und da kommt der alte Simeon auf sie zu - und erkennt in dem Kind das ersehnte Licht, das die ganze Welt erleuchten wird. Doch er sagt gleich ein Schattenwort dazu, dass nämlich ein Schwert durch das Herz von Maria dringen wird, weil auf dieses Lichtkind kalter, dunkler Widerspruch wartet. Dieser Widerspruch wird Jesus an´s Kreuz bringen. - Mich berührt nun sehr, dass es neben einer Weihnachts-Legende auch eine Karfreitags-Legende gibt, in der ein braungraues Vöglein in ein Rotkehlchen verwandelt wird.
Die Karfreitags-Legende nimmt mich besonders in der Fassung mit, die ihr Selma Lagerlöf gegeben hat. Sie holt dabei weit aus. Bis zu dem Moment, in dem Gott neben all den anderen Geschöpfen auch ein graubraunes Vögelchen kreiert und ihm einschärft, dass sein Name „Rotkehlchen“ ist. „Obwohl ich keine einzige rote Feder habe?“, so die Rückfrage. Lächelnd gibt Gott zur Antwort: „Da musst du halt zusehen, wie du dir eine rote Brust verdienst.“ Unzählige Generationen später baut ein Nachfahre dieses ersten Exemplars sein Nest in einen Dornbusch auf einem Hügel vor der Stadt Jerusalem. Und seinen Jungen erzählt er von all den vergeblichen Versuchen der Vorfahren, sich das Rot zu verdienen. Gescheitert zum Beispiel der Versuch, durch Liebesglut die Brust zu färben. Ich schiebe ein: Tatsächlich ist das eigentlich eigenbrötlerische Rotkehlchen in Paarungszeiten zu besonderen Zuneigungsriten fähig, unterstützt die Jungen außergewöhnlich beim Flug in´s Leben - und geht sogar soweit, auch Jungvögel anderer Arten nebenbei mit Futter zu versorgen. Das noch unrote Rotkehlchen vor den Toren Jerusalems erzählt seinen Jungen weiter, dass nicht einmal durch die besondere Sangesglut die Brust gefärbt werden kann. Ich schiebe ein: Tatsächlich ist die Zwitscherkunst des Rotkehlchens mit 275 verschiedenen Motiven hochvirtuos, eine Singdrossel etwa hat bloß 100. Und welche berührende Melodik kommt aus dieser Kehle!
O-Ton: Rotkehlchengesang (WDR Archiv)
Autor: Auf dem Hügel vor Jerusalem erzählt das noch unrote Rotkehlchen schließlich, dass auch der glühende Mut bei der Verteidigung des eigenen Reviers bisher kein Leuchten in die matten Federn gebracht hat. Ich schiebe ein: Tatsächlich kann ein Rotkehlchen sehr rabiat werden, wenn Grenzen nicht beachtet werden. Das gilt gerade für Artgenossen. Dann wird zum Beispiel das so schön klingende Flöten schrill aufgedreht. Warnsignale der höchsten Alarmstufe können 100 Dezibel erreichen - das ist Presslufthammer-Lautstärke!
Das noch unrote Rotkehlchen auf dem Hügel vor Jerusalem zieht resigniert den Schlussstrich: keine selbstentfachte Glut kann offenbar die Brust zum Leuchten bringen! Gerade als es das seinen Jungen zuzwitschert, da füllt sich der Hügel vor den Toren von Jerusalem plötzlich mit schreienden Menschen, die fast den schützenden Dornbusch niedertrampeln. Und der kleine Vogel muss sehen, wie drei Männer gekreuzigt werden. Dem in der Mitte presst man obendrein eine Dornenkrone auf´s Haupt. Das Leid des so seltsam sanft blickenden Mannes dringt wie ein Pfeil in das Herz des Tieres. Es wünscht sich, jetzt ein mächtig dazwischenfahrender Adler zu sein. Und nun? Hier der Schluss der Geschichte, genau wie Selma Lagerlöf ihn aufgeschrieben hat:
Sprecherin: Der kleine Vogel begann ein immer stärkeres Mitleid mit dem Dornengekrönten zu fühlen. Er sah, wie das Blut auf die Stirn des Gekreuzigten tropfte, und da vermochte er nicht mehr still in seinem Nest zu bleiben... und flog hinaus... flog ganz nah hinzu und zog mit seinem Schnabel einen Dorn aus, der in die Stirn des Gekreuzigten gedrungen war. Aber während er dies tat, fiel ein Tropfen vom Blut des Gekreuzigten auf die Kehle des Vogels. Der verbreitete sich rasch und färbte all die kleinen zarten Brustfedern. Als der Vogel wieder in sein Nest kam, riefen ihm seine Jungen zu: »Deine Brust ist ja rot, deine Brustfedern sind röter als Rosen!« »Es ist nur ein Blutstropfen von der Stirn des armen Mannes,“ sagte der Vogel. „Er verschwindet, sobald ich in einem Bach bade.“ Aber soviel der kleine Vogel auch badete, die rote Farbe verschwand nicht mehr von seiner Kehle, und als seine Kleinen herangewachsen waren, leuchtete die blutrote Farbe auch auf ihren Brustfedern, wie sie auf jedes Rotkehlchens Brust und Kehle leuchtet, bis auf den heutigen Tag.
