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Das Geistliche Wort | 16.02.2025 | 08:40 Uhr
Die Stimme: Instrument des Jahres
Die Stimme ist Instrument des Jahres 2025 geworden. Ja, Mensch: Das hat mich überrascht: Die Sing-Stimme ein Instrument? In technischen Zusammenhängen ist ein Instrument ja ein Gerät oder Werkzeug, das etwas messen, untersuchen oder herstellen kann. Das würde ich nicht unbedingt mit der menschlichen Stimme in Verbindung bringen. Aber: Gefreut hat mich die Nachricht dennoch. Weil ich selbst singe, so lange ich denken kann.
Ich bin Ursel Schwanekamp aus Münster, Seelsorgerin in St. Lamberti und am Paulusdom, guten Morgen!
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist, wie meine Oma mit mir singt. Irgendwie haben fast alle aus meiner Familie im Chor gesungen. Mein Opa hatte sogar eine Kapelle mitgegründet, meine jüngste Schwester mit anderen einen Chor. Und ich singe seit 15 Jahren im Domchor mit, hier am Paulusdom in Münster.
Weil es jetzt gleich um die Stimme geht, hier
ein Eindruck aus unserer Probenarbeit. Da beginnen wir immer ganz klassisch mit
Übungen zum Einsingen:
O-Töne aus Probenarbeit
Die menschliche Stimme vermag wie auch technische Instrumente etwas herzustellen. Dabei geht es nicht nur um Klang, sondern um mehr. Die Stimme gilt als eines der ältesten Instrumente der Menschheit: zum Sprechen, aber auch zum Singen. Seit 2008 würdigen verschiedene Landesmusikräte in der Bundesrepublik jedes Jahr jeweils ein Musikinstrument, um es in den Mittelpunkt zu stellen. 2024 war es die Tuba, 2023 die Mandoline. Dieses Jahr also die Stimme. In der Begründung der Jury heißt es:
Sprecher:
„Die Stimme hat die Fähigkeit, Emotionen auszudrücken, Geschichten zu erzählen und Gemeinschaften zu verbinden. Das gemeinsame Singen fördert nicht nur die musikalische Bildung, sondern auch die sozialen Bindungen. Es bringt Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Kulturen und sozialer Hintergründe zusammen und schafft ein Gemeinschaftsgefühl, das in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft von großem Wert ist.“
(www.lmr-nrw.de/aktuell/detail/2025-wird-das-aelteste-instrument-der-welt-das-instrument-des-jahres-die-stimme)
Das kann ich voll unterschreiben. In unserem
Chor bringt der gemeinsame Gesang viele unterschiedliche Menschen zusammen, das
ist fabelhaft!
Damit es stimmt mit der Stimme und dem Klang – ich glaube das würden Chorleiter
und Chorleiterinnen bestätigen, muss man schon beim Hören anfangen. Ich kann
nur gut singen, wenn ich eine Vorstellung vom Ton und Klang habe. Und wenn ich
auf die anderen höre, damit es nachher einen schönen, runden Gesamtklang gibt.
Ich muss also hinhören und mich und meine Stimme einbringen. Würden alle bei
uns im Chor einfach drauflosschmettern, wäre das sicher kein Genuss. Gerade im
Chor beginnt das Singen mit dem Hinhören. Und daraus kann dann etwas so Schönes
entstehen wie das hier.
Musikeinspielung: Roland Kunz Oratorium PAX: Nr. 1 Einzug: „Et in terra pax…“
Singen kann aber nicht nur gut klingen. Singen kann noch mehr! Singen stärkt die Gesundheit. Nachweislich setzt der Körper beim Singen Stoffe im Körper frei, die das Immunsystem fördern. Und gut für die Psyche ist Singen auch. Ich kann das persönlich sehr gut nachvollziehen: Vor der Probe kann ich noch so schlecht gelaunt sein – hinterher fühle ich mich wie geheilt.
Musikeinspielung Oratorium PAX: Nr. 5.7 Tu es gaudium et laetitia (Du bist Freude und Fröhlichkeit)
Die Musik, die Sie gerade hören, kommt aus dem Oratorium Pax von Roland Kunz. Sie begeistert mich sehr. Das Oratorium haben wir zum Katholikentag 2018 in Münster mit allen Chören der Dommusik uraufgeführt. Das hat viele Menschen sehr begeistert. Auch wir Sängerinnen und Sänger selbst waren richtig mitgerissen. Nach dem Konzert hat der Bischof unseres mexikanischen Partnerbistums unseren Chorleiter sofort gefragt, ob wir mit diesem Stück nicht nach Mexiko kommen wollen. Und das hat tatsächlich geklappt. 2019 waren wir mit den versammelten Domchören in der Basilika Unserer Lieben Frau von Guadelupe in Mexiko City und haben „unser“ Oratorium aufgeführt. Ein tolles Beispiel dafür welche Resonanz die Stimme und die Musik auslösen können.
Musikeinspielung Fortsetzung Oratorium PAX Nr. 5.7 „Tu es gaudium et laetitia“ (Du bist Freude und Fröhlichkeit)
Was passiert eigentlich, wenn mich die menschliche Stimme anspricht oder berührt? Der Soziologieprofessor Hartmut Rosa hat dafür einen Begriff gefunden, der derzeit viel zitiert wird – und der aus der Musik stammt: Resonanz. Rosa sagt: Wir Menschen sind darauf ausgelegt, mit anderen in „resonante“ Beziehung zu treten. Wir sind eben keine Inseln. Mit diesem Resonanzbegriff kann ich viel anfangen. Und ich übertrage ihn mal auf das, was beim Singen und Hören von Gesang passiert. Gesang kann mich richtig tief erreichen. Er löst etwas bei mir aus und lässt mich verändert zurück. Da kommt etwas in Schwingung. Das kennen Sie vielleicht selbst von Konzerten, wo Hunderte oder manchmal sogar Tausende sich berühren lassen. Und die Interpretinnen oder Akteure sind selber begeistert, weil sie spüren, es kommt etwas zu ihnen zurück. Es bringt eben nichts allein oder vor eine Wand zu singen. Die Wirkung merkt man nicht nur beim Applaus. Beim PAX-Oratorium habe ich diese Resonanz an den Blicken im Publikum während des Konzertes gemerkt. Oder an der dichten Stille nach dem Verklingen des letzten Tons. Oder an den Rückmeldungen noch Wochen später. „Das hat mich noch tagelang getragen“, hat jemand gesagt. Und mir selbst geht es genauso. Bis heute löst das Oratorium große Gefühle bei mir aus. Egal, ob ich es selbst singe oder es anhöre. Solche Resonanz hat die Stimme, die Musik und in diesem Fall auch das Thema: Frieden.
Musikeinspielung Fortsetzung Oratorium PAX: Nr. 5.7 „Tu es gaudium et laetitia“ (Du bist Freude und Fröhlichkeit)
Diesen wohligen Zustand der Verbundenheit, den kann man nicht bestellen oder herstellen, im Sinne von „machen“. Das ist nicht verfügbar. Das gelingt mal, manchmal aber auch nicht. Das sagt der Soziologe Rosa auch.
Das gilt natürlich ebenso für das gesprochene
Wort. Manche Worte hinterlassen Eindruck – einen guten oder unangenehmen. Sie verändern
meine Welt oder auch die große Welt.
In den vergangenen Wochen wurden viele Reden gehalten, die auch eine
nachhaltige Wirkung haben sollen. Das liegt in der Natur der Sache von
Wahlkampf. Nächsten Sonntag sind Bundestagswahlen.
Und auch da beschäftigt mich das Thema Stimme und Resonanz. Dabei geht es natürlich nicht um meine Singstimme – die möchte ich ja behalten. Meine Stimme bei der Bundestagswahl gebe ich bekanntlich ab – so sagt man ja. Und natürlich frage ich: bewirkt meine Stimme etwas, in diesem Chorkonzert namens Demokratie? Vor allem frage ich mich: Wofür soll ich meine Stimme erheben?
Für mich spielt an dieser Stelle tatsächlich mein Glaube eine wichtige Rolle. Ich frage mich, welche Resonanz mein Glaube auf meine Stimmabgabe am kommenden Sonntag haben soll?
Es ist wie eine kleine Fügung: heute werden in der katholischen Kirche die Seligpreisungen aus dem Lukasevangelium gelesen.
Hören wir mal rein in diese berühmte Rede Jesu:
Sprecher:
„In jener Zeit stieg Jesus mit den Zwölf den
Berg hinab. In der Ebene blieb er mit einer großen Schar seiner Jünger stehen und
viele Menschen aus ganz Judäa und Jerusalem und dem Küstengebiet von Tyrus und
Sidon waren gekommen. Jesus richtete seine Augen auf seine Jünger und sagte:
Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt
hungert, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr
werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch
ausstoßen und schmähen und euren Namen in Verruf bringen um des Menschensohnes
willen. Freut euch und jauchzt an jenem Tag; denn siehe, euer Lohn im Himmel
wird groß sein.“ (Lk 6, 17.20-26)
Lukasevangelium, Diese Seligpreisungen sind nicht so leicht. Sie konfrontieren. Und sie finden bis heute Resonanz. Waren sie vielleicht sowas wie ein Wahlprogramm Jesu? Von Helmut Schmidt wird erzählt, er habe gesagt, mit den Seligpreisungen kann man nicht regieren. Kann sein, dass das kein Regierungsprogramm ist mit einzelnen Projekten und Zielvereinbarungen und was noch dazu gehört. Aber: die Seligpreisungen sind auch keine Vertröstung auf´s Jenseits. Da wird alles gut sein, keine Frage. Aber ich muss hier schon was tun. Und dabei gibt mir diese Rede für meine Haltung gegenüber politischen oder gesellschaftlichen Fragen im Hier und Jetzt eine Orientierung.
Musikeinspielung Oratorium PAX: Nr. 3 „Beati pacifici“
Und dafür stehen die Seligpreisungen: Gott sieht mich liebevoll an und gleichzeitig dreht sich die Welt nicht allein um mich. Die Schwachen gehören in die Mitte. Ich kann von mir und meinen Bedürfnissen absehen und andere wirken und gelten lassen. Ich falle nicht auf durch eine laute Stimme, sondern durch eine Sinnvolle und Integrierende. Im Sinne der Seligpreisungen ist es, Frieden zu bringen und sich dafür einzusetzen. Und nicht Unruhe, Spaltung und Unfreiheit. Gott und den Nächsten zu lieben, wie mich selbst. Rechte, die ich für mich einfordere, genauso gut anderen einzuräumen. Meine Freiheit und meine Rechte sind immer in Resonanz mit denen der Anderen.
Diese Rede Jesu findet in mir Resonanz und bedeutet für mich, dass ich meine Stimme nächsten Sonntag für die Demokratie und für die Freiheit erhebe, indem ich meine Stimme abgebe.
Musikeinspielung Oratorium PAX: Nr. 6 ”Et diligant se…”
Fast 60 Millionen Bürger und Bürgerinnen dürfen am kommenden Sonntag ihre Stimme bei der Bundestagswahl abgeben. Ich tue das auch in der Hoffnung, dass die Gewählten auf uns hören. Noch einmal der Soziologe Hartmut Rosa:
Sprecher:
„Früher habe ich immer gesagt, Demokratie funktioniert nur, wenn jede und jeder eine Stimme hat, die hörbar gemacht wird. In letzter Zeit komme ich aber mehr und mehr zu der Überzeugung: Es gehören auch Ohren dazu. Es reicht nicht, dass ich eine Stimme habe, die gehört wird, ich brauche auch Ohren, die die anderen Stimmen hören. Und ich würde noch darüber hinaus gehen und sagen, mit den Ohren braucht es auch dieses hörende Herz, das die anderen hören und ihnen antworten will.“
(Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion, Seite 53).
Es gefällt mir, was Rosa sagt. So ist es ja
meistens im Leben. Es ist wie bei uns im Chor am Paulusdom: damit wir Wohlklang
erzeugen, müssen wir erst einmal aufeinander hören. Es braucht Hören, Verstehen,
Fühlen, Handeln. Beim Singen reicht die Stimme alleine auch nicht. Ich muss
genau hinhören und ich muss die Musik fühlen. So ist es auch mit den
Seligpreisungen. Hören allein reicht nicht aus. Ich muss verstehen und fühlen,
was es bedeutet, so miteinander umzugehen. Und dann muss ich es umsetzen. Auf
dieser Basis gebe ich nächste Woche meine Stimme bei der Wahl ab und erhebe sie
für unser demokratisch-freiheitliches Leben. Und ich hoffe, dass unsere Stimmen
für die Demokratie viel Resonanz finden! Es geht um was. Da ist jede Stimme
wichtig. Also: ich sage es unumwunden: geben Sie kommenden Sonntag Ihre Stimme
ab!
Dann hoffe ich, dass der Titel der letzten
Musik aus dem Oratorium Pax, sowas wie ein Leitsatz für viele bei der
Gestaltung der Gesellschaft wird: „Herr, mache mich zu einem Werkzeug deines
Friedens.“ Mit dieser Hoffnung und diesem Wunsch für uns alle, grüße ich Sie
herzlich,
Ihre Ursel Schwanekamp aus Münster.
Musikeinspielung Oratorium PAX: Nr. 19 „Oh Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens.“