Musik 2: „Vogel als Prophet“ aus den „Waldszenen“ op. 82 von Robert Schumann,
Interpretin: Clara Haskil; Album: PIANO CONCERTOS & SONATAS, Label: Profil Medien GmbH; Edition Hänssler; LC 13287
Autor: Diese sonderbaren Klavierklänge hat Robert Schumann komponiert. Als Titel hat er darüber geschrieben: „Vogel als Prophet“. Das Rotkehlchen dieser Geschichte als kleiner Prophet: das passt schon. Wie seine Kollegen in der Bibel geht dieser Vogel nicht auf Fluchtdistanz, wo Bedrückung und Bedrohung herrschen, sondern setzt ein Zeichen dagegen. Wichtig nun: die innere Glut für solch einen feurigen Einsatz entfacht keiner selber. Nie im Leben würde der Vogel dieser Karfreitags-Legende seine rotleuchtende Vorderseite als verdiente Belohnung ansehen. Es ist genau wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Zwei im frommen Tempeldienst beschäftigte Herrschaften sehen einen von Räubern zusammengeschlagen am Boden liegen - und gehen weiter: gut funktionierende Fluchtdistanz. Der folgende Samariter kann so nicht handeln. Wörtlich heißt es: als er den Verletzten sieht, da „wird er innerlich bewegt“. Und das bringt ihn in Bewegung hin zu dem Hilflosen. Bei dem kleinen Vogel ist es genauso: er kann nicht mehr im Dornbusch bleiben, weil das Gesicht vom leidenden Jesus die Mut-Glut im Vogelherz entfacht hat.
Ich muss gestehen, dass mich diese Legende von Selma Lagerlöf erst richtig auf das Rotkehlchen aufmerksam gemacht hat. Seit der Lektüre sehe ich draußen Begegnungen mit diesem Geschöpf erwartungsvoll entgegen - und spitze seitdem auch die Ohren, wenn mir andere Menschen von ihren Rotkehlchen-Treffs erzählen. Und tatsächlich: es ist so manche Propheten- und Samariter-Episode dabei. Mich verwundert nicht, dass gerade trauernde Menschen sie erleben. - Zum Beispiel diese Friedhofsgeschichte, mir unvergesslich. Ein heißer Sommertag im ersten Corona-Jahr. Eine schon größere Trauergemeinde hat sich im Kreis um die Grabstelle versammelt. Die Urne eines Mannes soll vor einem Grabstein bestattet werden, auf dem schon lange der Name seiner Frau steht. Ich habe gerade meine Ansprache beendet und will zur Bestattung der Urne überleiten - da setzt sich doch seelenruhig ein Rotkehlchen auf den Grabstein, sieht sich im Kreis um und legt los. Es singt und singt. Ich weiß: jetzt ist es an mir, ein wenig zu schweigen. Wir hören zu. Eine Trostpredigt der eigenen Art, in der es geheimnisvoll um Verheißung geht und um einen roten Faden und um diesen Mann und diese Frau. Und alle sehen auf den kleinen roten Mittelpunkt und bekommen ein schönes, ernstes Lächeln geschenkt. Nach sicher mehr als zweieinhalb Minuten verstummt der Vogel und verschwindet in einem entfernteren Gebüsch. Ich kann noch „Schönen Dank auch!“ hinterherrufen - und dann die Bestattungsfeier fortsetzen.
Musik 2:
Autor: Eine zweite Erinnerung noch. Es ist schon viele Jahre her. Ein Mann ist gestorben, der einen ziemlich hohen Posten bekleidet hat, tausend Fäden in der Hand. Die Kapelle wird mehr als voll sein. Das Trauergespräch vorher führe ich mit der Witwe und der erwachsenen Tochter. Zwei taffe Frauen, bei denen die spürbare Trauer nichts an der Klarheit ihrer Sätze ändert. Mittendrin gehe ich mit der Tochter einmal durch den Garten. Mir fällt eine Vogeltränke aus Stein auf. Kunstvoll dabei herausgearbeitet: Vögel, die auf dem Rand hocken. Obwohl alles nur steingrau ist, kann man doch gut eine Meise von einem Rotkehlchen unterscheiden. Die Tochter sagt, dass ihr Vater solche Tränken als Ausgleich zum fordernden Beruf gemacht hat. Und dass er mit dieser Vogelränke hier vor ein paar Wochen erst fertig geworden ist. Die Arbeit am Stein hat ihn beruhigt - und passend ist es auch deswegen gewesen, weil er gut mit den Vögeln gekonnt hat, besonders mit den Rotkehlchen. Die Tochter lächelt bei dem letzten Wort und erzählt dann nach kleiner Pause dies:
Sprecherin: Ganz früh am Morgen ist mein Vater im Krankenhaus gestorben. Ziemlich überraschend - und doch friedlich. Ich saß an seinem Bett. Meine Mutter war in der Nacht nach Hause gefahren, um ein paar Stunden zu schlafen. Ich brach auf - und konnte irgendwie nicht gleich zu meiner Mutter fahren. Ich musste draußen durch die Felder gehen. Ich ging einen schmalen, schnurgeraden Weg entlang - und da sehe ich was kleines Hellrotes ein paar Meter vor mir, das sich bewegt. Ein Rotkehlchen... natürlich... Papas Lieblingsvogel. Ich gehe langsam weiter. Der Vogel bleibt auf dem Weg, fängt sogar an zu singen, gar nicht hektisch. Und dann steh ich da und wir sehen uns an. Und ich verstehe und gehe zurück, fahr zu meiner Mutter, bring ihr die Nachricht - und dann fahren wir in ?s Krankenhaus. Und unterwegs erzähl ich ihr vom Rotkehlchen.
Autor: Ich sage erstmal nichts, nicke nur. Wir gehen wieder ins Haus zur Witwe. Und die frage ich dann, ob ich in der Trauerfeier von der Vogeltränke und von der Rotkehlchenbegegnung erzählen darf. Die Witwe lächelt nur und sagt: „Wenn Sie meinen!“
Und dann wundern wir uns noch gemeinsam darüber, dass das Rotkehlchen auf freiem Feld der Tochter sich in den Weg gestellt hat. Denn eigentlich haben diese Vögel ihr Revier nur da, wo Bäume und Sträucher dicht an dicht stehen. Aber es ist halt wunderbarerweise ein Rotkehlchen gewesen, das mit seinem Gesang die Tochter zur Umkehr bewegt hat.
O-Ton: Rotkehlchengesang (WDR Archiv)
Autor: Ich breche hier ab mit meinem Erzählen über diesen kleinen Vogel, diesen kecken Samariter. Ich verabschiede mich von Ihnen mit dem einzigen mir bekannten Klavierstück mit dem Titel „Rotkehlchen“. Amy Marcy Beach hat es vor 125 Jahren geschrieben: ein Walzer für vier Hände. Die Komponistin hat echte Rotkehlchen-Rufe eingebaut. Vielleicht befeuern diese Klänge ja bei Ihnen die Erinnerung an die eigenen Begegnungen mit diesem Geschöpf. Oder die Musik bringt Sie in Bewegung, in Gärten, Parks oder auf Friedhöfen nach Rotkehlchen zu suchen. Wie gesagt, es gibt sie das ganze Jahr über - und sie singen sogar jetzt im Winter. Das verspricht Ihnen Ihr Pastor Christian Casdorff aus Soest.
Musik 3: „Robin Redbreast“, aus „Summerdreams“ op. 47 von Amy Marcy Beach
Album: Amy Beach, Complete Works for Piano Duo; Interpreten: Genova & Dimitrov Piano Duo; Label: Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks Köln; Lizenziert durch die WDR mediagroup GmbH; LC: 08492
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth